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Gott gibt uns Erinnerungen

damit wir Rosen im Winter haben

 

 

 

Für meine Tochter Birgit

 

 

 

 

 

Wie  es  damals  war

 

 

 

 

 

 

Erinnerungen - Erlebnisse - Begebenheiten

 

 

 

Zu Papier gebracht von Eckhard Müller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

Schon wiederholt war mir der Gedanke gekommen, irgendwann einmal alles aufzuschreiben, was mir so als Erinnerung im Kopf herum schwebt. Den direkten Anstoß bekam ich aber von meiner Tochter Birgit. Bei meinen immer wiederkehrenden Erzählungen aus Kindheit und Jugendzeit meinte sie, dass es doch sehr schade wäre, dieses alles der Nachwelt vorzuenthalten. Ich sollte das doch alles einmal aufschreiben.

Da ich mich von Anfang an für Geschichten aus vergangenen Tagen interessiert habe, und ich alle mir habhaft werdenden Bücher und Schriften dieser Thematik - besonders jene aus unser engeren Heimat - mit Begeisterung lese, bin ich immer wieder froh und dankbar, wenn ich auf Erzählungen stoße, die von unseren Altvordern aufgeschrieben wurden. Es waren meist einfache Leute, die aber mit hellen Augen und wachem Verstand durch die Welt gingen.

Ihnen haben wir es zu verdanken, wenn dieser Schatz und diese Fundgrube aus vergangenen Tagen nicht der Vergessenheit anheim gefallen sind. Vor solchen Menschen habe ich den allergrößten Respekt und sehe mich irgendwie in die Pflicht genommen.

Ich will hier nun wahrhaftig kein literarisches Kunstwerk schaffen. Dazu fehlt mir weder die schulische Vorbildung noch das so genannte handwerkliche Können. Die „Schriftgelehrten“ unter meinen Lesern werden sich bei der Lektüre oft genug die Haare raufen. Ich werde nämlich alles so erzählen, „wie mir der Schnabel gewachsen ist.“ Falls ich dabei immer wieder vom vermeintlichen Hauptthema abschweife, so ist das durchaus gewollt. Denn nur so glaube ich es schaffen zu können, alles das zu Papier zu bringen, was mir im jeweiligen Augenblick durch den Kopf geht. Vorrangig ist und bleibt für mich die schriftliche Fixierung meiner Gedanken und Erinnerungen an die Nachwelt.

Vielleicht wird sich in künftigen Tagen jemand finden, der diese Zeilen mit Verstand und Wissbegierde zu lesen versteht, und vielleicht auch ein wenig dankbar dafür ist, das sich damals irgendwer hingesetzt hat, um dieses alles aufzuschreiben.

 

Oberholz, am 16. Juli 1993

Eckhard Müller

1. Die Familie

Am 17. Januar 1936 - es war ein Freitag, erblickte ich, wie man so sagt, das Licht der Welt. Es muß so gegen halb neun Uhr morgens gewesen sein, wie mir mein Vater erzählte, und es herrschte Glatteis. Das bekam mein Vater dann auch kräftig zu spüren, als er mit seinem Fahrrad in der Frühe zum nächstgelegenen Telefon nach Birkenfeld radelte, um die Hebamme in Neunkirchen zu alarmieren. Nach eigener Aussage muß er dabei wohl mehrfach mit Mutter Erde in Berührung gekommen sein.

Der Winter 1936 ließ lange auf sich warten. Dann muß er aber wohl mit Macht gekommen sein. Am Weißen Sonntag hat man die Kinder auf den Schultern zur Kirche getragen, weil der Schnee so hoch lag. Im Wald von Hündekausen - so sagte mein Vater,  konnte man bis vor einigen Jahren noch einzelne Schneebrüche sehen, die durch die Schneelast jenes Winters entstanden waren.

Doch zurück zu mir. Meine Familie bestand aus Vater, Mutter und natürlich meiner Oma. Mein Vater hieß Martin Müller. Er stammte geburtsmäßig aus Ober-Bonrath. Sein Vater war Bergmann. Er starb ziemlich früh. Ich glaube, mit 43 Jahren an einer Bergmannskrankheit. Die Mutter meines Vaters war eine geborene Dahlhäuser. Sie hieß Anna Maria und sie war gebürtig aus Nieder-Bonrath. Die Dahlhäuser waren von alters her Müller gewesen. Der Urahn soll im 18. Jahrhundert als Wanderbursche (von Beruf Mühlenbauer) aus Lothringen eingewandert sein. Er hat hier wohl ein Mädchen kennengelernt und es dann später geheiratet. Dann ist er hier sesshaft geworden.

Dieser Urahn hatte 5 Söhne, und sie betrieben alle eine Mühle am selben Bach. Es war der Homburger-Bröl-Bach. Der alte Dahlhäuser machte jeden Morgen in aller Frühe seine Runde. Und wehe, wenn dann eine Mühle antraf, die noch nicht klapperte. Dann gab es ein großes Donnerwetter. Mein Vater hatte noch einen Bruder und eine Schwester. Der Bruder hieß Peter und war mein Pattohm (Patenonkel). Die Schwester hieß Maria. Sie wurde Kranken­­schwester.

Ein Bruder meines Großvaters (Johann Peter Müller) wanderte nach Nord-Amerika aus. Die große Armut, die damals hier herrscht, trieb viele zu diesem Entschluß. Anfang 1900, - mein Vater war erst ein paar Jahre alt, wollte mein Großvater mit seiner Familie ebenfalls zu seinem Bruder nach Amerika auswandern.

Er verkaufte also seinen Besitz und begab sich danach mit seiner Familie nach Bremen zum Überseehafen. Da ihm jedoch durch einen Berufsunfall zwei Finger einer Hand fehlten, wollte man ihm die Einreise nur dann gewähren, wenn er in Amerika jemand benennen konnte, der für ihn bürge. Sein Bruder in Amerika erklärte sich sofort dazu bereit. Aber das wollte mein Großvater nicht, und so kehrte er mit seiner Familie zurück und kaufte in Wellerscheid ein uraltes strohgedecktes Haus mit etwas Ackerland. Onkel Peter hat den Hof dann später als Landwirt weitergeführt.

Meine Großmutter mußte  nach dem frühen dem Tode ihres Mannes den Hof und die Kinder weiterversorgen. Sie war Näherin und ging - wie es damals üblich war - über die Dörfer und verrichtete dort bei den Leuten Näharbeiten, die sich im Laufe der Zeit  hier angesammelt hatten. Sie war eine resolute Frau und sie redete so, wie sie dachte. Oft war das meinem Vater richtig peinlich, wenn sie ihre Meinung so gerade heraus und unverblümt äußerte. Einmal hat sie, als sie sich abends auf dem Heimweg befand, einem jungen Mann, der sie begleiten wollte, - und was ihr wahrscheinlich nicht passte, - das Bügeleisen an den Kopf geschlagen, so daß der arme Kerl eilends Reißaus nahm.

Mein Vater war ein begeisterter Musiker. Er bekam von seinem damaligen Lehrer Brandenburg Geigenunterricht. Dafür mußte er ihm mittags nach der Schule die Tasche nach Hause tragen. Die beiden hatten nämlich denselben Heimweg. Lehrer Brandenburg wohnte  in Oberwahn. Mein Vater beherrschte die Geige damals sehr gut, und es verging keine Woche, dass er nicht darauf spielte. Selbst dann, als meine Mutter gestorben war, und bei uns die sogenannt Trauerzeit eingehalten werden mußte, bei der man weder Radio hören, noch singen durfte - auch wenn’s einem später vielleicht einmal danach zumute war, - nahm mein Vater seine Geige und verdrückte sich damit klammheimlich tief in den angrenzenden Rockenbusch damit ihm niemand beim spielen zuhören konnte.

Außerdem musizierte mein Vater noch auf der Mandoline und auf der Gitarre. Über die Gitarre, die sich als wertvolles Andenken und Erbstück heute noch in meinem Besitz befindet, muss ich noch etwas erzählen. Mein Vater hatte sie in jungen Jahren von durchziehenden Zigeunern erworben. Nach einem feucht-fröhlichen Abend war man sich handelseinig geworden. Stolz zog mein Vater mit seinem neuen Besitz nach Hause. Doch am andern Morgen schwante es ihm wohl, um was für ein wertvolles Stück es sich dabei vielleicht handeln könnte.

Schnell packte er seine neu erworbene Gitarre und verkrümelte sich. Und er hatte auch allen Grund dazu. Die Gitarre muss wohl ein altes Familienerbstück gewesen sein, denn bald tauchte die ganze Sippe auf, um den Kauf rückgängig zu machen, aber Martin blieb verschwunden.

Dann war da noch die Sache mit seiner Mutter - meiner Großmutter. Einmal, so erzählte er gerne und oft diese Geschichte, saß mein Vater an einem Sonntagmorgen in der Stube und klimperte auf seiner Gitarre herum. Seine Mutter hatte ihn mehrfach aufgefordert, das Spielen sein zu lassen, da man in der Kirche unten im Dorf gerade das Hochamt feierte. (So streng war man damals). Mein Vater dachte wohl, das könne dem Hochamt doch wohl nicht schaden - und spielte weiter.

Plötzlich erscheint seine Mutter, reißt ihm die Gitarre aus den Händen und knallt sie mit voller Wucht gegen den Türpfosten. Die Gitarre brach am Halsansatz sauber aber endgültig auseinander. Noch heute erkennt man die Stelle gut, an der sie mein Vater wieder zusammengeleimt hat. Nach meinen Rückrechnungen muß die Gitarre inzwischen ein Alter von weit über 100 Jahren erreicht haben.

Meine Mutter hieß Josefa. Sie war eine geborene Söntgerath. Sie hatte noch 11 Geschwister. Ihr Vater, - mein Großvater hieß Peter Söntgerath. Er wurde am 14. Mai 1862 hier in Klein-Oberholz (wie es vor der Gebietsreform hieß) geboren. Seine Mutter war eine geborene Fedder. Sie hieß mit ihrem Vornamen Gertrud und stammte auch aus Oberholz.

Mein Opa war von Beruf Zimmermann. Ich hätte ihn gern kennengelernt, doch er starb bereits im Dezember 1931, zwei Jahre bevor meine Eltern heirateten und fünf Jahre vor meiner Geburt. Aber später dann, bei der Renovierung unseres Hauses, - das er selbst gezimmert und erbaut hatte, habe ich ihn, und seine, von großem handwerklichem Können getragenen Arbeit kennengelernt!

Während der Woche arbeitete er in der Zimmerei Kreuzer in Roßbroich bei Much. Diese Zimmerei hat unter anderem übrigens auch das Mucher St.Josefshaus erbaut. Nach Feierabend nahm dann gewöhnlich mein Opa einen Balken auf seine Schulter, und marschierte mit ihm nach Haus. So kam ein Balken zum andern bis das Haus fertig war. Doch davon mehr im nächsten Kapitel.

Einmal hatten seine Arbeitskollegen, um ihm einen Streich zu spielen, den Balken mit roter Farbe angestrichen, was mein Opa nicht bemerkte. Als er dann zu Hause ankam, war sein ganzer Bart rot geworden. Er trug nämlich einen großen schwarzen Vollbart und muß wohl ziemlich respektabel ausgesehen haben, denn die Kinder machten einen weiten Bogen um ihn, wenn sie ihm begegneten. Dabei konnte er keiner Maus etwas zuleide tun. Er besaß, wie man so sagt, eine rauhe Schale um einen weichen Kern.

Sonntags ging er nach Much zur Kirche. Natürlich zu Fuß. Dort versah er das Amt des Kirchenschweizers, eine längst ausgestorbene Einrichtung. Der Kirchenschweizer hatte damals während der Messe und bei den Prozessionen für Ordnung zu sorgen. So etwas kann man sich heute ja nicht mehr vorstellen. Er bekam dann im nahen Kloster sein Mittagessen, und so hatte meine Oma gleichzeitig das Essen für ihn eingespart.

Sparen wurde damals groß geschrieben. Mit zwei Ziegen, - so hat man mir erzählt - haben meine Großeltern hier in Oberholz angefangen. Dann haben sie das Haus, den Stall und die Scheune erbaut. Dazu wurden im Laufe der Jahre 10 Morgen Land (2,5 Hektar) Acker- Weideland und Wald erworben. Gott schenkte ihnen 12 Kinder, die sie zu anständigen Menschen erzogen haben. Das alles soll ihnen heute einmal jemand nachmachen! Ich ziehe noch heute täglich im Geiste „den Hut“ vor den beiden. Meine Großeltern gehören bis heute meinen großen Vorbildern, auch wenn ich nie an sie heranreichen werde.

Doch zurück zum Großvater. Leider ist es sehr wenig, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte, aber ein paar Storys hüte ich wie einen Schatz in meinen Erinnerungen. So erzählte mir der Krusen Hein: Als sein Vater einmal.- er war Hufschmied auf der Wohlfarth, - einen neuen Amboß für seine Schmiede geliefert bekam, suchte er ein paar kräftige Männer, die ihm helfen sollten, das schwere Ding abzuladen und an Ort und Stelle zu bringen. So war mein Opa auch mit von der Partie. Als nun alle kräftig zugepackt hatten, und der Amboß, von starken Fäusten gehalten, in der Luft schwebte, rief der Krusen Pitter meinem Großvater zu: „Oh Jott, Pitter, ech han och dengen Bart jepackt!“ Das muß für meinen Großvater wohl ziemlich schmerzhaft gewesen sein. Der jedoch rief: „Halt fast!“ Man war eben hart im Nehmen damals.

Der Stümpers Hannes aus Kranüchel, - er stammte ursprünglich aus Löbach - erzählte mir aus seiner Schulzeit: Wenn die Schule aus war, gingen die Jungen zur Schmiede nach Wohlfarth um sich vom Krusen Pitter Eisenreifen schmieden zu lassen. Die fertigen Reifen konnte man mittels eines Stockes dann prima vor sich her rollen. Ein beliebtes Spiel - auch in meiner Jugendzeit. Wenn sie dann mit ihrem neuen Reifen heimwärts zogen, kamen sie meist auch am „Schweizers Haus“ vorbei. (So genannt aus bekanntem Grund). Wenn dann mein Opa in der Tür stand, begannen die Burschen zu laufen, als ob der Teufel persönlich hinter ihnen her sei, bis sie an Großvaters  Haus vorbei waren. Ich fragte den Hannes, was denn der Grund ihres Laufens gewesen sei? Ja, sagte er, sie hätten Angst vor dem „Schweizer“ gehabt, der da so groß und mächtig in der Tür stand. Ich fragte weiter, ob er denn mit ihnen geschimpft hätte oder ob er sonst bedrohlich in Erscheinung getreten sei? - Nö, sagte der Hannes, das hat er nie getan, es war eben so.

Im Winter, wenn in der Zimmerei nicht gearbeitet werden konnte, wurden die Zimmerleute in den Wald geschickt, „zum Holz-Affmachen“ (zum Bäume fällen). In der Zimmerei Kreuzer wurde kräftig und hart gearbeitet. Es wurde aber auch nicht bei den deftigen Mahlzeiten gespart. Es war allgemein bekannt, dass der alte Kreuzer jemanden, der beim Essen nicht tüchtig zulangte, wieder nach Hause schickte. Wer beim essen nicht `reinhaut, der ist auch kein guter Arbeiter, pflegte er zu sagen.

So bekamen dann die Waldarbeiter auch gut belegte Schinkenbrote mit auf den Weg, auf daß sie bei Kräften blieben, denn die Holzarbeit wintertags im Wald ist hart und  kräftezehrend. Trotzdem brachte mein Opa abends immer ein paar Brote mit nach Haus und gab sie seinen Kindern, die sie dann mit Hochgenuß verzehrten. Schinkenbrote waren nämlich zur damaligen Zeit eine Rarität.

Onkel Willi, - genannt „et Käuertchen“ (das Eichhörnchen), - wohl, weil er sich ständig im Wald herumtrieb - sowie seine Brüder und auch die Nachbarsjungen aus unserem Dorf waren so ziemlich alle große Wilddiebe vor dem Herrn. Es war damals ja für die meisten von ihnen die einzige Gelegenheit, auf diese Weise  einmal ein Stück Fleisch zwischen die Zähne zu bekommen. Einer der Größten in diesem „illegalen Gewerbes“ hatte man bezeichnenderweise zum Jagdhüter gemacht. Übrigens eine verbreitete und vor allem effektive Praxis zur damaliger Zeit. Denn so ein „vorgebildeter“ Jagdhüter verfügte nicht nur über genaueste Kenntnisse im Revier, sondern er wusste auch über seine „ehemaligen Kollegen“ naturgemäß genauestens Bescheid. Für die war es natürlich nun schon fast ein Sport, ihm bei jeder Gelegenheit ein Schnippchen zu schlagen. So wurden manchmal richtige Treibjagden veranstaltet, wenn der „Barry“ - das war des Jagdhüters Spitzname - anderweitig beschäftigt war. Zum Beispiel beim Böllerschießen anlässig der Fronleichnams­prozession.. Übrigens wird ja auch  heute noch „so mancher Bock zum Gärtner gemacht.“

Nun gut. Mein Opa muß dem Treiben seiner Söhne wohl sehr skeptisch gegenübergestanden haben. Einmal jedoch ließ er sich von ihnen überreden, mit ihnen auf die Pirsch zu gehen. Sein Jagdgewehr war ein alter Karabiner aus dem 1.Weltkrieg. Den habe ich übrigens als Kind einmal beim kramen auf unserem Speicher gefunden. Mein Vater hat ihn 1945 beim Einzug der Amerikaner im Rockenbusch vergraben Dort wird er wohl heute noch – vermodert - liegen, aber niemand weiß wo. Mit diesem Karabiner also schoß mein Opa dann auch richtig seinen ersten Hasen und er traf ihn sogar. Das Geschoß war aber eine ziemlich großkalibrige Bleikugel. Demzufolge muß wohl von dem Hasen - wie Onkel Willi erzählte - nicht allzuviel übrig geblieben sein.

Meine Oma hieß Josefa wie meine Mutter und sie war eine geborenen Knuth. Sie stammte aus Retscheroth bei Ruppichteroth und war damals bei den Müllers in Amtsknechtswahn als Dienstmädchen „in Stellung“, wie man es auszudrücken pflegte. Dort wird sie mein Großvater wohl auch kennen gelernt haben, denn sein Arbeitskollege, der Funken Robert wohnte dort gleich neben den Müllers.

Erzogen im eigentlichen Sinne wurde ich von meiner Oma. Sie war die dominierende Gestalt meiner Kindheit. Ich hing an ihr fast mehr als an meinen Eltern. Ich schlief auch nachts bei ihr in der Kammer neben unserer Wohnküche. Im eigenen Bett natürlich. Jeden Abend vor dem Einschlafen gab’s das gleiche Ritual: Zu erst wurde gebetet. Dann sagte ich. „Nacht Oma“. Wenn sie dann sagte. „Nacht Jong“ - war alles in Ordnung. Sagte sie aber: „Nacht Eckhard“, dann war ein Haar in der Suppe, und sie hatte sich im Laufe des Tages irgendwann über mich geärgert. Das wurde dann aber anschließend mittels einer Belehrung aus der Welt geschafft, und bald kam das ersehnte: „Nacht Jong“, und ich konnte beruhigt einschlafen.

Ganz schlimm war es aber, wenn nach meinem „Nacht Oma“ überhaupt nichts kam. Dann war es nämlich zappenduster und sie war richtig böse mit mir. Da habe ich oft im Bett gelegen und geheult. Und sie ließ mich heulen - das war ihre Strafe. Bis dann endlich das erlösende „Nacht Jong“ kam. Ja - so hat mich meine Oma damals erzogen.

Sie spielte stundenlang Spiele mit mir die ich im Laufe der Zeit geschenkt bekommen hatte und von denen ich eine ganze Menge besaß. Am liebsten spielte ich mit ihr „Mühle“, „Mensch, ärgere dich nicht“ und natürlich „Mikkado“ und „Schwarzer Peter“. Mogeln meinerseits war fast immer angesagt. Aber meistens übersah sie das. Später hatte meine Oma es mit den Hüften. Künstliche Hüftgelenke gab es ja noch nicht. Das Gehen fiel ihr immer schwerer. Sie muß ständig schlimme Schmerzen gehabt und ertragen haben, aber geklagt hat sie kaum. Ich habe sie praktisch nur mit dem Krückstock gekannt.

Wenn sie mit ihrem Stock zwischen Haus und Scheune umherging, machte ich gern einen Bogen um sie herum. Das hatte seinen bestimmten Grund. Wenn sie nämlich meiner gewahr wurde, dann rief sie meistens: „Komm es her, Jong“. Sie zeigte dann mit ihrem Stock auf abgebrochene Zweige unserer Trauerweide oder der anderen Bäume. Da sie sich nicht bücken konnte, mußte ich sie aufsammeln und in den Holzschuppen tragen. Ihr entging aber auch nicht das kleinste Reis.

Am schönsten waren die Winterabende zusammen mit ihr. Meine Eltern waren am frühen Abend nach Einbruch der Dunkelheit bei der Stallarbeit und fütterten unsere beiden Kühe und unser Schwein. Das Licht war noch nicht angeknipst in der Stube. Draußen tiefe Dämmerung. Meistens lag Schnee. Ich lag hinter dem Herd auf der Ofenbank - dem „Kellerhäuschen“ - (Ein Vorbau über der Kellertreppe, der in unsere Wohnstube hineingebaut war). Meine Oma saß in ihrem Lehnstuhl. Der Feuerschein aus dem Herd spielte und flackerte an der Decke. Dann erzählte Oma von früheren Zeiten als sie noch jung war. Leider kann ich mich heute kaum noch an etwas davon erinnern. Aber an die alten „Küchenlieder“ und Moritaten, die sie mit einer schönen, klaren Stimme vortrug. „Mariechen saß weinend im Garten“ und da war von Räubern und Wilddieben die Rede. Und dann eines ihrer Lieblingslieder: „Fern bei Sedan, wohl auf der Höhe...“ – ein trauriges Lied aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Ich kann es heute fast noch auswendig.

Wenn dann später meine Eltern aus dem Stall kamen und das Licht einschalteten, war die ganze Herrlichkeit vorbei. Dann wurde zu Abend gegessen. Es gab meistens Milch- oder Reisbrei. Aber auch mal Pfannekuchen oder „Flötstöcke“ - auch „Panneschieven“ genannt. Das ging so: Speckwürfel in die Pfanne. Darauf in dünne Scheiben geschnittene rohe Kartoffeln. Dazwischen tüchtig klein gewürfelte Zwiebeln. Das Ganze wurde mit Pfeffer und Salz kräftig gewürzt. Die Pfanne kam dann auf den Tisch und jeder konnte mit seiner Gabel zulangen. Am leckersten war für mich die etwas angebackene Kruste am Pfannenboden. (Es gab ja noch keine Teflonpfannen). Dazu gab es Schwarzbrot mit Butter. Ein königliches Mahl! Noch jetzt während des Schreibens läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

Als einziges Kind  meiner Eltern waren diese - besonders aber meine Oma - darauf bedacht, „dat demm Jong nur nüß passiert“. So musste ich oft die unmöglichsten Tricks anwenden, um ins Dorf hinunter zu gehen und mit den anderen Kindern spielen zu können. Das ging über stundenlanges intensives Bitten bis zum heimlichen Verschwinden.

Hatte ich es dann glücklich geschafft, dann dauerte es meistens nicht sehr lange, und es erklang Omas Trillerpfeife. Egal, wo ich mich gerade befand - ich hörte sie. Im Übrigen sagte mir jeder im Dorf sofort Bescheid, denn natürlich kannten alle die Pfeife und ihren Zweck. Ihrem Ruf sofort Folge zu leisten, war für mich oft bitter aber unumgänglich - siehe oben!

Im Winter, zum Schlittenfahren wurde ich erst einmal gegen die kalte Witterung präpariert. Das war dann so gravierend, dass durch alle meine Klamotten, die ich an meinem Körper trug, (Stiefel, Pullover, Jacke, Mantel, Schal, Mütze usw. ) meine Bewegungsfreiheit sehr stark eingeschränkt war. Dieser unmögliche Aufzug brachte mir im Dorf den Spitznamen „Eisenhans“ ein.

Meine Mutter hatte, wie bereits erwähnt noch 11 Geschwister, von denen in meiner Kindheit noch acht lebten. Es waren die Tanten: Klara, Lena, Trautchen, Anna, Finchen, und Mariechen, dann Onkel Johann und Onkel Willi (genannt „Käuertchen“). 3 Brüder meiner Mutter waren schon verstorben: Josef, Peter, und Hein. Ein Kind verstarb im Säuglingsalter. Es war ein Junge und er hieß Peter.

Ich war also mit Tanten und Onkeln, Vettern und Cousinen reichlich versorgt. Sonntags war immer Besuchstag. Es war ja auch ganz natürlich, dass man sich immer mal wieder bei der Mutter im Elternhaus traf. Tante Anna und Tante Trautchen besaßen einen sogenannten „Tante-Emma-Laden“. Die eine in Mitteldorf, die andere in Neunkirchen. Von denen wurde ich ständig - sehr zum späteren Leidwesen meiner Zähne - mit Süßigkeiten versorgt

Natürlich wurde jeder Geburtstag, Namenstag oder sonstige Familienfeiern von der ganzen Sippe mitgefeiert. Man traf sich am Sonntagnachmittag im Hause des jeweiligen „Festveranstalters“ zum Kaffeeklatsch. Meine Mutter hatte vorn an der Lenkstange ihres Fahrrades ein Stühlchen aus Korbgeflecht befestigt. Darin wurde ich transportiert. An diese Fahrten auf Mutters Fahrrad kann ich mich heute noch gut erinnern.

Mein Vater nahm bei solchen Anlässen oft seine Gitarre oder seine Geige mit und sorgte für die musikalische Unterhaltung. Somit war er überall ein gerngesehener Gast. Die Familienbande waren damals sehr eng und ich habe eigentlich nie bemerkt, dass es „Knatsch“ zwischen den Geschwistern gegeben hat. Wahrscheinlich hat Oma auch mal hinter den Kulissen für Ausgleich gesorgt, wenn „Ärger im Busch war“.

Irgendwann hat mir mein Vater aus verschiedenen Einzelteilen, - es grenzte fast an Zauberei - ein Klein-Fahrrad zusammengebaut. Zur damaligen Zeit eine große Seltenheit, denn es herrschte ja Krieg. Die Reifen hatte er wohl irgendwie organisiert, aber bei den Schläuchen war „Ebbe“. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er sich zu helfen wußte. Ich habe ihm nämlich bei dieser Arbeit sehr interessiert zugeschaut.

Er schnitt zwei normale Fahrad-Schläuche mittendurch, verkürzte sie auf die richtige Länge, und stückelte (klebte) sie wieder zusammen. Und sie waren und blieben dicht! Mit diesem Fahrrad bin ich jahrelang durch Berg und Tal gefahren. Besonders die Sonntagstouren, die mein Vater und ich per Fahrrad unternahmen, sind mir bis heute noch in lebhafter Erinnerung. Mein Vater war sein Lebtag ein großer Fahrrad-Fan. Ein Auto besaßen wir natürlich nicht. Die waren damals sowieso ziemlich rar. Bei den oft katastrophalen Wegeverhältnissen hätten die es aber auch ziemlich schwer gehabt. Mancher „Platten“ und auch so mancher Achsenbruch wären da vorprogrammiert gewesen.

Die Dorfwege waren damals durchweg mit groben Schottersteinen „gepflastert“, und meist nur für Pferde-Fuhrwerke passierbar. Da gab es für die männlichen Dorfbewohner eine Gemeindeeinrichtung, die nannte sich „Hand- und Spanndienste“. Hier konnte jeder einen Teil seiner Gemeindesteuer abarbeiten. So tat man sich im Dorf zu einer bestimmten Zeit – meistens im Spätherbst nach getaner Feldarbeit - zusammen und holte im nächstgelegenen Steinbruch schwere Grauwacke-Steine. Die wurden dann entlang der Dorfstraße aufgeschüttet. Sie bildeten für uns Kinder beliebte Spielmöglichkeiten. Aus den Steinen ließen sich herrliche Burgen bauen. Dabei gab es dann auch mal einen gequetschten Daumen.

Die Männer trafen sich also zum „Steineklopfen“. Jeder hatte seinen speziellen Steinhammer dabei. (Ein nicht allzu großer, fast ovaler Eisenhammer, der an einem langen, dünnen aber kräftigen Eichenstiel befestigt war). Damit wurden die großen Steinbrocken zerkleinert und auf die Wege und in die tief  ausgefahrenen Karrenspuren der Pferdefuhrwerke verteilt. Wenn das alles geschehen war, kam für uns Kinder das absolut Größte: Die Dampfwalze wurde bestellt. In diesen Tagen gab es für uns nur ein Thema: Wie schaffe ich es, einmal auf der Dampfwalze mitfahren zu dürfen? Nach langem Nebenherlaufen und inständigen Bittgesuchen hatten wir es dann endlich geschafft. Noch heute meine ich den Geruch des Qualmes der Steinkohlenfeuerung in meiner Nase zu spüren und das Zischen des Wasserdampfes in meinen Ohren zu hören, wenn er aus geheimnisvollen Rohren und Ventilen entwich.

Das Fahrrad war also das Verkehrsmittel überhaupt. Von meinem Vater wurde es aber auch als Transportmittel für alle möglichen Sachen verwendet. Oft hat er im Herbst die prall gefüllten Säcke mit den frisch geernteten Kartoffeln auf sein Fahrrad geladen und wir beide schoben es dann am Abend vom Kartoffelacker nach Hause.

Dann war jeden Monat ein sogenannter „Saupongel“ fällig. Das war grob geschrotetes Getreidemehl und es diente hauptsächlich der Schweinefütterung. Viele solcher Mehlsäcke haben wir beide von der Reichensteiner Mühle und von der Bechermühle nach Hause geschoben. Wie man weiß, sind da einige ziemlich steile Berghänge zu überwinden. Man denke nur an den Olligsberg und den Berg von der Bechermühle hinauf Richtung Reinshagen.

Am schönsten war es dabei immer, wenn Vater und ich ins „Mühlenstübchen“ eintreten durften. Das war sozusagen das Büro des Müllers. Alles war so wunderbar mehlverstaubt. Das Holz hatte seinen typischen blankpolierten Charakter, wie man es nur in alten Mühlen antrifft. Wenn der Müller Zeit hatte - und Zeit hatte man damals fast immer - dann durfte ich noch, sozusagen als Krönung des Ganzen, das große Mühlrad bestaunen. Wenn man Glück hatte, war es sogar gerade in Betrieb.

Wie gesagt, bei schönem Wetter schwangen Vater und ich uns sonntags nach dem Mittagessen - dafür verzichtete mein Vater sogar auf seinen obligaten Mittagsschlaf - aufs Rad. Unsere Ziele waren meistens die Mühlen in der Umgebung, möglichst natürlich mit Besichtigung des Mühlrades. Dann waren alle Kirchen der näheren und weiteren Umgebung im Besuchsplan.

Sie waren ja nicht - wie heute leider oft üblich - verschlossen, sondern standen für Besucher und Beter alle und jederzeit offen. Manchmal kletterten wir sogar in den Turm, und bestaunten dort die Glocken. Das war nun, so glaube ich, nicht gerade gestattet, aber mein Vater setzte sich da souverän drüber weg und für mich barg das Ganze ein Prickeln von Abenteuer.

Nun hatte mein Vater mir immer wieder von Schloss Homburg im Oberbergischen erzählt. Er hatte mich richtig heiß darauf gemacht. In meiner Phantasie war dieses imaginäre Schloss inzwischen zu einem prächtigen Märchenpalast herangewachsen. Zu einem Besuch unsererseits war es aber bisher bisher noch nicht gekommen.

Dann, eines Sonntags tat mein Vater sehr geheimnisvoll. Trotz endlos löchernder Fragen meinerseits ließ er sich nicht erweichen, das Ziel unserer bevorstehenden Reise bekannt zu geben. Wir fuhren also los. Mit der Zeit wurde für mich das Gelände immer unbekannter. Auf einmal sah ich über den Baumwipfeln einen Turm herausragen. Nun stiegen wir vom Rad und gingen zu Fuß über einen steilen Waldpfad den Berg hinauf. Plötzlich standen wir vor einem torartigen Gemäuer. Bis heute habe ich nicht den Augenblick vergessen, als mein Vater mir dann ziemlich feierlich verkündete:„Das ist Schloss Homburg“.

Ich befand mich damals gerade in meiner „Germanen- und Ritter-Epoche“. Es folgte später noch die „Indianer- und die Cowboy-Epoche“, die sich bis zum Ende meiner Schulzeit hinzog. So war für mich die Besichtigung einer Ritterburg das absolute Traumziel. Immer wieder in den späteren Jahren hat es mich zu diesem Schloss Homburg hingezogen. Einmal habe ich mit meinem Freund, dem Berhausens Heinz, (er war der Sohn des Lehrers), und mit dem Lückerats Peter und dessen Bruder Willi aus Feld den Weg zu Fuß dorthin gemacht. Das war für uns schon ein großes Abenteuer.

Das Schloss war damals noch nicht so herausgeputzt und fremdenverkehrs-attraktiv hergerichtet worden, wie das heute der Fall ist. Die Umgebung zeigte sich noch verwildert und naturbelassen. Von den heutigen Parkplätzen und den gepflegten Rasenflächen keine Spur. Im Innern des Schlosses befindet sich das oberbergische Heimatmuseum. Nach der großen Renovierung dort in den letzten Jahren sind die einzelnen Räume zwar nun klar und übersichtlich gestaltet, aber alles wirkt für mich etwas zu nüchtern und kahl im Gegensatz zu früher. Später bin ich dann immer wieder mit meiner Familie per Auto hingefahren. Ich glaube, es fehlt mir etwas, wenn ich nicht wenigstens einmal im Jahr dorthin komme.

Doch zurück zu meiner Erzählung. Wir besaßen damals zwei Kühe und ein Schwein. Später kam noch ein Milchschaf dazu. Das Schwein wurde so Anfang Dezember geschlachtet. Das besorgte der Balensiefers Pitter aus Oberhausen. Am Schlachttag stand bei uns alles Kopf! Die „Brei-Kuhl“ - das war ein großer emaillierter Bottich der an der Unterseite mit einem Feuerofen verbunden war. Diese Breikuhl war ein Allzweckgerät und für alles zu gebrauchen. Sowohl die Wäsche als auch Kartoffeln für die Viehfütterung wurden darin gekocht. Auch wurden hier nach der Schlachtung die verschiedenen Fleischstücke vom Schwein eingepökelt.

Am Schlachttag nun wurde darin Wasser zum kochen gebracht. Davon brauchte man nämlich jede Menge zum Überbrühen des toten Schweines, wenn die Borsten abgeschabt wurden. Am schlimmsten war es für mich immer, wenn man das Schwein aus dem Stall holte, wobei das Tier - weil es vielleicht schlimmes ahnte - markerschütternde Schreie ausstieß. Wenn dann später Ruhe eingekehrt war, ging ich vorsichtig um die Hausecke und riskierte einen Blick. Dann lag das Schwein meistens schon auf einer Leiter über einer, mit kochendem Wasser gefüllten Zinkwanne. Das Blut wurde unter ständigem Rühren (damit es nicht gerann) in einer Schüssel aufgefangen und später zu Blutwurst und dem sagenhaft leckeren „Panhas“ verarbeitet. Nachdem alle Borsten fein säuberlich abgeschabt waren, befestigte man das Schwein nun an den Hinterläufen an der Leiter und richtete die Leiter auf. Nachdem es dann ausgenommen war, hing es nun ein bis zwei Tage an der Leiter. Für mich waren die anatomischen Gegebenheiten des Schweineinnern natürlich hochinteressant.

Dann kam der Tag des „Wurstens“. Wieder erschien der Pitter mit seinen vielfachen Geräten und natürlich mit seiner „Wurstmaschine“. Das war ein ganz normaler „Fleischwolf“, der bei uns aber immer „Wurstmaschine“ genannt wurde - und wird. Selbst wenn sie in der Vorweihnachtszeit zur Herstellung von „Spritzgebäck“ Verwendung findet. Pitters Wurstmaschine war allerdings größer und besaß einige spezielle Teile. Die Wurstmaschine durfte ich drehen. Das war sozusagen mein Privileg. Mit unnachahmlichem Geschick und mit einer sagenhaften Fingerfertigkeit stellt Peter dann Blut- und Leberwürste her. Er band sie zu einem Ring zusammen. Die Würste wurden dann auf eine Bohnenstange oder ähnliches geschoben und auf den Speicher zum Trocknen gebracht. Später, wenn das Rauchfaß dann in Betrieb war, wurden die Würste geräuchert. Der Duft des Geräucherten zog im Winter dann herrlich durch das ganze Haus. Natürlich wurde beim „Wursten“ immer wieder von all den Köstlichkeiten probiert. Am liebsten mochte ich immer etwas von der Leber oder vom Well- oder Bauchfleisch, bestreut mit etwas Salz. Was nicht eingepökelt, oder geräuchert oder eingepökelt worden war, wurde von meiner Mutter auf dem Herd in Weckgläser eingekocht. Kühltruhen und Gefrierschränke gab es ja damals noch nicht.

Von so einem verarbeiteten Schwein konnte unsere Familie gut das ganze Jahr leben. Denn Fleisch gab es sowieso nur Sonntags, und auch das nicht immer. Die Wurst hielt meistens bis zum Frühsommer, der geräucherte Schinken natürlich noch länger. Das war alles ganz normal und wurde durchaus nicht als Mangel empfunden.

Unser Garten hatte ja auch noch einiges zu bieten. Wir hatten übrigens zwei davon. Unser Hausgarten lag hinter dem Stall, ungefähr dort, wo jetzt die große Kastanie steht. (1979 gepflanzt.) Der Eingang war bei den Fliederbüschen. Er war wegen unserer Hühner, auch wegen der Nachbarshühner, die alle frei herumliefen, mit Maschendraht eingezäunt. Der andere Garten, - er lag oberhalb des jetzigen Hühnerhofes Söntgerath, - war der sogenannte „Pecksjaden“ Warum er diesen Namen hatte, weiß ich nicht. Vielleicht gehörte der Acker einmal einer Familie Pick. Es war eine große Gartenfläche und sie wurde vom halben Dorf genutzt. Hier wurden hauptsächlich Saisonfrüchte angebaut, z.B. Frühkartoffeln usw. Für die Frauen, die ja meistens die Gartenarbeit besorgten, war der Pecksjaden natürlich ein beliebter Treffpunkt. Oft wurde die Arbeit von einem „Verzällchen“ oder vom Begutachten des Nachbargarten unterbrochen. Hier erfuhr man das Neueste. Da der Hühnerauslauf nicht bis hierher reichte, hatte der Garten auch keinen Zaun, und war auch innerhalb - zwischen den einzelnen Besitzern - nicht eingezäunt.

Aber zurück zur Familie. Neben den vielen Verwandten zähle ich besonders den Onkel und die Tante aus Essen, die „Esse-Tante“, wie ich sie nannte. Sie gehörten zu meiner Kindheit, wie noch einige andere Personen, zu denen ich noch kommen werde. Die „Esse-Tante“ war wohl eine Verwandte meiner Großeltern. Diesen verwandschaftlichen Zusammenhang habe ich nie herausbekommen. Ich glaube, meine Mutter nannte sie ebenfalls Tante. Mit richtigem Namen hießen sie Simon und Margarethe Jagusch. Sie hatten in Essen in der Flaßhofstraße ein großes Dachdeckergeschäft. Meine Eltern haben übrigens 1931 dort bei ihnen in Essen geheiratet. Sie waren oft bei uns zu Besuch. Besonders die Tante blieb dann immer ein paar Wochen. In den letzten Kriegstagen, als ihre Wohnung durch Bomben zerstört worden war, haben sie lange bei uns gewohnt. So waren sie auch im April 1945 bei uns, als die Amerikaner kamen. Doch davon später mehr in einem anderen Kapitel.

Dann gab’s  da noch den Knipps Fernand aus Köbach. Auch er gehörte zu meiner Kindheit und gewissermaßen auch zur Familie. Er war schon älter und hatte in den 20er Jahren wie viele andere beim Bau der Wahnbachtalstraße mitgearbeitet. Sein damaliger Arbeitskollege war der Justin Söntgerath. (Der Bruder meines Großvaters). Er wohnte unten im Hof. („Hoff“ ist die landläufige Bezeichnung für „Dorf“). Fernand hatte nun die Angewohnheit, des Sonntags nach der Frühmesse seinem alten Arbeitskollegen einen kurzen Besuch abzustatten, und die neuesten Nachrichten mit ihm auszutauschen.

Anschließend kehrte er dann zu einer Tasse Kaffee bei uns ein. Ich schlief damals ja – wie bereits erwähnt - bei meiner Oma in der Kammer neben unserer Küche. Gewöhnlich lagen Oma und ich noch in unseren Betten. Fernand trat denn ohne große Umstände - ohne Anzuklopfen natürlich - zu uns herein. Nach einem „Morjen Sevchen, morjen Jong“ und einem kurzen Überblick des soeben in der Kirche vernommenen „heutigen Evangeliums“ (Tatsache!) begab er sich in die Küche. Wenn ich dann später aufgestanden war, durfte ich auf seinem Knie reiten. Dabei hielt Fernand seinen Krückstock in beiden Händen und wippte mit ihm auf und ab. Dieses Ritual wiederholte sich fast jeden Sonntag.

Später dann in der Schule war wohl dem Lehrer der zwanglose Umgangston zwischen uns Kindern und den älteren Leuten zu Ohren gekommen. Er hielt uns einen längeren Vortrag über gutes Benehmen, speziell darüber, daß wir Kinder alle und jeden aus unserer Nachbarschaft duzten. Voller Bangen sah ich nun dem kommenden Sonntag und dem Besuch von Fernand entgegen. Der kam dann auch pünktlich wie immer. Nach seinem gewohnten „Guten Morgen“ druckste ich lange herum, bis ich endlich ein schüchternes „Morgen, Herr Knipp“ herausbrachte. Der schaute mich entgeistert an, und fragte, wer mir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt hätte. Als er dann die Geschichte aus unserer Schule vernommen hatte, lachte er schallend auf. Damit war die Sache erledigt und es blieb natürlich beim gewohnten „Du“.

Weiter gab es da noch den Willi Jakobi nebst seinem Vater aus Lüdenscheid. Sie gehörten auch zu meiner Kindheit und irgendwie zur Familie. Wir hatten damals zahlreiche - vom Großvater angepflanzte Obstbäume mit vielen verschiedenen Sorten Äpfeln, dazu Birnen und Pflaumen. Nur Kirschbäume (sehr zu meinem Leidwesen) fehlten.

Nach dem Kriege ergab es sich nun, dass dieser Willi Jakobi, - wahrscheinlich  wie damals so üblich - auf seiner „Hamstertour“ auch bei uns einkehrte. Daraus entstand eine Beziehung – ja Freundschaft,  die viele Jahre anhielt. In den darauf folgenden Jahren, zur Apfelernte erschien dann der Willi mit seinem kleinen Lieferwagen. Später brachte er auch seinen Vater mit. Die beiden wohnten dann eine Woche oder auch länger bei uns. Sie schliefen im Zimmer links vom Flur. Es stand ja sonst leer, und war damals so eine Art Gästezimmer. Es war übrigens recht oft belegt: Einquartierung von Soldaten, Verwandtenbesuche aus der Ferne, Ausgebombte (siehe Esse-Tante) usw.

Die Jakobis hatten wohl in Lüdenscheid eine Metallwarenfabrik. Sie brachten uns nämlich immer ihre Erzeugnisse mit. (Im Tausch gegen unsere Äpfel). Das Geld hatte ja durch die Inflation nach dem Kriege keinen Wert mehr. Ihre Mitbringsel waren aber mehr als Geschenke zu verstehen, denn Obst gab es immer in Überfluss und niemand dachte daran, sich dafür bezahlen zu lassen. Sie brachten meistens Töpfe und Küchengeräte mit. Die Töpfe waren aus Leichtmetall. Es waren auch Eßbestecke und sonstiger Kleinkram dabei. Das alles war natürlich nicht von großer Qualität. Es war halt „Nachkriegsware“, als die man sie später bezeichnete. Trotzdem haben sie in unserem Haushalt lange Zeit ihren Dienst verrichtet. Ein paar solcher Sachen müssen jetzt wohl noch im Hause sein.

Wenn die Jakobis bei uns wohnten, dann waren sie - wie früher so üblich - voll in die Familie integriert. Ein unkomplizierter Umgang war selbstverständlich. Unsere sanitären Einrichtungen, (in einem der nächsten Kapitel genauer beschrieben; waren wie überall auf dem Lande gleich null. Von einem Badezimmer natürlich keine Spur. Und natürlich auch kein „fließendes Wasser“. Das Wasser holten („pützten“) wir aus unserem Brunnen (Pütz) vor unserem Haus. Dabei hatten wir noch Glück. Viele mußten das Wasser per Trag-Esel (ein Brett über den Schultern woran links und rechts je ein Eimer hing), aus einem weit entfernten Brunnen holen. (Zum Pütz auch später mehr).

Unsere Toilette bestand aus einem Außenklo – „Plumsklo“ genannt - wie überall in unserer Gegend. Trotzdem habe ich nie bemerkt, daß die Jakobis oder sonst jemand etwa die Nase gerümpft hätte, und das wäre mir bestimmt in Erinnerung geblieben. Denn als Kind kann man da manchmal ganz schön feinfühlig sein, ohne daß es von den Erwachsenen bemerkt wird

Ganz im Gegenteil! Die Jakobis wußten kräftig mit anzupacken. Wie oft habe ich mit Vater Jakobi Holzstämme zu Brennholz zersägt. (Eine fast täglich anfallende Arbeit, um den Herd in Betrieb zu halten). Ich erinnere mich noch gut, wie der alte Jakobi mir an Hand des Schnittwinkels am Stamm die effektivste, kraft- und zeitsparendste Art des Sägens erklärte. Vater Jakobi hat damals immer versucht, mir in dieser Hinsicht etwas beizubringen. Immer wieder wusste er mir interessante Dinge zu erklären und geistig nahe zu bringen. Wenn ich auch nicht alles verstanden und behalten habe, so ist es ihm doch gelungen, mich in meinen frühen Kindertagen für Neues zu interessieren und er hat mir beigebracht, alles zu hinterfragen und unsere Welt stets mit neugierigen Augen zu betrachten.

Diese Geschichten hören sich heute vielleicht ziemlich banal um nicht zu sagen belanglos an. Für mich aber und für meine kleine dörfliche Welt waren diese Begebenheiten aber durchaus von großer Bedeutung und sie besaßen für mich damals bestimmt prägenden Charakter. Leider ist die Verbindung zu den Jakobis in den späteren Jahren abgebrochen.

Nun muß ich aber noch die Geschichte von Fritz Kerwin und Willi Sandmann erzählen. Diese Episode ist wohl die nachhaltigste meiner Kindheitserinnerungen. Obschon sie nur ein knappes halbes Jahr dauerte, kommt sie mir heute immer noch mindestens ein halbes Jahr länger vor. Es war im Herbst 1939. Ende Oktober. Die deutsche Wehrmacht hatte den so genannten „Polenfeldzug“ – besser tituliert mit „Überfall auf Polen“ - beendet. Die dort zum Einsatz gekommenen deutschen Soldaten kamen nun mit ihren Fahrzeugen und Pferden ins Rheinland auf Fronturlaub. Es waren Teile des 12. Mecklenburgischen Artillerie-Regiments. Die Soldaten stammten hauptsächlich aus Mecklenburg und Pommern. Sie blieben hier den ganzen (schneereichen) Winter bis zum 10.Mai 1940. Sie wurden in den einzelnen Häusern der umliegenden Dörfer zu den Familien einquartiert. Da bei uns das „Gästezimmer“ leer stand, wurden uns 2 Mann zugeteilt. Großes Rätselraten bei Eltern und Oma. Wer wird es wohl sein? Bis heute ist mir noch der Tag ihrer Ankunft  in lebhafter Erinnerung. Wir standen alle am Küchenfenster. Ich sehe noch vor mir, wie die beiden Soldaten mit ihrem umfangreichen Gepäck vom unteren Dorf her den „Schweizersberg“ heraufmarschiert kamen. Marschieren ist wohl übertrieben gesagt, denn sie hatten einen gemächlichen Trott drauf. Der Eine hatte sein Akkordeon über den Schultern hängen. Ich höre noch heute, wie meine Mutter ausrief: „Oh Jott, en Spellmann.“ Mein Vater war da natürlich sofort total begeistert. Der Eine mit dem Schifferklavier war Willi Sandmann. Der andere hieß Fritz Kerwin. Dieser stammte von der Insel Rügen.

Die beiden brachten nun sofort, wie man so sagt, Leben in die Bude. Fast jeden Abend trafen sich Kameraden von ihnen und unsere Nachbarn bei uns. Man hatte ja Zeit, und die Feldarbeit war zu Ende. Dann wurde „Schwarzer Peter“ gespielt, das die Heide wackelt. Manchmal schickte man jemand nach Wohlfarth zum Gasthaus Steimel, um in einem Siphon Bier zu holen. Ansonsten war Alkohol Nebensache. Wer am Schluß den Schwarzen Peter hatte, der hatte das Spiel verloren. Ich durfte dann mit einem Korken, den ich vorher an der Innenseite unserer Ofentür tüchtig geschwärzt hatte, dem armen Opfer meinen Stempel ins Gesicht drücken. Manche sahen später aus wie halbe Neger. Leider wurde ich zur gegebenen Zeit - für mich immer viel zu früh - zu Bett geschickt.

Wohl aus alter Gewohnheit, hing ich damals mit meinen vier Jahren immer noch „an der Flasche“. Das heißt im Klartext: Ich ließ mich durch nichts davon abbringen, meine Milch aus einer Tasse zu trinken. Da kam nur die „Pulla“ in Frage. Mama und Oma ließen mir meinen Willen. Nicht so Fritz und Willi. Eines Tages war die „Pulla“ urplötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Nun stand ich da. Milch war von klein an für mich so eine Art  Lebenselixier. Ich trank sie immer mit Wohlbehagen. Und nun das! Wohl oder übel probierte ich es nun mit der Tasse. Und, oh Wunder, nach ein paar Tagen hatte ich mich richtig an das neue Trinkgefäß gewöhnt. Als dann später, aus unerfindlichen Gründen die Flasche plötzlich wieder auftauchte, hatte sie für mich nur noch Museumswert. Die beiden „Übeltäter“ Fritz und Willi hatten also geschafft, was Mutter und Oma, sicher aus Angst vor meinen Tränen, nicht riskiert hatten.

Dann erinnere ich mich noch gut, dass die beiden mich zum „Kahnfahren“ auf dem Herrenteich mitnahmen. Kahnfahren war damals für mich etwas absolut Gefährliches. Kein Mensch hatte es bis dato geschafft, mich zum Besteigen eines solch schwankenden Wasser-Fahrzeuges zu bewegen. Doch die beiden schafften es. Fortan war ich ein begeisterter Anhänger des Rudersports, und wenn es mal wieder hieß: „Komm, laßt uns Kahnfahren“, war ich vorneweg.

Später dann ließ der Fritz, - er hatte erst kurz vor Kriegsbeginn geheiratet,- seine junge Frau Herta von der Insel Rügen nach hier kommen. Willi bekam ein anderes Quartier und so hatten die beiden ihr Reich für sich. Sie verbrachten jetzt bei uns praktisch ihre Flitterwochen. Ich habe noch heute das Bild vor Augen, wenn die Herta ihrem Fritz vor unserer Haustür die Soldatenstiefel putzte.

Für mich war es eine schöne, unbeschwerte und wohlbehütete Kinderzeit. Willi Sandmann hat hier auch seine spätere Frau kennengelernt und nach dem Kriege in Herchenrath, später in Siegburg gewohnt. Er ist in den 60er Jahren verstorben.

Mit den Kerwins haben wir Anfang der 60er Jahre Verbindung aufgenommen, indem ich einfach aufs Geratewohl einen Brief zur Insel Rügen schickte. Den Namen des Ortes (Puttbus) hatte ich noch in Erinnerung. Und tatsächlich erhielten wir auch bald eine Antwort. Fritz und Herta waren überglücklich über unser Lebenszeichen. Viele Jahre haben meine Frau und ich den beiden zu Ostern und Weihnachten und den jeweiligen Geburtstagen Pakete mit Lebensmitteln, Apfelsinen, Schokolade, Kaffee Strümpfen usw. geschickt. Das waren alles unerschwingliche Dinge zur damaligen Zeit in der ehemaligen DDR. Leider ist es nie zustande gekommen, daß wir uns wiedergesehen haben. Auch bedingt durch die Schwierigkeiten der deutsch-deutschen Grenze damals. Fritz ist dann später gestorben. Da wir seit 1989 nichts mehr von Herta gehört hatten, glaubten wir von ihr dasselbe. Doch zu unserer großen Freude und Überraschung rief sie uns am Heiligen Abend 1994 an. Sie wäre nun fast 80 Jahre alt, und es klappt nicht mehr mit dem schreiben, sagte sie uns unter anderm. Danach brach die Verbindung endgültig ab da wir auf unsere Briefe keine Antwort mehr erhielten.

Doch nun muß ich noch etwas über die Weihnachtszeit meiner Kindheit erzählen. Ich möchte von mir behaupten, daß ich eigentlich so ein richtiger „Weihnachtsmann“ bin. Das heißt, für mich ist das ganze Jahr immer so ein bißchen Weihnachten. So richtig beginnt es im Spätherbst. Ich zähle die Tage bis zum 1. Advent. Ich laufe in unserer Fichtenschonung herum und suche den späteren Weihnachtsbaum aus. Ich mache Pläne für das Festtags-Menue (Pute) usw. Und ich schwelge in Erinnerungen an die Weihnachtszeit meiner Kindheit.

Damals kam also zuerst der Nikolaus. Unsere Nachbarin „et Krusen Sofi“ (Sofie Kraus) - sie war übrigens noch unverheiratet - machte bei uns im Dorf den Hl. Mann. Tage vorher wurde es aber schon spannend. Abends, wenn ich mit meiner Oma „Mühle“ oder „Mensch ärgere dich nicht“ spielte, oder aber im Dunkeln mit ihr zusammen am warmen Küchenherd saß, während meine Eltern noch im Stall die Tiere versorgten, klopfte es  plötzlich ans Fenster. Da lief es mir kalt über den Rücken. Mutig ging meine Oma ans Fenster und öffnete es. Dann flog auch schon eine Tüte mit Plätzchen und Süßigkeiten in die Stube. Meistens platzte sie dabei auf und zitternd vor Angst und Aufregung sammelte ich die Köstlichkeiten auf. Wenn Papa und Mama dann aus dem Stall kamen, erzählte ich ihnen aufgeregt mein Erlebnis.

Am Nikolausabend erschien dann Sofie in Gestalt des Hl.Mannes an der Tür, mit diesem grauenhaften, bösen Hans Muff, den sie aber später draußen ließen, weil ich zum Gottserbarmen heulte und brüllte vor Angst. Der Nikolaus reichte schon. Manchmal bin ich dabei glatt unters Sofa gekrochen.

Später kam der Nikolaus dann nur noch nachts, das heißt, ich stellte am Vorabend den Nikolausteller auf. Das war der große Messing-Teller unserer alten mechanischen Küchenwaage. Ganz früh am Morgen lief ich dann bibbernd vor Kälte und Aufregung in die Küche, um mir den gefüllten Teller und die anderen Gaben anzusehen. Da lagen meistens die traditionellen Malbücher samt den dazugehörigen Malstiften. Eines durfte dabei aber nicht fehlen - und fehlte auch nie: Außer dem obligaten „Hierzbock“ (Weckmann) mit Pfeife war da noch ein ganz besonderes Gebilde. Es war ein, aus Teig geformter Mann, welcher auf einem Pferd ritt. Eine Besonderheit, die nur ich besaß, und die jedesmal von den Nachbarskindern gebührend bewundert wurde. Dieser „Reitende Hierzbock“ stammte von meinem Pattohm Peter aus Wellerscheid. Er ließ ihn immer in der dortigen Bäckerei Steeger für mich backen. Wenn ich dann alles genau bewundert hatte, kroch ich selig ins warme Bett zurück. Um diese Jahreszeit wurde dann auch - wie überall in der Nachbarschaft - unser Schwein geschlachtet. Deshalb habe ich wohl auch bis heute das Gefühl, wenn ich den von mir so sehr geschätzten Panhas esse, es sei Nikolaustag.

Dann kam die Zeit des Plätzchenbackens. Uns Kindern wurde gesagt, das Christkind habe jetzt dermaßen viel um die Ohren mit backen und so, das Mutter ihm helfen müsse. Die fertigen Plätzchen wurden dann, wie man mir sagte, auf den „Older“ (Speicher) gestellt, von wo sie das Christkind abholten würde. Merkwürdigerweise brachte es dann aber zu Weihnachten immer wieder unsere eigenen Plätzchen. Nie tat es einen falschen Griff, wobei dann auch Plätzchen unbekannter Herkunft auf meinem Teller gelegen hätten. Das hat mir übrigens damals schon immer zu denken gegeben.

Natürlich half ich beim backen. Mit den Blechförmchen stach ich den Teig aus. Wenn das Backblech voll war, schob es meine Mutter in den Backofen unseres Küchenherdes. Der wurde „gestocht“ (geheitzt) mit Holz und Brikett. Es war eine Kunst für sich, im Backofen eines solchen Herdes zu backen. Meine Mutter beherrschte diese Kunst allerdings profiehaft! Kaum, daß einmal ein Plätzchen zu hell oder zu dunkel war, oder gar verbrannte. Wie viele Kuchen, Torten (die später gefüllt und mit Buttercreme verziert wurden) usw. sind durch diesen alten Backofen gegangen. Da gab es kein Thermostat mit Einstellung: 175 Grad - Heißluft. Alles ging nach Gefühl und Erfahrungswerten. Die Koch- und Backeigenschaften dieses Herdes standen dem eines heutigen modernen Elektroherdes in keiner Weise nach. Man musste nur den Umgang mit ihm kennen.

In den Wochen vor Weihnachten war es damals oft schon recht kalt und es lag häufig auch schon Schnee. Das war damals die Norm. Wir Kinder vergnügten uns draußen mit Schlittenfahren, Schneemann bauen und „Bahnhauen“ auf dem Eis. Nach einem kräftigen Anlauf schlitterte man mit den Füßen über die Eisbahn (Eisfläche). Bevorzugte Eisbahnen waren der Brandweiher unten im Hof - so genannt, weil er bei einem Brand als Wasser-Reservoire diente. Er war übrigens vom damaligen Reichsarbeitsdienst angelegt worden. Dann gab es noch im Rockenbusch verschiedene alte Lehmkuhlen, die sich nach den herbstlichen Regenperioden randvoll mit Wasser gefüllt hatten, und nun – mit einer dicken Eisschicht bedeckt -, eine herrliche Eisfläche darstellten.

Schlittschuhe gab es ja kaum. Ich habe jedenfalls nie welche besessen, obwohl sie auf keinem meiner Weihnachtswunschzettel fehlten. Meine besorgten Eltern dachten dabei wohl auch an eventuell bevorstehende Arm- und Beinbrüche.

Heiligabend wurde ich ganz früh zu Bett geschickt. Die Kammer, in der ich schlief, lag bekanntlich  direkt neben der Wohnstube. Für meine Eltern muß es wohl nicht leicht gewesen sein, dort dann die Weihnachtsvorbereitungen zu treffen, ohne das ich im Nebenzimmer etwas davon mitbekam. Später dann, in den Jahren meiner ersten Zweifel, konnte ich bei genauem Hinhören einige Geräusche identifizieren. So zum Beispiel das Rascheln des Christbaumes usw. Die Kammertür, welche natürlich nicht ganz dicht schloß, wurde von der Stube her mit einer Decke verhangen, so daß kein verräterischer Lichtstrahl in meine Kammer fiel.

Am Morgen, nachdem ich aufgestanden war, kam der große Augenblick und staunend stand ich vor der ganzen Herrlichkeit. Ich erinnere mich noch gut an jenen unvergeßliche Weihnachtsmorgen - es war wohl an meinem 6.Lebensjahr -, als ich um ersten Mal mit meinen Eltern zu Fuß durch den knirschenden Schnee und die sternklare Winternacht zur Christmette nach Kreuzkapelle gehen durfte.

Gegen 4.00 Uhr in der Frühe wurde ich geweckt. Bibbernd vor Kälte und Aufregung betrat ich unsere Stube. In der Ecke zwischen den beiden Fenstern stand der Christbaum auf einem kleinen Tisch. Ihm zu Füßen auf grüner Holzwolle die Figuren unserer Krippe mit Maria, Josef, dem Jesuskind und den Hirten mit ihren Schafen. Auf dem Küchentisch die bunten Teller mit den Süßigkeiten und den Geschenken, welche ich nur mit einem flüchtigen Blick erhaschen konnte, denn meine Eltern drängten zum Aufbruch.

Unterwegs trafen wir auch die Leute aus den Nachbardörfern. Die Kirche war überfüllt mit Gläubigen. Fast geblendet war ich vom Glanz der vielen Kerzen an den großen Tannenbäumen rund um den Altar und von unserer schönen, alten Krippe mit den großen, herrlichen Figuren und dem mit Stroh gedeckten Stall. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sehr ich in Gedanken während der Christmette meine ebenfalls anwesenden Schulkameraden und Nachbarskinder bedauerte, die - davon war ich tatsächlich felsenfest überzeugt -, nicht so ein wunderschönes Weihnachtsfest feiern konnten wie ich.

Wieder zu Hause, wurde der Ofen angezündet. Die Oma stand auf und gemeinsam bewunderten wir nun meine Geschenke. Es war ja Kriegszeit und wir waren nicht gerade wohlhabend. Es gab also typisches Kriegsspielzeug, Zinnsoldaten, Kanonen aus Blech, mit denen man Erbsen in die Luft schießen konnte usw. Eine Ritterburg war ebenfalls einmal unter den Geschenken. Auch ein Flugzeug, das man auseinander- und wieder zusammenbauen konnte. Ich glaube, es war eine Me-109. Alles natürlich aus Blech. Kunststoff gab es ja noch nicht. Dann war da ein Holzbaukasten. Einmal erhielt ich eine Eisenbahn zum Aufziehen mit den dazu gehörigen Schienen, welche man in Kreisform zusammenstecken mußte. Auch mein sehnlichster Wunsch nach einem „Stabilbaukasten“ (Metall-Baukasten) ging irgendwann in Erfüllung. Mit diesem Kasten habe ich Lastkräne, Autos, Schiffe und vieles andere gebaut. Damals der Traum eines jeden Jungen. Dann bekam ich auch ein Paar Ski. Das war echte Handarbeit vom Schreinermeister Peter Knipp aus Much. Sie waren erst im letzten Augenblick fertig geworden, denn der schwarze Lacküberzug war noch nicht ganz trocken. Der Geruch dieser Lackfarbe war das Erste, was ich nach meinem Erwachen am Weihnachtsmorgen in meinem Schlafzimmer in die Nase bekam.

Das Mittagessen an Weihnachten bestand bei uns aus normalem Sonntagsessen. Das heißt: Es gab meistens Suppenfleisch, Schweinebraten aus dem bekannten Einkochglas oder sonst etwas vom Schwein. Dazu Kartoffeln und Gemüse aus eigenem Anbau.

Am Nachmittag kamen dann die Invasion von Onkeln, Tanten, Vettern und Cousinen. Da kam für mich auch noch einiges an Geschenken zusammen. Meine größte Sorge bestand nun aber darin, dass meine neuen Spielsachen nicht in die Brüche gingen. Besonders am 2.Weihnachtstag, wenn wir Kinder „reihum“ in die Häuser gingen, um die jeweiligen Geschenke der andern anzugucken. Einige von ihnen entwickelten dabei immer ein, für mich rätselhaftes Talent, meine Sachen kaputt zu machen - kaum das sie diese in ihrer Hand hielten. Oft war dann der Schaden nicht mehr zu reparieren. Heute wäre das ein Leichtes gewesen bei der Auswahl an Klebemitteln. So auch beim Malen mit meinen Bundstiften. Da brach diesen Tölpeln regelmäßig die Spitze ab, wogegen ich stundenlang ohne Malheur malen konnte. Und so war ich dann am Schluss auch immer wieder froh, wenn ich meine Spielsachen endlich zur eigenen, freien Verfügung hatte. Ich war halt ein Einzelkind. So wurde – und war ich, eigentlich bis heute -, ein guter „Alleinunterhalter“. Das heißt, ich konnte mich jeden Tag immer wieder mit meinen Spielsachen beschäftigen, ohne daß dabei Überdruß oder Langeweile bei mir aufgekommen wäre.

Als dann später das Lesealter für mich anbrach, wurde ich förmlich zur „Leseratte“. Ich laß alles, was mir in die Quere kam. Leider gab es in unserem Haus kaum ein Buch, geschweige denn ein Kinderbuch. Erst später erhielt ich dann „Der Jugend Mußestunden“. Ein Kinderbuch mit Bildern, Geschichten und Gedichten. Das Buch datierte aus dem Jahre 1927. Ich kannte es bald vor- und rückwärts. Noch heute könnte ich fast alle Geschichten aus jenem Buch nacherzählen. Ebenso die Gedichte. Erst nach gut 50 Jahren habe ich ein Exemplar dieses Buches wieder auf einem Flohmarkt erwerben können. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich es das erste Mal wieder aufschlug und die vertrauten Bilder sah und die Geschichten wieder las.

Dann besaß mein Vater noch einen Prachtband „Schillers Werke“. (Größe 20x30) Er war irgendwann einmal auf verschlungenen Wegen in unser Haus geraten. Er beinhaltete die bekanntesten Dramen, wie: „Wilhelm Tell“, „Die Jungfrau von Orleans“, „Wallenstein“, „Macbeth“, „Die Braut von Messina“, „Die Prosaischen Schriften“ usw. Das alles habe ich damals gelesen und natürlich mit meinen 8-9 Jahren nur die Hälfte oder weniger verstanden. Am meisten störte es mich, wenn die handelnden Personen mit Doppelpunkt am Anfang des Satzes erschienen. Das kam mir irgendwie unnatürlich vor. Ich wußte ja nicht, daß es sich hier um Theaterstücke handelte.

Dann gab es bei uns noch den „Ulenspiegel“ von Charles de Coster. Wie der in unser Haus geraten ist, das gibt mir bis heute noch Rätsel auf. Jedenfalls habe ich das Buch irgendwann auf unserem Speicher aufgestöbert und natürlich sofort gelesen. Ich glaube sogar mehrmals. Leider fehlten die letzten wichtigen Seiten, und so blieb das Ende der Geschichte für mich im Dunkeln. Erst vor einigen Jahren habe ich den Ulenspiegel - diesmal aber komplett - in einem Buchladen käuflich erworben, und ihn zu Ende gelesen.

Bekanntlich hat de Costers „Ulenspiegel“ kaum etwas mit jenem Schalksnarren namens Eulenspiegel aus Mölln zu tun. Ulenspiegel, der mit seinem dicken und überaus sanftmütigen Freund Lamm Goezak durch die Lande zog, hatte sich dem Freiheitskampf der Flamen gegen die spanische Krone verschrieben. Das meiste blieb mir also wieder mal schleierhaft. Trotzdem, so glaube ich, ist damals immer etwas hängen geblieben, mit dem ich später etwas anfangen konnte. Ich habe mir sowieso mein Weltbild aus Büchern herangezogen. Was man mir dieser Hinsicht in der Schule beigebracht hat, ist gleich null! - Doch davon in einem anderen Kapitel.

Dann war da noch die Maria Schiffer. Sie war die Schwester unseres Pastors von Kreuzkapelle, Leopold mit Namen. Maria wurde von uns Kindern kurz „de Pastursch Koch“ genannt. Sie besuchte uns regelmäßig, speziell meine Oma, mit der sie ein gutes, freundschaftliches Verhältnis verband. Fräulein Schiffer versorgte meine Oma immer mit Lesestoff. Meine Oma las übrigens auch viel und gern. Die Bücher besorgte sich Maria Schiffer nicht ganz legal, nämlich aus der Pfarrbücherei, im Pfarrsälchen untergebracht war. Das Pfarrsälchen grenzte direkt an das Wohnhaus des Pastors, und war von dort aus durch eine Tür direkt zu erreichen.

Ich laß natürlich alle diese Bücher mit. Es waren die üblichen Heimatromane und auch viele Erzählungen von Wilhelm Herchenbach, einem Sohn unserer Heimat. Natürlich fanden nicht alle Bücher den Weg zurück nach Kreuzkapelle. Ein paar dieser alten Schinken befinden sich heute noch in meinem Besitz. Ein Buch hatte es mir besonders angetan. Es waren die „Soldatengeschichten“ von F. Bonn. Ich kannte sie fast auswendig. Das Buch war bebildert und stammte aus der Jahrhundertwende, als das Soldatsein sich hauptsächlich in der Garnison und im Manöver abspielte. Noch heute könnte ich noch alle Geschichten nacherzählen. Zum Beispiel: „Die unheimliche Nachtwache“, „Eine Million“, „Die ärarischen Stiefel“, „Die ‚Schlacht’ bei Bronnzell“, „Muckl, der Luftschiffer“ usw. Irgendwann ist mir das Buch, - sehr zu meinem Leidwesen, - abhanden gekommen. Trotz vielerlei Suchen in Antiquitätenläden und auf Flohmärkten  wurde ich aber nie fündig. Meine Tochter Birgit, die um mein Faible für dieses Buch wusste, brachte mir dann vor einigen Jahren ein Exemplar eben dieser „Soldatengeschichten“ – wenn auch nur leihweise - ins Haus. Sie hatte es auf sehr verschlungenen Pfaden in der Stadtbücherei Siegburg ausleihen können.

Meine Kindheit war, wie damals bei allen Kindern auf dem Lande, natürlich auch angefüllt mit Arbeit. Nach Schule und Hausaufgaben war es für mich selbstverständlich, meinem Vater in unserer kleinen Landwirtschaft zur Hand zu gehen. Das kam mir natürlich nicht immer gelegen. Besonders im Sommer, wenn ich die Kinder unten im Hof lärmen und spielen hörte, und ich dann mit unseren beiden Kühen zum Hüten losziehen mußte. Das Kühehüten zieht sich übrigens wie ein roter Faden durch meine Kindheit, und war für mich hauptsächlich eine äußerst langweilige Angelegenheit.

Unsere Felder und Wiesen lagen weit verstreut. Das änderte sich erst nach der sogenannten „Flurbereinigung“ in den 50er Jahren, als man daranging, die vielen einzelnen Parzellen zu großen zusammenhängenden Flächen zusammen zu legen. Wir besaßen z.B. Weidenstücke (Grünflächen) auf der „Hongsecht“, im „Engelderfeld“ und die „Köbacher Wiese“, einem ausgetrockneten alten Fischweiher, durch die aber noch ein kleiner Bach floß.

Es war immer ein langer Weg, wenn ich mit den Kühen am Strick zum Hüten auszog. Hatte ich das Ziel erreicht, löste ich die Stricke vom Zaum, und beide - Kühe und ich -, hatten mehr Bewegungsfreiheit. Natürlich barg die Sache das Risiko in sich, daß die Kühe die ihnen gebotene Freiheit ausnutzten und sich in die nahen Büsche schlugen. Meistens nur, um der lästigen Fliegen einmal gründlich Herr zu werden. Oft hatte ich dann meine liebe Not, bis ich sie wieder an alter Stelle versammelt hatte. Manchmal gelang mir das aber nicht. Ich erinnere mich noch gut, wie ich einmal heulend aus dem Engelderfeld (in Richtung der Ortschaft Engeldt gelegen) nach Hause gelaufen bin, um meinem Vater die Schreckensbotschaft zu verkünden, unsere Kühe seien in den Wald gelaufen und nicht mehr auffindbar. Mein Vater ließ alles stehen und liegen, und begab sich mit mir zum Ort des Geschehens. Unterwegs musste ich mir seine, mit kräftigen Flüchen gespickte Schimpfkanonade über meine offensichtliche Unfähigkeit zum Kühehüten anhören. Als wir dann an der Unglücksstelle ankamen, waren die Biester friedlich nebeneinander am grasen. Sie blickten uns bei unserer Ankunft treuherzig mit ihren sanften großen Augen an, so als ob nichts geschehen wäre.

In der Köbacher Wiese war es da schon interessanter. Dort konnte ich herrlich am Bach spielen. Meine Spezialität war das Bauen von Wasserrädern. Hatte ich sie richtig „in Stellung“ gebracht, dann drehten sie sich auch nach Tagen noch, wenn ich wieder zum Hüten erschien. Ich war dann immer mächtig stolz auf mein Werk. Mein Vater und ich haben von dort auch so manche Schubkarre Futtergras nach Hause gefahren. Die Wiese lag ziemlich tief in einem Siefen - einer Art Schlucht. Mit einem größeren Fuhrwerk war da kein Hinkommen. Ich mußte dann die volle Karre beladen mit Gras, welches mein Vater vorher mit der Sense abgemäht hatte, mit einem Strick vorne ziehen, während sie mein Vater schob. Zwischendurch gab es dann immer mal wieder eine Rast. Vater steckte seine Pfeife in Brand. Während wir dann so saßen, erklärte er mir die Dinge aus Wald und Flur um uns herum. Zum Beispiel die einzelnen Baumarten, die Namen der Vögel und der Gräser. Er wußte da eine ganze Menge von. Davon habe ich mehr behalten als von so mancher trocken-langweiligen Schulstunde im „Suudbösch“ - (das war die Bezeichnung für unsere Schule) - davon später mehr.

Wir besaßen kein Pferd. Dafür war unser Betrieb zu klein. So wurden halt unsere Kühe als Zugtiere genommen, was damals durchaus üblich war. Sie mußten allerdings zuerst „gewöhnt“ werden, das heißt, sie mussten dazu gebracht werden, eine Karre, eine Egge oder einen Pflug zu ziehen und das dauerte seine Zeit. So hatten wir unsere Kühe meist viele Jahre, denn eine neue Kuh wieder zu gewöhnen war halt schwierig. Natürlich war der Milchertrag nach einem Arbeitseinsatz der Tiere dementsprechend.

So besaßen wir auch alle notwendigen Geräte, wie Karre, Leiterwagen, Pflug („Hongsploch“), Egge, Kultivator („Fröselploch“), sowie das übliche Leder-Zaumzeug wie Sattel und Hamen. Alle diese Gerätschaften waren in leichter Ausführung - speziell für Kühe - hergestellt.

Beim Pflügen mußte ich die Tiere am Zaum führen, während mein Vater den Pflug in der Furche hielt. Wenn sich rechts  oder links unseres Ackers ein Knollenstück (Rübenacker) befand, hatte ich oft genug meine liebe Not, unsere Zugtiere davon abzuhalten, den saftigen Knollenblättern einen Besuch abzustatten. Das Wenden mit Kühen und Pflug am Kopfende des Ackers gestaltete sich manchmal zu einer mittleren Katastrophe, begleitet von lautstarkem Schimpfen meines Vaters. Oft hatten sich die Zugketten dergestalt verheddert, dass nichts anderes übrig blieb, als die Tiere aus- und wieder neu einzuspannen.

Da wir in Scheune und Stall keinen Starkstrom-Anschluss besaßen, konnten wir natürlich auch keinen Elektro-Motor anschließen. So mußte ich die fehlende Motorkraft bei der „Wannmühle“, der „Heckselmaschine“ oder beim „Rübenschneider“ ersetzen. In der Wannmühle wurde mittels eines Windrades und mit Hilfe verschiedener Schüttelsiebe die ausgedroschenen Weizen- und Roggenkörner vom Spreu getrennt. Gedroschen wurde von Hand mit dem Dreschflegel, (dem "Vlähn"). Und das ging so: Das „Tenn“ (die Tenne) - der Scheunenboden, meistens hartgestampfter Lehm, Stein- oder Zementboden, - letzterer war bei uns vorhanden, - wurde mit den Garben ausgelegt. Sodann wurde mit dem Dreschflegel, einem kantigen Stück Hartholz, per Lederriemen an einem langen Stiel befestigt, drauflos gedroschen, bis die Körner sich alle von den Ähren gelöst hatten. Wenn man damals im Winter durch die Dörfer ging, hörte man überall aus den Scheunen die „Dreschflegel sausen“. Soviel zum Thema dreschen und wannen.

Die Heckselmaschine war ein etwas komplizierteres Gerät. An der Kopfseite war ein großes Eisenrad (ca.1m Durchmesser), bestückt mit zwei gegenüber liegenden Messern - wie Speichen angebracht. Des Weiteren bestand sie aus einer langen Bank, der „Schneckbank“ (Schneidebank), einer Art langer Holztrog. Sie wurde übrigens Sommer wie Winter von meinem Vater gern als Ruhelager für seinen Mittagsschlaf benutzt. Die Heckselmaschine befand sich in unserem Stall direkt vor den Kuhtrögen. Wintertags war es dort immer recht angenehm warm. In diese Bank also wurden abwechselnd Stroh und Heu in mehreren Schichten übereinander gelegt. Mittels zwei gegenläufigen, gezahnten Eisenwalzen wurde das Ganze nach vorne tranzportiert und von den beiden Messern auf eine Länge von 2-3 cm abgeschnitten. Die Länge war übrigens einstellbar. Dieses „Gehäcksel“ wurde dann den in der Knollenmaschine zerkleinerten Runkelrüben beigemischt und den Kühen während der Wintermonate als Futter in den Trog geschüttet. Das hört sich alles ziemlich kompliziert an, war aber für uns alltägliche Routine.

Einmal habe ich meinem Vater den Vorschlag gemacht, das Rad der Heckselmaschine mit dem Treibriemen eines Elektro-Motors zu verbinden, was technisch durchaus möglich war, und in unserer Nachbarschaft auch so gehandhabt wurde. Nachdem jedoch mein Vater dieses Ansinnen rigoros abgelehnt hatte - nicht ohne ein paar spitze Bemerkungen fallen zu lassen, ob ich vielleicht zu faul sei, das Rad selber zu drehen -, hielt ich mich in Zukunft zurück, Vorschläge über die Modernisierung unseres Betriebes zu machen.

Ende Mai oder Anfang Juni ging es los mit der Heuernte. Der „Heuahn“ war da, die Jahreszeit der Heuernte. Es wurde, wie man sich ausdrückte: „Heu gemacht“. Damals kannte man noch kein Silofutter und Maisfelder waren unbekannt. So mußte man also genügend Heu machen, um die Tiere über die Wintermonate im Stall zu bringen.

Wenn man in den Dörfern den Klang des „Senseklopfen“ - des Dengeln hörte, wußte man, es geht los. Auch mein Vater verstand die Kunst des Dengelns. Denn es war wirklich eine Kunst und noch lange nicht jeder beherrschte sie. Heute sind es nur noch ganz wenige welche sie beherrschen. Obwohl ich meinem Vater oft beim Dengeln zugeschaut habe, wußte ich später doch nicht, wie ich es anstellen sollte, als es darum ging, meines Vaters Sense „zu klopfen“, als ich sie zum mähen benötigte. Aber ich habe mich dann irgendwann ans Werk gemacht - (nach meinem selbstgezimmerten Wahlspruch: „Den Satz: ‚Das kann ich nicht’, den gibt es bei mir nicht!“) Man muß zum Sense-Dengeln ein gewisses Gespür entwickeln. Deshalb ist es auch so schwer, jemand das Dengeln beizubringen. Wenn man da nicht genau aufpaßt, und eine Stelle vielleicht zu stark oder zu lange „behämmert“, hat man gleich die schönste "Welle" produziert. Die läßt sich dann kaum noch wieder begradigen und die Sense hat keinen guten Schnitt mehr. Ohne mich hier loben zu wollen, ist mir das nur ganz am Anfang passiert. Inzwischen habe ich mehrere neue Sensen, - auch die meiner Nachbarn, - unter die Hände bekommen, und sie schneiden nach dem Dengeln alle wieder „wie der Teufel“.

Wenn dann so ein Sense frisch gedengel ist, erhält sie mit dem „Strichsteen“ (Wetzstein) den letzten Schliff. Sie ist dann oft rasiermesserscharf. Und das war damals auch gut so, denn es wurden viele Morgen Grasfläche, (1 Morgen = 1/4 Hektar) mit der Hand abgemäht. Auch mein Vater zog dann in aller Herrgottsfrühe los. Es mähte sich besonders gut, wenn der Tau noch im Gras war.

Manchmal hatten wir dabei auch Glück. Wenn ein Nachbar gerade mit seiner Mähmaschine in der Nähe war, oder der mal gerade etwas Zeit erübrigen konnte, mähte er unser Stück gleich mit. So eine Mähmaschine hatte ein langes, ausklappbares, mit dreieckigen Messern bestückte Schnittfläche. Das Messer wurde mittels einer Kardanwelle über die Räder angetrieben. Gezogen wurde die Mähmaschine natürlich von einem Pferd. Auf der Maschine war ein eiserner Sitz angebracht, von wo aus der Bauer die Arbeit kontrollieren und das Pferd mittels einer Leine lenken konnte.

Klappte das nun mit der Mähmaschine, so hatte mein Vater eine Menge Knochenarbeit weniger. Doch dann ging die Arbeit im Heu erst so richtig los, wobei auch ich zu helfen hatte. Täglich ein bis zweimal mußte das Gras zum Trocknen mittels eines Rechen gewendet werden. Meistens wurde es aber vor dem Einbringen auf Heuböcke geschichtet. (Drei Holzstangen, pyramidenförmig aufgestellt, mit drei waagrechten Querstangen, die im unteren Bereich durch Drahtschlaufen gezogen wurden). Auf diesen Böcken konnte das Heu in Ruhe trocknen, und auch ein paar Regentage hinterließen keine negative Wirkung. Bei stürmischer Witterung kam es jedoch vor, dass die Kuppe abgetragen wurde. Die mußte dann aber schleunigst wieder drauf, denn sonst „regnete es rein“.

War das Heu „gut“, spannte mein Vater unsere beiden Kühe vor den Leiterwagen, (der hieß so, weil seine Ladefläche links und rechts von langen Stangen mit Sprossen gebildet wurde). Meine Arbeit bestand nun darin, das Heu, welches mein Vater mit der langen Heugabel in großen Ballen zu mir hinaufreichte, schön gleichmäßig auf dem Wagen zu verteilen.

Das kam sich sehr genau. Wenn man zum Beispiel eine Seite stärker beladen hatte, konnte es geschehen, daß das Heu sich während der Fahrt selbständig machte, und so die ganze Ladung seitlich abrutschte. Übrigens ist so ein Fall - nach meiner Erinnerung - bei uns mindestens einmal eingetreten. Sicherheitshalber wurde nach dem Beladen der Heuwagen mit einer langen Leine überspannt und kräftig festgezurrt.

Zu Hause angekommen, oblag mir die Aufgabe, das Heu, welches mein Vater durch eine hierfür hergerichtete Dachluke im Heuschuppen, (ein Anbau an unserer Scheune) zu mir hineinwarf, zu verteilen und fest in die Ecken zu stopfen. Dabei konnte es einem ganz schön warm werden, besonders wenn dann noch die Sonne auf das Scheunendach zielte, kam man sich vor wie in einem Backofen.

Trotzdem hat mir die Heuernte immer großen Spaß gemacht. Ganz besonders die Heimfahrt, wobei ich auf dem voll beladenen Heuwagen thronte. Ein herrliches Gefühl, hoch oben auf dem schwankenden Heu zu sitzen. Man kam sich vor wie ein Prinz. Dafür lohnte sich schon die vorangegangene Mühe.

Wesendlich unsympathischer war mir da die Roggenernte. Hauptsächlich wegen dieser verflixten langen Grannen. Das sind diese nadeldünnen, mit Widerhaken behafteten Auswüchse an den Ähren. Wenn sie trocken sind, brechen sie leicht ab und ihre Einzelteile setzen sich in den Kleidern und am verschwitzten Körper fest, was mir bis heute ein leichtes Kribbeln auf der Haut verursacht, wenn ich daran denke. Beim Weizen und beim Hafer war das nicht der Fall.

Das Getreide wurde nicht gemäht sondern mit dem „Seecht gehauen“. Dieses Seecht besaß ein kräftiges, breites Sensenblatt, welches an einem kurzen Stiel befestigt war. Am oberen Ende dieses Stieles befand sich ein rechtwinkliger Griff, den man mit der rechten Hand umfaßte. Nun konnte man mit kräftigem Schwung die Halme abhauen. Mit der linken Hand hielt man einen Stock, der an seinem unteren Ende einen ca. 20 cm langen, im rechten Winkel befestigten Eisendorn besaß, den „Matthooch“. Mit dem wurden die auf dem Boden liegenden Ähren eingesammelt.

Ich hatte nun die ehrenvolle Aufgabe, mittels eines, aus Ähren geflochtenen Stricks die Ähren zu Garben zusammen zu binden. Beim Roggen benötigte man wegen dessen Länge zwei solcher Bindungen für eine Garbe. Anschließend wurden die einzelnen Garben zu viert oder zu sechst zeltförmig zusammengestellt, (zu „Huustern“). Gab es dann eine längere Regenperiode, so kam es vor, daß die Ähren am Halm ausschlugen, (zu „wachsen“ begannen). Damit waren sie dann unbrauchbar geworden. Nur das Stroh konnte man noch verwerten, falls es nicht auch zu faulen begonnen hatte.

Das Heimholen der Garben gestaltete sich wie bei der Heuernte. Die Garben hatten ihren Lagerplatz in der Scheune gleich unter dem Scheunengiebel - (der „Schleeße“). Sie wurden mit den Ähren nach innen gelegt, damit die Mäuse einen längeren Anmarschweg zu ihnen hatten. Das war dann wieder meine Aufgabe und recht unangenehm wegen dieser bekannten Grannen.

Nachdem nun Roggen und Weizen ausgedroschen war, wurde er zur Mühle (Reichensteiner Mühle  oder Bechermühle) gebracht. Dort erhielten wir statt Bargeld eine entsprechende Menge Gutscheine die wir im Verlauf des Jahres beim Bäcker gegen Schwarzbrot oder Weizenmehl eintauschten. Weißbrot (Blatz) buk meine Mutter selber aus dem Weizenmehl.

Den Abschluß der Erntearbeit bildete im Herbst die Kartoffelernte. Wir Kinder bekamen „Kartoffelferien“ und waren willkommene Helfer auf den Kartoffeläckern der näheren Umgebung. Dabei war eine Entlohnung mit Geld unüblich. Für uns war es das Größte, wenn die Bauersfrau den „Kaffee brachten“. Dann wurde auf dem Acker Pause gemacht und man setzte sich zusammen. Man aß die gut belegten Wurst- und Schinkenbrote und trank dazu den dampfenden Kaffee. Nirgends hat es mir jemals so gut geschmeckt wie damals auf dem Felde! Meistens durften wir dann auch noch beim jeweiligen Nachbar zu Abend essen, was für uns Kinder ein besonderes Erlebnis war, denn komischerweise schmeckte es uns anderswo immer besser als am heimischen Tisch.

Das lief bei mir alles so nebenher. Natürlich hatte unsere eigene Kartoffelernte Vorrang. Meistens spannte mein Vater unsere Kühe vor den Pflug und pflügte die Kartoffeln Furche für Furche aus. Mit dem „Kaarscht“ (dem Dreizahn) wurden sie dann aus dem Boden gescharrt. Während Vater und Mutter mit dieser Arbeit beschäftigt waren, mußte ich die Kühe am Zaum festhalten. Wurde das Kartoffelstroh verbrannt, nahm ich die Gelegenheit war, um mir ein paar frische Kartoffeln im Feuer zu garen. Ein absoluter Höhepunkt der Kartoffelernte.

So produzierten wir damals fast alles selber, was wir zum täglichen Lebensunterhalt benötigten. Vom Milchgeld wurden dann die anderen Auslagen bestritten. Es war halt eine genügsame Zeit. Wir waren wohl nach heutigen Verhältnissen eher „minderbemittelt“. Doch damals lebte bei uns kaum jemand „auf großem Fuß“. Aber Unzufriedenheit oder dergleichen kannte man nicht. Ich habe jedenfalls nie gehört, dass meine Eltern in dieser Hinsicht geklagt hätten. Richtigen Hunger haben wir ja Gott sei Dank nie zu spüren bekommen. Selbst in den schlimmen Hungerjahren nach dem 2.Weltkrieg, als tausende Menschen aus den Städten aufs Land zogen um zu „hamstern“, wobei sie oft genug unseren  leeren Kartoffelacker nach liegengebliebenen Kartoffeln absuchten, herrschte bei uns keinen Mangel. Doch davon mehr in einem der nächsten Kapitel. (Doch „das ist eine andere Geschichte“ - würde Kiepling sagen).

Wie sich unschwer erkennen läßt, verlief meine Kindheit in geregelten Bahnen, - von Vater und Mutter, besonders natürlich von meiner Großmutter wohlbehütet. Zur Oma hatte ich ja eine sehr enge Beziehung. Hatte ich irgendein Problem, ging ich damit zur Oma. Sie hielt auch dann ihre schützende Hand über mich - was erziehungsmäßig natürlich nicht immer in Ordnung war -, wenn ich etwas „ausgfressen“ hatte, und meine Eltern mir mit Strafe drohten. Dieses alles war, wie man heute sagen würde, eingebettet in’s dörfliche Idyll. Als Einzelkind war ich ständig umsorgt von meiner Familie. Diese Fürsorge war wohl für mich manchmal etwas erdrückend. Suchte man doch ständig alle großen und kleinen Übel, die das Leben auch in jungen Jahren schon so mit sich bringt, von mir fern zu halten. Ich befand mich also auf dem besten Wege, ein egoistischer, ja egozentrischer lebensuntüchtiger Mensch zu werden, den im späteren Leben der kleinste Sturm entwurzelt hätte.

Doch Gott hatte es dann doch wohl anders mit mir vor. Er unternahm eine schmerzliche „Kurskorrektur“. Diese Korrekturen, - wie ich sie mal nennen möchte, hat er später noch öfter bei mir gehandhabt. Sie waren immer mit Schmerz und Leid verbunden und aus meiner (beschränkten) Sicht stets unbegreiflich. Im Rückblick erwiesen sie sich allerdings als notwendig und richtig für meinen Lebensweg. Ich sage es hier klar und deutlich: Keinen Tag dieser, für mich  schlimmen Zeiten möchte ich missen oder ungeschehen machen. Diese dunklen Tage haben mich belastbarer gemacht und mir geholfen, mein Innerstes besser zu erkennen. Konfuzius hat einmal gesagt. „Schmerz macht denken, denken macht weise, weise macht glücklich". - Er hatte Recht!

Das Ende dieser unbeschwerten Kindheit war für mich gekommen, als im Mai 1948 meine Mutter starb. Es war wohl das einschneidende Ereignis meines Lebens. Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Ich hatte draußen etwas gebastelt und zeigte es meiner Mutter durch das geöffnete Fenster. Sie bewunderte es lächelnd von ihrem Bett her. Ihr Bett stand damals wegen ihrer fortschreitenden Krankheit in unserem so genannten Gästezimmer. Kurz darauf hat sich ihr Zustand dann wohl dramatisch verschlechtert. Bei uns war damals meine älteste Cousine Maria Sturm aus Söntgerath. Sie kam die letzten Wochen immer wieder vorbei, versorgte den Haushalt und auch meine Mutter. Auch jetzt war sie bei ihr. Mein Vater hatte wohl unserem Pastor Schiffer für den Versehgang Bescheid gegeben, aber seine Ankunft dauerte ihm anscheinend zu lang. Er schickte mich also deshalb mit dem Fahrrad los, um den Pastor zur Eile zu mahnen. Im „Krützerbösch“ erreichte ich ihn samt seinen beiden Messdienern. Man war ja zu Fuß unterwegs. Nachdem ich meine Bitte zur Eile ausgesprochen hatte, radelte ich schnellstens wieder nach Hause. Als ich dort ankam war meine Mutter bereits tot.

In jungen Jahren hatte sie Lungen-Tuberkulose bekommen. In damaliger Zeit eine weit verbreitete Krankheit. Sie wurde auch als „Schwindsucht“ bezeichnet. Mutter war dann auch einmal in der Lungenheilstätte zu Rosbach an der Sieg. Wahrscheinlich hat sich der Tuberkel-Bazillus dann verkapselt, - die einzige Heilmethode, wenn überhaupt, zur damaligen Zeit. Gegen Ende des Krieges 1945 muß die Krankheit aber wieder ausgebrochen sein. Sie hatte ständigen Husten mit schleimigem Auswurf. Es wurde mit der Zeit immer schlimmer. Die letzten Monate konnte sie kaum noch liegen, weil sie dann keine Luft mehr bekam. So verbrachte sie die Tage und Nächte halb sitzend im Bett. Trotzdem habe ich sie kaum klagen hören. Nur einige Male habe ich sie dabei ertappt, wie sie still vor sich hin weinte. Die Ansteckungsgefahr war groß und so war der Austausch von Zärtlichkeiten zwischen meiner Mutter und mir sehr gering, was ich bis heute noch als sehr schmerzlich empfinde.

Vater und ich standen wegen der Ansteckungsgefahr deshalb auch ständig unter ärztlicher Kontrolle. So wurden wir alle halbe Jahre beim Kreis-Gesundheitsamt in Siegburg „durchleuchtet“. Einmal herrschte große Aufregung, denn man sagte dort nach einer erfolgten Untersuchung, es habe sich bei mir ein „Herd“ gebildet, worunter ich mir nun aber überhaupt nichts vorstellen konnte. Ein Herd war für mich ein Ofen zum kochen. Das es sich hier um einen Krankheitsherd, - und zwar einen sehr gefährlichen, - gehandelt hat, habe ich erst viel später herausbekommen.

Daß die Tuberkulose bei mir nicht zum Ausbruch gekommen ist, habe ich zum großen Teil wohl auch der guten Pflege, (sprich: dem fetten Essen) zu verdanken, welches ich dann immerfort vorgesetzt bekam. Dafür sorgte vor allem die Schwester meines Vaters - Tante Maria aus Wellerscheid. Sie war ja eine examinierte Krankenschwester. Auf ihren Rat hin bekam ich die Butter förmlich auf ’s Brot „gelegt“, musste die äußerst fette Milch unseres Mutterschafes trinken, und man sparte auch sonst bei mir nicht an fetten und kalorienreichen Speisen. Denn Fett - das wußte man -, bekam dem Krankheitserreger nicht. Irgendwie hat es dann auch wohl geholfen, denn ich habe später nie wieder etwas von einem „Herd“ bei mir gehört.

Der Schmerz über den Tod meiner Mutter wurde jedoch für mich dadurch etwas gemildert, als dass meine Oma ja noch da war. Ihre Gesundheit hatte allerdings in den letzten Jahren auch sehr nachgelassen und sie hatte oft Herzbeschwerden. Trotzdem war sie mir immer noch ein großer Halt. Ich erinnere mich noch genau, daß ich beim Begräbnis meiner Mutter zusammen mit Vater am Grabe stand, um Abschied zu nehmen und nicht geweint habe. Später war ich sogar richtig stolz darauf, mich wie ein „Mann benommen zu haben“, wie ich damals dachte. Das Weinen um sie habe ich in den späteren Jahren vielfach nachholen müssen! Aber auch die Oma sollte mir nicht mehr lange erhalten bleiben. Sie verstarb im selben Jahr noch - am Morgen des Allerheiligentages in ihrem Sessel in unserer Wohnstube.

Nach dem Tode meiner Mutter war es nun von Nöten, jemand zu haben, der unseren Haushalt versorgte. Meine Cousine Maria hatte meinem Vater von einer Frau in ihrer Nachbarschaft erzählt, die mit ihrem kleinen Sohn in einer engen Mansardenwohnung ziemlich erbärmlich hauste. Sie war wohl ausgebombt in Köln und hier auf ’s Land verschlagen worden. Nachdem ihr mein Vater den Vorschlag unterbreitet hatte, zu uns nach Klein-Oberholz umzusiedeln, ging alles sehr schnell. Bald hatten wir ihre paar Habseligkeiten auf einen Handwagen geladen und so zog Frau Bohlen (wie ich sie auch später immer genannt habe) mit ihrem 5jährigen Sohn Erwin bei uns ein. Sie schliefen beide im unteren Schlafzimmer – dem bekannten Gästezimmer. Mein Vater hatte oben auf dem „Söller“ sein Schlafzimmer und ich schlief wie bisher in der Kammer neben der Stube.

Fortan versorgte nun Frau Bohlen unseren Haushalt. Im Gegenzug hatte sie und ihr Sohn bei uns freie Kost und Unterkunft, wie man so sagt. Bares Geld konnte ihr mein Vater sowieso nicht zahlen, denn das war rar bei uns. Von der Gemeinde erhielt sie ein paar Mark Unterstützung. Es war ja die Zeit gleich nach der Währungsreform. Jeder mußte mit einem „Kopfgeld“ von 40.00 DM neu anfangen. Frau Bohlen besaß die seltene Gabe, mit den geringsten Mitteln und den unmöglichsten Zutaten ein schmackhaftes Essen auf den Tisch zu bringen. Ich denke an sie nur mit allergrößter Hochachtung und Dankbarkeit.

Durch ihren Sohn Erwin erhielt ich nun auch den lange ersehnten Spielkameraden. Bedingt durch den Altersunterschied - er war 5, ich 12 Jahre alt -, war er für mich so etwas wie ein kleiner Bruder, der dem größeren zu parieren hatte. Erwin war von einer entwaffnenden Vertrauensseligkeit. So glaubte er mir jeden „Bären“ dem ich ihm aufband. Meine Spezialität waren Gespenster, welche sich angeblich in unserem Hause aufhielten und dunkle Gestalten, die sich im nahen Wald umher trieben. Später stieß dann noch Karl-Heinz Siebertz zu uns. Gemeinsam heckten wir nun Streiche aus. Nach Schule und Hausaufgaben - wenn keine Arbeitsanforderungen meines Vaters vorlagen - zogen wir in den Rokenbusch. Mit der Errichtung von diversen Burgen und prachtvollen Laubhütten verbrachten wir herrliche Stunden im Wald.

Das alles ließ die schmerzlichen Verluste bei mir etwas verblassen. Nach einigen Jahren ist dann Frau Bohlen mit Erwin ausgezogen. Es wurde ja auch allmählich recht eng in unserem Haus, denn Erwin wurde größer und beanspruchte ein eigenes Zimmer. Die beiden bekamen eine Wohnung in Nieder-Wennerscheid. Später zogen sie dann wieder nach Köln. Wir hatten danach kaum noch Kontakt miteinander. Erwin hat eine Lehrerin geheiratet. Die Ehe der beiden wurden aber später geschieden. Erwin hat wohl einen Schulbus gefahren und er arbeitet auch als Reiseleiter und Busfahrer bei Auslandsreisen. Ich habe aber sehr lange nichts von ihm gehört.

Nun folgten ein paar schlimme Jahre. Ich hatte 1951 eine Lehre als Postjungbote beim Postamt Hennef/Sieg angetreten. Mein Vater und ich lebten und wohnten  ab jetzt allein in unserem Haus. Glücklicherweise hatte Vater einige Kochkenntnisse und war auch sonst in der Haushaltsführung etwas bewandert. Der Speiseplan bewegte sich so zwischen „Melech-Erpels-Wärmt“ (Kartoffelsuppe)„Tipp-Erpel“ (Pellkartoffeln mit Rahmtunke oder Heringen) Bratkartoffeln oder der vorhin schon erwähnten „Flötstöcke“. Dann natürlich das rheinische „Himmel und Erd“. Auch Gemüse aus unserem Garten, und Eintopf-Suppen in allen Variationen. Die anfallende Hausarbeit wurde zwischen uns aufgeteilt. So war es meine Aufgabe, des Samstags die Wohnung zu putzen. Nebenher waren die Kühe zu versorgen. Mein Vater hatte Arbeit bei der damals gerade begonnenen Flurbereinigung gefunden und war tagsüber nicht zu Hause.

Morgens gegen fünf Uhr stand ich auf, um dann anschließend per Fahrrad nach Felderhoferbrücke (jetzt Bröleck) zu fahren. Von dort ging es dann mit dem Bröl-Bähnchen, (dem „Feurigen Elias“) nach Hennef. Mein Vater stand ebenfalls dann ebenfalls auf, bereitete das Frühstück und schmierte mir die Butterbrote für den Tag. In dieser Beziehung ließ er es mir an nichts fehlen. Doch wenn zwei Männer so zusammenleben, sind Konflikte und Reibereien sozusagen vorprogrammiert, zumal ich mich im Pubertätsalter befand. Unsere Nerven müssen wohl, - situationsbedingt, auch ziemlich strapaziert gewesen sein. Deshalb kam es auch immer öfter zu kleineren und größeren Meinungsverschiedenheiten, die sich dann manchmal zu einem handfesten Krach auswuchsen, bei denen auch nicht mit Kraftausdrücken gespart wurde. Es herrschte zwischen uns beiden fortwährend eine gereizte Grundstimmung. Eine sachliche Aussprache fand nicht statt und war wohl unter diesen Gegebenheiten auch nicht möglich, zumal unsere Charaktere in sehr verschiedene Richtungen zeigte. Das Leben hatte uns beide ja nicht gerade mit Samt-Handschuhen angefaßt. So entlud sich unser Frust, (dieses Wort kannte man damals aber noch nicht), in gegenseitigen Aggressivitäten.

Mitte der 50er Jahre lernte mein Vater dann eine Frau kennen, welche er kurze Zeit später auch heiratete. Er kannte sie übrigens aus seiner Jugendzeit. Sie hatte damals in Vaters Jugendzeit in einem Nachbarort gewohnt. Sie hatte auch in jungen Jahren geheiratet, war fortgezogen und beide verloren sich aus den Augen. Nun war ihr Mann inzwischen verstorben. Zwei Töchter und ein Sohn – alle drei inzwischen erwachsen, waren aus dieser Ehe hervorgegangen. Elisabeth Piel wohnte damals mit ihren beiden jüngsten Kindern in einem kleinen Ort im Oberbergischen. Lieschen zog also nach ihrer Heirat mit meinem Vater zu uns. Sie bekam Arbeit in der Groß-Näherei Baldus in Much .Sie fuhr dort täglich mit ihrem Mofa hin.

Nun begann sich unser Leben langsam wieder zu normalisieren. Für Ausgleich sorgte dabei meine zweite Mutter. Den Ausdruck „Stiefmutter“ möchte ich hier nicht gebrauchen, weil an ihm meines Erachtens etwas Negatives anhaftet. Vielleicht wegen der vielen bösen Stiefmüttern in den bekannten Märchen. Lieschen war da nämlich das genaue Gegenteil. Hatte ich Meinungsverschiedenheiten mit meinem Vater, stand sie auf meiner Seite. Da konnte sie manchmal ganz schön loslegen. Sie hat mich umsorgt als sei ich ihr leiblicher Sohn. Nie hat es zwischen uns ein hartes Wort gegeben.

Anfang der 60er Jahre, - ich hatte inzwischen ebenfalls geheiratet, sind die beiden dann  nach Lindlar umgezogen. Sie hatten dort ein kleines Häuschen nahe dem Ortszentrum gefunden. Sie lebten hier sichtlich zufrieden bis zum Tode meines Vaters im März 1972. Er bekam einen Herzinfarkt und man brachte ihn sofort ins nahe Lindlarer Krankenhaus. Dort ist er dann wohl des nachts aufgestanden um die Toilette aufzusuchen. Trotz striktem ärztlichem Verbot natürlich. Aber mein Vater war zeitlebens halt ein eigener Kauz, der sich manchmal recht wenig um solche Ge- und Verbote kümmerte. Da er keinen körperlichen Schmerz verspürte, dachte er wohl, es sei bei ihm alles wieder in Ordnung, aber leider war das gar nicht der Fall und er starb kurz danach. Lieschen zog später zu ihren Kindern und lebte dann bis zu ihrem Tode in einem Altersheim.

Am Samstag, den 22.Oktober heiratete ich in der Pfarrkirche zu Kreuzkapelle meine Frau. Ihr Name ist Rita und sie ist eine geborene Hoppe. Geboren ist sie in Dittersdorf, Kreis Neustadt in Oberschlesien. Ihr Vater Alexius heiratete, nachdem seine erste Frau gestorben war, Maria geborene Wottke, die Mutter meiner Frau. Mein Schwiegervater hatte aus erster Ehe drei Söhne und eine Tochter. Die Söhne hießen Josef, Georg und Gerhard. Die Tochter hieß Maria und war die Zwillings-Schwester von Gerhard. Josef und Georg sind im 2.Weltkrieg als vermißt gemeldet.

Gerhard kam nach dem Krieg nach hier und heiratete später Hedwig Söntgerath aus Oberhausen. Er übernahm dort den elterlichen Betrieb seiner Frau und brachte ihn mit viel Fleiß zu einem blühenden Anwesen. Seine Schwester Maria heiratete Gregor Faltau. Er stammte aus Pommern. Sie erbauten ein Haus in Erftstadt-Friesheim. Gregor ist inzwischen verstorben.

Meine Schwiegereltern besaßen in Dittersdorf einen mittelständischen landwirtschaftlichen Betrieb, der nach damaligen rheinländischen Maßstäben wohl als fortschrittlich zu bezeichnen ist. Ich glaube, sie waren uns damals in Schlesien ein gutes Stück in der Zeit voraus. So waren dort gepflasterte Hofanlagen ortsüblich. So etwas konnten nur einige wenige sehr wohlhabende Bauern bei uns aufweisen. Selbsttränke-Anlagen in den Ställen waren bei uns Fremdworte. Jedes landwirtschaftliche Anwesen besaß dort ein sogenanntes „Auszugs-Haus“. Er diente der älteren Generation als Ruhesitz, wenn Sohn oder Tochter den Betrieb übernahm. Mein Schwiegervater starb kurz nach der Geburt meiner Frau am Herzschlag. Nun lag die Bewirtschaftung des großen Betriebes ganz allein in den Händen meiner Schwiegermutter. Dazu kam die Erziehung der 5 Kinder. Es gab noch eine Tante im Haus. Es war die Schwester meines Schwiegervaters und sie war unverheiratet. Da sie aber immer kränkelte und wohl auch einen angeborenen Herzfehler hatte, kam für sie nur die Kinder-Betreuung in Frage. Das muß für meine Schwiegermutter eine äußerst harte Zeit gewesen sein. Dann, als bei Kriegsende 1945 die Russen einmarschierten, wurden sie von Haus und Hof vertrieben und meine Schwiegermutter musste mit ihren beiden Töchtern fliehen. Nur das allernotwenigste konnten sie mitnehmen. Meine Frau war damals acht Jahre alt. Eingereiht in lange Flüchtlings-Trecks gelangten sie dann nach Atteln bei Paderborn in Westfalen. Gerhard war inzwischen bei uns im Rheinland seßhaft geworden. Durch seine Vermittlung fand Rita nach ihrer Schulentlassung eine Arbeitsstelle beim Landwirt Peter Schneider und seiner Frau Maria aus Feld. Das Ehepaar Schneider war kinderlos und sie sahen, - ihr Alter vorausschauend, - in Rita wohl eine Art Tochterersatz. Der Lohn in Form von Bargeld war sehr gering, schließlich waren die Zeiten hart und als Flüchtling war man damals froh, ein Dach über dem Kopf und satt zu essen zu haben.

Rita mußte alle anfallenden Arbeiten verrichten. In Küche, Stall und auf dem Felde wurde ihr nichts geschenkt. Ich vergesse nie den Tag, als ich auf meiner Briefträger-Tour mit meinem Fahrrad am Steckrübenacker vorbeikam, auf welchem Rita die Futterrüben zog. (Eine beliebte Nachfolge-Frucht für die Kühe). Es war herbstlich, bitterkalt und es fiel ein leichter Nieselregen. Da hat mir Rita so leid getan - ich kannte sie ja schon -, dass ich damals bei mir geschworen habe: Das brauchst Du nie wieder zu tun, wenn ich Dich einmal geheiratet habe.

Jetzt muß ich aber noch erzählen, wie ich Rita kennengelernt habe. Albert Schweitzer hat einmal gesagt: „Zufälle sind das Pseudonym Gottes, wenn er nicht mit seinem Namen unterschreiben will“. Das hier war also auch so ein „Zufall“. Natürlich war Rita meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Wenn man damals in der Kirche oder auch anderswo plötzlich ein fremdes Mädchen sah, wurde man als 17jähriger natürlich neugierig. Ich bekam also ziemlich schnell heraus wie sie hieß und wo sie wohnte. Mehr war aber nicht, lediglich daß wir uns beim Kirchgang sonntags sahen und uns wohl auch kurz grüßten.

Ich war nämlich den Mädchen gegenüber sehr schüchtern und massenhaft mit Komplexen überladen. Durch meine Mitgliedschaft im Tambourcorps Kreuzkapelle (davon mehr in einem anderen Kapitel), kam es nach unseren jeweiligen Auftritten natürlich dazu, daß wir uns im Saal oder Festzelt zusammensetzten. Nachdem wir uns dann genügend Mut angetrunken hatten, holten wir uns die anwesenden Mädchen zum Tanzen. Bei mir war das Tanzen eine reine Glückssache. Ich hatte keinen - wie einig von unserer Gruppe - Tanzkursus besucht, und so waren schmerzverzerrte Mädchengesichter bei mir an der Tagesordnung, wenn ich meiner Tanzpartnerin gerade mal wieder auf den Füßen herumtrampelte. Komischerweise bekam ich aber nie die Gelegenheit, mit Rita zu tanzen. Die Schneiders handhabten die Aufsichtspflicht ihr gegenüber ziemlich streng. Demzufolge besuchte Rita auch kaum Tanzveranstaltungen. Die Zeiten waren in dieser Hinsicht halt damals wesendlich anders als heute.

Aber dann kam das Schützenfest 1954 in Kreuzkapelle. Es war am Abend des Kirmes-Sonntags. Wie üblich, stand unsere Horde vom Tambourcorps an der Theke im alten Herrenteich-Saal. Eben war wieder eine Runde Bier angekommen, als Günter Gräfrath zu mir sagte: „Eckhard, hast du das gesehen? Eben ist auch die Rita da an der Tür hinaus gegangen. Sie hatte vorher nach dir gefragt“. Ich war platt! Ich hatte sie an dem Abend noch nicht einmal wahrgenommen. Und daß sie nach mir gefragt haben sollte, kam mir auch ziemlich spanisch vor. Daß an der ganzen Sache überhaupt nichts dran war, und Günter sich lediglich einen Jux mit mir erlauben wollte, kapierte ich aber trotzdem nicht.

Ich ließ also das frisch gezapfte Bier stehen und rannte durch den langen Gang zur Tür. Und da vorne ging Rita tatsächlich im Dunkeln Richtung Straße. Ich ihr nach - begrüßte sie kurz, nahm allen Mut zusammen und erkundigte mich ziemlich atemlos, warum sie denn nach mir gefragt habe. Rita war natürlich ganz überrascht und dann begriff ich den Schabernack von Günter. Nachdem ich ihr nun den Sachverhalt erklärt hatte, machte ich aus der Not eine Tugend, (wie man so sagt), und fragte sie, ob ich sie denn ein Stück begleiten dürfe, weil ich ja nun schon mal da wäre?

Sie deutete an dass sie wohl nicht dagegen hätte und erzählte mir, sie sei mit ihrem Bruder Gerd und dessen Frau im Gasthaus Schönenbrücher gewesen und auf einen Sprung zum Herrenteich herunter gekommen. (Zufall!) Ich ging also mit ihr bis zu Schönenbrüchers Lokal und brachte es dann doch noch glatt fertig, mich mit ihr für kommenden Sonntag zu einer Radtour zu verabreden. Ich bin dann zum Herrenteich zurück mehr geflogen als gegangen. Schlagartig hatte mein Leben eine neue Perspektive bekommen. Ich war einfach glücklich!

Am Samstag, den 22.Oktober 1960 heirateten wir in der Pfarrkirche zu Kreuzkapelle. Aber bis dahin war es noch ein langer und beschwerlicher Weg für uns beide. Ich will ihn hier nur kurz skizzieren. Noch im Herbst 1954 trat Rita eine Stelle im Mucher St.Josefshaus an. Dort arbeitete sie mit vielen anderen Mädchen zusammen in der Küche. Nebenbei erlernte sie so auch das Kochen. Für die Nonnen des Klosters natürlich billige Arbeitskräfte, denn außer Kost und Logis erhielten die Mädchen nur ein geringes Taschengeld. Zu meinem größten Kummer aber waren die Ausgangs- und Freizeiten für Rita streng limitiert und reglementiert, - wie das bei den Ordensschwestern  damals so üblich war. Wir konnten uns deshalb sehr selten sehen.

Nach diesem „Kloster-Küchen-Jahr“ in Much nahm Rita eine Stelle als Hausgehilfin bei einem kinderlosen Zahnarzt-Ehepaar in Troisdorf / Friedrich-Wilhelmshütte an. Hier waren die Gelegenheiten für gemeinsame Stunden auch ziemlich gering. Es blieben nur ein bis zwei Sonntage im Monat. Die waren aber vielfach auch noch abgekürzt, wenn Werners des Sonntag-Nachmittags Besuch erhielten.

So kam es dann oft vor, daß ich mit meiner alten „200er Viktoria“ umsonst zur „Hütte“ fuhr, um Rita nach Wohlfarth abzuholen. Dort hatte meine Schwiegermutter im Hause von Theo Haas inzwischen eine kleine Wohnung gefunden. (Das Haus wurde vor einigen Jahren abgerissen, nachdem das Ehepaar Haas kinderlos verstarb). Jedenfalls hat das alles unserer Liebe keinen Abbruch getan. Wir sind beide noch glücklich miteinander. Ich liebe meine Frau noch genau so wie am ersten Tag - (und ich glaube, sie mich auch).

1964 wurde unsere Monika geboren und 1969 unsere Birgit. Monika bekam mit 15 Jahren starke Depressionen, von denen sie sich nie mehr ganz erholte. Es kam für sie zu einem Aufenthalt in der Jugend-Psychiatrie des Bonner Landeskrankenhauses. Einige Jahre ging es gut. Im Dezember 1983 wurde sie aber wieder wegen einer starken Psychose dort eingewiesen. Inzwischen hatte Monika die höhere Handelsschule in Siegburg mit großem Erfolg absolviert und eine Stelle im Verkehrs-Ministerium in Bonn / Bad Godesberg angetreten. Sie war aber nicht glücklich dort. Am 23. Oktober 1984 stürzte sie sich aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers aus dem 7.Stock in den Tod. Der größte Schmerz meines Lebens und unvergänglich.

Unser Birgit absolvierte nach dem Besuch der Mucher Realschule ebenfalls die Höhere Handelsschule in Siegburg. Sie arbeitet nun  bei der Bewährungshilfe am Amtsgerichts Siegburg. Vor einigen Jahren hat sie in der Nachbargemeinde Seelscheid eine eigene Wohnung bezogen um auf eigenen Füßen zu stehen. Sie ist eine gute Tochter!

Ich musste mich im Oktober 1990 einer schweren Darmkrebs-Operation im Krankenhaus Waldbröl unterziehen. Ich erhielt einen Anus praeter, (ein künstlicher Darmausgang) - war somit nicht mehr arbeitsfähig und befinde mich seit dieser Zeit in Rente. Meine Tage sind ausgefüllt mit Arbeit in Haus und Garten. Beim Bläsercorps Much und bei den Kameraden von Borussia Leverath finde ich seit über 40 Jahren Freude und Entspannung. Dazu kommt meine Mitarbeit in unserer Pfarrgemeinde Kreuzkapelle, - speziell in der Pfarrbrief-Redaktion. Mein großes Hobby ist seit einigen Jahren ein Computer. Davon hätte ich noch vor ein paar Jahren nicht zu träumen gewagt. Aber wie es so geht. Zufällig (!) bekam ich von meinem Bläser-Kameraden Stefan Willms einen alten „XT“ leihweise ins Haus, den er nicht mehr benutzte.

Skeptisch begann ich, ackerte einen Stoß Bücher durch, und  merkte bald, daß mich die Sache total faszinierte. Eine ganz neue Welt tat sich vor mir auf. Inzwischen habe ich mir  einen moderner PC angeschafft und  schreibe  auf diesem Ding also jetzt meine sogenannten Memoiren, fühle mich gesund, bin glücklich, mit mir und der Welt zufrieden und freue mich auf jeden neuen Tag. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass mein ganzer Lebensweg nur mit Gottes gütiger Hilfe so zustande gekommen ist.

Und so wird auch mein künftiges Leben weitgehend davon bestimmt sein, ihm für alles zu danken, in seinem Sinne für andere da zu sein und mich des Lebens zu freuen!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Das Elternhaus

Mein Elternhaus, welches ich mit meiner Familie bis zum heutigen Tage bewohne, und - so Gott will - bis an mein Lebensende bewohnen werde, wurde von meinem Großvater erbaut. Er war ja, wie ich bereits im ersten Kapitel erwähnt habe, von Beruf Zimmermann. Nach meinen Überlegungen und Berechnungen muss es wohl so um das Jahr 1895 entstanden sein. Der älteste Teil hat wahrscheinlich zuerst in Söntgerath gestanden. Dort hat es mein Großvater, wie es damals oft üblich war, gekauft, dann Balken für Balken auseinander genommen und hier am jetzigen Platz wieder zusammengefügt und neu errichtet.

Das Haus bestand zuerst nur aus zwei Zimmern. In der Mitte befand sich die Haustür. Man betrat durch sie einen ziemlich geräumigen Flur - fast schon von mittlerer Zimmergröße. Die beiden Zimmer links und rechts wurden vom Flur getrennt. Der Flur wurde bei uns ständig „die Küche“ genannt. Wohl auch deshalb, weil meine Eltern den Kochherd, der sich in der „Stube“ befand, in den Sommermonaten hier in den Flur stellten, um der zusätzliche Hitzeentwicklung beim Kochen in unserer Wohnstube zu entgehen. Vom Flur aus gelangte man über die Treppe ins Obergeschoß. Die Wände stießen auf halber Höhe an die Dachschräge. Sie waren und sind deshalb abgeschrägt. Der Raum über der Treppe hieß „der Gang“. Rechts davon befand sich das Elternschlafzimmer. Es wurde „der Söller“ genannt. Links vom Gang war der Speicher. Im Flur unten führte rechts eine Tür in unsere Wohnstube, einfach „die Stube“ genannt. Hier spielte sich das tägliche Leben ab. Hier wurde gekocht und gegessen. Einige unserer Nachbarn besaßen noch ein zusätzliches Zimmer. Es war das so genannte „beste Zimmer“. Es glänzte - weil unbenutzt -, in „kalter Pracht“. Man betrat es nur ein- bis zweimal im Jahr, bei hohen Anlässen. Zum Beispiel, wenn auf seinem obligaten Neujahrsrundgang der Besuch des Pastors ins Haus stand. Das Zimmer links von unserem Flur war als Schlafzimmer eingerichtet. Es war das vorhin erwähnte „Gästezimmer“ und es wurde nur dann benutzt, wenn wir einen längeren Besuch bei uns hatten, was nicht selten vorkam. Später erhielt das Haus an seiner Rückseite (nördlich) einen Anbau. Auf der rechten Seite dieses Anbaues befand sich „die Kammer“. Es war das Schlafzimmer meiner Oma, in dem damals auch mein Bett stand. Die linke Seite diente in den frühen Jahren als Stall. Der Stall war vom Flur her durch eine Tür zugänglich. Dann hatte dieser „alte Stall“ noch eine Tür welche nach draußen führte. Sie befand sich auf der Westseite Richtung Scheune.

Die Scheune wurde zu einem späteren Zeitpunkt errichtet. Danach wurde der neue Stall rechts an die Scheune angefügt, wie man noch heute an der Balkenführung unschwer feststellen kann. Zwischen Haus und Stall befand sich die „Remise“. Sie hatte an ihrer Rückseite eine Lehm-Fachwerkwand. Nach vorne war sie offen. Hier wurden die landwirtschaftlichen Geräte wie die zweiräderige Karre, der Leiterwagen, Pflug, Egge, Kultivator usw. untergestellt. Auf den oberen Balkenverstrebungen unter dem Remisendach lagen einige lose Bretter. Hier befanden sich die Nester unserer Hühner zum Eierlegen. Wir hatten immer ein gutes Dutzend Hühner, nebst Hahn natürlich. Auch lief ständig - wie überall hier bei uns auf dem Lande - eine Glucke mit ihrem Nachwuchs umher. Viele besaßen - so auch wir - in den 40er Jahren ein Truthahnpärchen. Die Truthenne, wenn ich sie mal so nennen darf, eignete sich vorzüglich zum Ausbrüten von Hühnereiern. Und es machte der Pute auch später gar nichts aus, wenn sie dann mit Küken einer anderen Spezies durchs Gelände zog. Im Gegenteil, da war sie eine richtig, um ihren Nachwuchs besorgte Mutter. Der Truthahn war allerdings meistens ein richtiger Giftzwerg. Kam man ihm zu nahe dann plusterte er sich auf und sein Kamm nebst anderen Weichteilen, welche um seinen Kopf herum bammelten, wurden purpurrot. Dann wurde es Zeit, Reißaus zu nehmen. Eine Unart besaßen diese Puten allerdings schon. Sie suchten sich am Abend mit größter Vorliebe ihren Schlafplatz im Gebüsch am nahen Waldrand. Wir mussten sie also abends ständig von da herabscheuchen und den heimatlichen Gefilden zutreiben, denn die Füchse lauerten ja schon in Wartestellung.

Als ich zur Welt kam, war der „Alte Stall“, wie er später immer genannt wurde, schon nicht mehr benutzt. Er war inzwischen mehr oder weniger zu einer Art Rumpelkammer geworden. Allerdings auch ein für viele andere Zwecke genutzter Raum. Hier waren z.B. unsere Fahrräder untergestellt. Ferner waren hier die Briket aufgeschüttet, die wir zusammen mit den gespalteten Holzscheiten für die Herdfeuerung benötigten. Auch die  „Knollenmaschine“ nebst einem Vorrat an Runkelrüben, - der Rest befand sich ja im Keller, hatte hier ihren Platz. Mit ihr wurden die Runkeln schnitzelartig zerkleinert und dienten dann, wie bereits erwähnt, im Winter der Vieh-Fütterung.

Weiter hatte man von hier aus auch Zugang zu unserem Backofen, der aus schweren Bruchsteinen mit separatem Dach hinten an den Stall angefügt war. Auch die so genannte „Breikuhl“ hatte hier ihren Platz. Dann stand dort noch ein großes Holzfass. Es hatte aber weder Boden noch Deckel und es diente in den Wintermonaten als Rauchfang. Auf den Boden stellte man ein Metall-Behältnis mit glühenden Brikettstücken oder Kohlen. Darüber streute man nun Sägemehl. Das ergab einen würzigen Qualm. In dieses qualmende Fass wurden nun die Würste und Schinken gehangen. Das Ganze wurde mit einem leeren Kartoffelsack abgedeckt. Im Winter zog immer ein herrlicher Duft von Geräuchertem durch unser Haus.

Es standen auch dort zwei alte, ausrangierte Tische. In deren Schubladen befand sich allerlei Gerümpel. Diese Schubladen zogen mich als Kind immer wieder magisch an. Ich fand dort z.B. auch ein Paar alte Schlittschuhe. (Ein ständiger Wunschtraum von mir - die Schlittschuhe fehlten auf keinem Weihnachtswunschzettel). Leider waren sie mir aber viel zu groß. Probiert habe ich es aber trotzdem mit ihnen. Natürlich klappte es überhaupt nicht.

Nach heutiger Sicht hatte das Ganze wohl einen primitiven Anstrich. Doch für unsere Verhältnisse zur damaligen Zeit ließ sich hier durchaus effektiv arbeiten. Alle anfallenden, gröberen Hausarbeiten ließen sich so im „alten Stall“ verrichten, ohne dabei die „vier Wände“ verlassen zu müssen. Das hatte besonders wintertags seine großen Vorteile. Selbst der Backofen war von innen her zu bedienen, wogegen anderswo das „Backes“ meistens abseits vom Haus im freien Gelände stand. An der linken Hinterseite vom alten Stall, mit der Türseite zur Remise befand sich unsere Toilette. Wie damals so üblich, ein so genanntes „Plumpskloo“.

Unser Haus besaß also zwei Ein- bzw. Ausgänge. Wollte man zur Scheune, zum Stall oder zum Kloo, dann benutzte man meistens die hintere Flurtür und nahm dann den Weg durch die „Alte-Stall-Tür“ die wir übrigens auch so nannten. Das war bequemer als ums halbe Haus zu laufen. Die Stalltür war  fast nie verschlossen. Lediglich wurde des Abends die Flurtür zum Stall mit einem einfachen Riegel (einer „Schaaf“) zugesperrt.  In meiner Kindheit waren übrigens in den meisten Häusern tagsüber die Haustüren unverschlossen. Selbst wenn man sich außer Haus, - zum Beispiel im Garten aufhielt, blieb die Tür offen. In den letzten Kriegsjahren, als die Zeiten unruhiger wurden und mehr und mehr Fremde in die Dörfer kamen, trug man dem Sicherheitsbedürfnis Rechnung und verschloss auch tagsüber die Haustüren, wobei der Hintereingang auch dann meistens noch offen gehalten wurde.

Die Lehmwände unserer Fachwerkhäuser hatten, auch nach heutigen Maßstäben unübersehbare Vorteile. Heute errichtet man schon wieder hier und da Wohngebäude in dieser Bauweise, weil man deren umweltverträgliche und gesunde Qualität auf ’s neue erkannt und wieder entdeckt hat. Diese Fachwerkhäuser aus Balken und mit Stroh vermischtem Lehm besitzen trotz ihrer geringen Dicke eine starke Isolationswirkung. Im Sommer halten sie die Hitze von außen ab, wogegen im Winter die Wärme nicht nach außen dringt. Dank der nicht immer ganz dicht schließenden Türen und Fenster gab es keinen Wärmestau und die damit verbundene feuchte und schimmelnde Wände.

Zum anderen war die Errichtung eines solchen Fachwerkhauses natürlich sehr kostengünstig. Alle Materialien gab es ja in der näheren Umgebung. Das Holz für Balken usw. bekam man im eigenen Wald. Den Lehm („gelb wie Butter und fett wie Speck“ - wie es in unserem Schul-Lesebuch stand), holte man im nahen Rokenbusch. Zahlreiche noch jetzt vorhandene „Lehmkuhlen“ zeugen noch hiervon.

Ich möchte hier aber nicht den Bau eines solchen Fachwerkhauses beschreiben, obwohl mir das nicht schwer fallen würde. Es würde zu sehr den von mir gesteckten Rahmen sprengen. Im Übrigen sind heute zahlreiche Abhandlungen über dieses Thema erschienen und in der einschlägigen Literatur nachzulesen.

Unser Keller befand sich (und befindet sich noch) unter der Stube, der jetzigen Küche. Man erreichte ihn über eine Treppe vom Flur her. Um sich beim Abstieg nicht allzu sehr den Rücken verbiegen zu müssen, gab es über dem Kellereingang das so genannte „Kellerhäuschen“. Es ragte als zweistufiger Vorbau in unsere Stube, direkt neben dem Herd. Da es hier eine bequeme Sitzbank darstellte und zu diesem Zweck auch genutzt wurde, besaß dieses Kellerhäuschen in der Stube auch den Namen Ofenbank. Im Winter ein herrlicher Platz zum aufwärmen, wenn man durchgefroren von draußen kam. Oder man schob sich wahlweise entweder mit dem Oberkörper oder den Beinen in die Nische zwischen Herd und Ofenbank-Seite. Da lag man gebettet wie „in Abrahams Schoß“.

Aber ich war ja beim Keller. Hier wurden die Wintervorräte an Kartoffeln und Runkelrüben gelagert. Ferner standen in den Regalen die gefüllten Einkoch-Gläser. Deren Inhalt war vielfältig: Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen. Dann die Gläser mit Fleisch, Blut- und Leberwurst, Gartengemüse wie Busch- und Dicke Bohnen, Erbsen, Möhren, Rote Beete, (Wir nannten sie „Karoten“ - mit langem „o“) und vieles andere mehr. Auf diese Weise wurde alles Mögliche haltbar gemacht, denn die praktischen Kühltruhen gab es ja noch lange nicht. Das Eingeweckte hielt sich manchmal jahrelang. So ein bruchsteingemauerter Keller hält ja Sommer wie Winter seine gleich bleibend kühle Temperatur mit konstanter Luftfeuchtigkeit und das trägt natürlich auch zur Langzeitlagerung bei.

Da standen also auch noch zwei hohe, braun glasierte Steintöpfe. Der ein Topf wurde mit „Sauren Bohnen“, der andere mit „Suure Kappes“ (Sauerkraut) gefüllt. Sauerkraut entstand, indem man die  geernteten Weißkohl-Köpfe auf einer Krauthobel „Kappes-Schaaf“ (einer Krauthobel) auf dünne Streifen schnitt oder schabte, diese dann mit Salz, Zwiebeln und Wacholderbeeren mischte und im Steintopf feststampfte. Darauf kam ein runder Holzdeckel den man noch zusätzlich mit einem dicken Stein beschwerte. Die Bohnen ereilte dasselbe Schicksal. Sie wurden natürlich nicht mit der Kappesschaaf behandelt sondern mit der Hand. Das nannte man „Bonnen-Fitschen“. Es war ein gesunder vitaminreicher Wintervorrat, der oft noch bis in’s späte Frühjahr langte. Die Butter und andere leichtverderbliche Lebensmittel wurden - besonders in den Sommermonaten -, ebenfalls im Keller aufbewahrt, da ja der Kühlschrank fehlte. Das alles erforderte natürlich des Öfteren einen Gang in den Keller.

Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen. Unterhalb der Kellertreppe, in einer Mauernische stand jene berühmt-berüchtigte Flasche mit Lebertran. Für uns Kinder das obligate Heil- und Lebenselixier schlechthin. Ich schüttele mich noch heute, wenn ich an seinen unverkennbaren Geschmack denke. Obwohl ich heute anders über diesen „Wundertrank denke und urteile, hatte man als Kind halt ein anderes Verständnis für diese notwendigen Dinge. Jedenfalls war es für mich eine sich täglich wiederholende Tortur, wenn mir meine Mutter den Löffel Lebertran verabreichte. Auch mein ständiges Lamentieren und protestieren half da nichts, der Löffel wurde geschluckt! Ob es geholfen hat - ich weiß es nicht, wahrscheinlich doch.

Der Keller war dann aber auch unsere Zuflucht, als Anfang April 1945 die Kriegsfront heranrückte und die amerikanischen Truppen im Anmarsch waren. Nachdem mein Vater den Keller mit Brettern, Matratzen und Decken etwas „wohnlich“ eingerichtet hatte, verbrachten wir dort die Nächte bis dann der Krieg für uns ein Ende hatte. In der letzten Nacht vor dem Einmarsch der Amis erlebten wir pausenlosen Artillerie-Beschuss. Ihre Stellungen lagen direkt hinter Birrenbachshöhe in Richtung Löbach. Sie hatten es mit Ihrem Beschuss offensichtlich auf die Straßenkreuzung in Wohlfarth abgesehen, hielten aber immer zu kurz und trafen deshalb hauptsächlich den oberen Bereich unseres Dorfes und wir lagen somit direkt im „Einzugsgebiet“ der feindlichen Granaten. In dieser letzten Nacht vor unserer Befreiung habe ich zum ersten Mal  Todesangst verspürt und ausgestanden. Wir erlebten auch den Krieg zum ersten Mal so richtig hautnah. Eine Granate verfehlte unser Haus um Haaresbreite und explodierte genau vor unserem Scheunentor. Wäre ihr Flugweg ein paar Meter kürzer gewesen, wäre sie wohl als Volltreffer mitten in unserem Keller gelandet - und ich würde -, nebenbei bemerkt, jetzt nicht hier sitzen und diese Zeilen schreiben. Doch davon ausführlicher in einem anderen Kapitel.

Also zurück zum Haus. Unter der Treppe im Flur befand sich, mit dicken Bolzen im Zementbogen verankert, unsere gusseiserne Zentrifuge, („de Fuuß“). Mit ihr wurde die Milch entrahmt und sie stand damals in vielen landwirtschaftlichen Haushalten. Mittels drehen an einer Kurbel wurde die Milch dank großer Zahnrad-Überetzungen im Inneren der Zentrifuge in eine hohe Schleuderbewegung gebracht. Durch diese entstandene „Zentrifugalkraft“ wurde dann der Rahm von der Milch getrennt. Zurück blieb die Magermilch. Der so gewonnene Rahm kam in eine „Kien“ (ein Butterfass., Dann wurde wieder die Kurbel gedreht, bis sich der Rahm zu einem Klumpen goldgelber Butter verfestigt hatte. Das Kurbeldrehen durfte ich meistens verrichten.

In den letzten Kriegsjahren wurde diese private Seite der Milchverwertung aus „volkswirtschaftlichen Gründen“ verboten und unter schwere Strafe gestellt. Die Milch musste bis zum letzten Tropfen abgeliefert werden. Um jede verbotswidrige Handlung ein für allemal auszuschließen, wurden als zusätzliche Maßnahme alle Butterfässer und die Kurbeln der Zentrifugen eingezogen. Ich glaube, man lagerte das alles im Steimels Saal zu Wohlfarth unter strengem Verschluss. Doch man wusste sich auch hier zu helfen. Rahm lässt sich ja bekanntlich abschöpfen. Nachdem man auf diese Art und Weise genügend gesammelt hatte, wurde der Rahm mit einem kleinen Besen aus geschältem Birkenreisig umgerührt bzw. geschlagen. Das Ergebnis war dasselbe: - goldgelbe Butter. Aber man durfte sich natürlich nicht erwischen lassen.

Bei uns gab es auch so eine Art „Zentralheizung“. Das Ofenrohr unseres Herdes führte durch die Zimmerdecke hinauf zum Söller. Hier vollführte es einen großen Bogen bevor es im Kamin verschwand. Der Schornstein befand sich auf dem Gang. So war das Schlafzimmer meiner Eltern in den kalten Wintermonaten immer angenehm temperiert, sofern sich unser Herd in Betrieb befand. Die Kamme neben der Wohnstube hatte ebenfalls eine indirekte Wärmequelle. Man hatte in die Wand zur Kammer eine große Blechplatte eingelassen. Genau hinter dieser Platte befand sich der Herd. Die Herdwärme strahlte so durch das Blech in die Kammer. Das alles ergab natürlich keine großen Temperaturen, aber zum Schlafen bei strenger Winterkälte, mit einem dicken Plümo, über die Ohren gezogen, war das schon ganz angenehm. Man arbeitete damals also auch schon „mit Köpfchen“, wobei ich hier zu wissen glaube, dass mein Opa ein erfindungsreicher Mann gewesen sein muss.

Unser Fachwerkhaus hatte übrigens eine Holzverkleidung, was  nicht allgemein üblich war. Sie bestand aus Hobelbrettern, über deren Nahtstellen man zusätzlich Latten gezogen hatte. Das sah nicht nur gut aus sondern schützte das Lehm-Fachwerk auch nachhaltig vor Witterungseinflüssen. Allerdings war das, besonders heute wieder als romantisch-nostalgisch geschätzte Fachwerk den Blicken entzogen. Aber Fachwerk­häuser waren ja damals, nicht wie heute, eine Rarität, sondern die Regel.            

Heute wird ja so ein altes, gut erhaltenes Fachwerkhaus mit bewundernden Blicken bedacht, (wie wir es oft genug bei unserem Haus erfahren können, - und worauf ich übrigens ganz schön stolz bin). Gibt es doch meinen frühen Vorstellungen Recht, als ich bei der Renovierung die alte Bausubstanz wieder hervorholte. Der Zeitgeist war ja in den 50er Jahren ein ganz anderer. Man wollte „städtischer“ erscheinen, riss deshalb die alten Fachwerke ab und baute neue Häuser im so genannten „Bungalow-Stil“. Wem das zu kostspielig war. der vernagelte sein „unmodernes“ Fachwerk mit diesen grausamen „Eternit-Platten“. Diese Leute hatten übrigens später noch Glück, denn auf diese Weise konnte so manches herrliche alte Fachwerkhaus vor der endgültigen Vernichtung bewahrt werden.

 Ein altes Sprichwort sagt: „Wer am Wege baut, der hat viele Meister!“ Davon kann ich auch ein Liedchen singen, zumal unsere „Dorf-Hauptstraße“ ja ziemlich nahe an unserem Haus vorbeiführt. Ich sehe noch heute die vielen missbilligenden, ja mitleidigen Blicke. Dazu die mannigfachen, und „wohlwollenden“ Ratschläge, als ich mich damals an’s Werk machte. Da brauchte man oft starke Nerven und musste auch über jeden Selbstzweifel erhaben sein. Der einzig, der damals einen vorausschauenden Blick an den Tag legte, war mein guter Nachbar, der Krusen Willi (Willi Kraus). Wörtlich sagte er damals zu mir - und das habe ich nie vergessen: „Eckhard, do kriste es en schün Hüschen“. (Da bekommst du mal ein schönes Häuschen).

Direkt vor unserem Haus, neben der Hautür befand sich unser „Pütz“. Das war ein Brunnen, der mit einem zeltartigen Holzhäuschen überdeckt war. Vorne hatte dieses Häuschen eine Tür, die man nach der Seite aufklappte. Im Inneren befand sich eine dickes Holzrolle um das eine lange Kette geschlungen war. An der Kette hing der Eimer. Die Rolle mit umwickelter Kette mündete in einer Kurbel, (dem „Pötzschwengel“). Damit  „pützte“ man das Wasser hoch. Unser Brunnen wird schätzungsweise eine Tiefe um die 10 Meter haben. Kann mehr, kann aber auch weniger sein. Die untere Hälfte ist in felsigen Grund getrieben und mit klarem Quellwasser gefüllt. Der obere Teil ist mit Bruchsteinen ausgemauert. Meine Oma erzählte mir, als man damals beim Brunnenbau plötzlich auf die Wasserader stieß, sei das Wasser mit einem solchen Druck hervor geschossen, dass die Männer kaum Zeit zum Hochklettern gefunden hätten. Selbst in Sommermonaten mit sehr großer Trockenheit, wenn dann fast alle Brunnen in der Nachbarschaft versiegt waren, gab unser Pütz noch genug Wasser her um auch die Nachbarn mit zu versorgen. Und dieses Wasser war ein Genuss! Überhaupt kein Vergleich zum heutigen Leitungswasser, und mag es noch so „klinisch sauber“ sein. Meistens stand immer ein frisch gepützter Eimer Wasser, mit einer Schöpfkelle (der „Scheppe“) versehen, neben dem Pütz. Wie oft habe ich erlebt, wenn die Nachbaren in der Sommerhitze mit ihrem Pferdefuhrwerk aus dem Felde kamen, dass sie sich bei uns einen kühlen Trank genehmigten. War der Eimer gerade leer, so pützte man sich einen neuen. Manchmal riss auch die Kette entzwei und der Eimer lag im Brunnen. Dann trat der so genannte „Pötzhooch“ in Aktion. Das war ein bewegliches Eisengestell, mit vielen, nach allen Seiten hin ausgerichteten langen Haken versehen. Dieses Gestell wurde an einer langen Leine ins Wasser gelassen und mein Vater fischte so lange, bis er den Eimer „am Haken hatte“. Das war ganz schön schwierig und dauerte seine Zeit. Der Pützhaken war eigentlich ständig leihweise unterwegs und wenn er dann wieder einmal gebraucht wurde, ging es erst an’s Überlegen, wer ihn wohl als Letzter benutzt hatte. Der Pützhaken befindet sich übrigens heute noch in meinem Besitz.

Inzwischen ist unser Pütz mit einer dicken Betonplatte abgedeckt. Das geschah als Vorsichtsmaßnahme, als sich damals unsere, und die Nachbarskinder immer wieder am Pützhäuschen zu schaffen machten. Doch irgendwann soll dort eine Handpumpe installiert werden, um dann wieder in den Genuss dieser kühlen Köstlichkeit zu gelangen.

Zwischen Haus und dem parallel laufenden Dorfweg lagen nur ein paar Meter. Die Bezeichnung „Dorfstraße“ wäre wohl hier fehl am Platz. Denn unsere Dorfstraße war eher ein besserer Feldweg, den man, - wie damals üblich, mit Schottersteinen befestigt hatte. Natürlich führte ihre ständige Benutzung durch die Pferde-Fuhrwerke dazu, dass sie andauernd schadhaft war. Die Straßendecke war mit Löchern und tiefen Fahrspuren von den Eisenräder der Pferdefuhrwerke überzogen. Immer wieder waren Reparaturarbeiten von Nöten oder aber man nahm die Löcher einfach in Kauf. Für unsere heutigen motorgetriebenen Fahrzeuge wäre ein Achsenbruch vorprogrammiert gewesen.

Wie gesagt, zwischen Haus und Weg war weniger Platz als heute. Trotzdem hatte es meine Mutter  irgendwie bewerkstelligt, in Höhe unseres Stubenfensters einen kleinen Blumengarten anzulegen. Dort wuchsen - soweit ich mich erinnern kann, hauptsächlich die gelb-orangenen Ringelblumen. Am Rande standen auch ein paar Feuerlilien und hohe Staudenblumen. Das Ganze war, um unserer Hühner abzuhalten, mit kniehohem Maschendraht eingezäunt.

Vor unserem Haus lag der „Steinweg“, wie er genannt wurde. Das waren große Natur-Steinplatten, übrigens dieselben wie heute. Ich habe sie später nur etwas anders verlegt und neu zusammengefügt. Davor verlief dann der Straßengraben, in den man das Waschwasser ebenso wie das Spülwasser hinein schüttete. Spülbecken samt dazugehörigem Abfluss gab es ja nicht bei uns. Das Wasser lief also durch den Graben und versickerte. Den Rest besorgte die nächste Regenschauer.

Gegenüber unserem Haus lagen zwei große Weideflächen. Die linke Weide gehörte den Beckers und sie besaß eine Vielzahl von Apfelbäumen. Die Weide rechts davon gehörte uns. Beide waren natürlich mit mehrfachem Stacheldraht eingezäunt denn sie dienten ja den Kühen als Futterplatz. Auf unserer Weide befand sich die lange Wäscheleine in Form eines blanken Metalldrahtes, alle paar Meter mit Stangen abgestützt. Hierhin trug meine Mutter auch einzelne Wäschestücke auf die Bleiche. Die Leinen-Bettwäsche und Ähnliches wurde im Gras ausgelegt und öfters mittels einer Gießkanne mit klarem Wasser besprüht. Das Ergebnis war dann eine strahlend weiße Farbe, ganz ohne Ariel und Co.

Rechts vom Haus, (In Richtung Dorf) hatten wir unsere Obstweide. Sie wurde an ihrem unteren Rand vom Dorfweg begrenzt. Diese Obstbäume, (es standen und stehen auch noch einige von ihnen hinter unserem Haus), waren von meinen Großeltern gepflanzt worden und trugen im Herbst reichlich Früchte. Es gab da verschiedene Apfelsorten. Hauptsächlich waren es „Boskop“ und „Rabauen“. Auch besaßen wir, eine Rarität, zwei „Gravensteiner“. Wir nannten ihre Früchte „Weinäpfel“. Sie sind bekanntlich eine frühe Sorte und sie eignet sich auch nicht besonders zur Winterlagerung. Sie schmecken aber zuckersüß und sind sehr saftig. Ein Baum  ist uns noch erhalten geblieben. Er steht mit seinen mächtig ausladenden Ästen in Richtung unseres Gartens und er trägt alle paar Jahre noch einige Körbe voll Äpfel, trotz seines Alters. Er hat ja nun auch schon an die  80 Jahre und mehr auf dem Buckel. Dann gab es die drei hochgeschossenen Birnbäume. Sie stehen auch heute noch. Dazu jede Menge Pflaumenbäume. Die Pflaumen wurden in die Weckgläser gefüllt und dann eingekocht. Ein anderer Teil kam in den Backofen zum Trocknen. Die schmeckten im Winter zuckersüß. Von diesem alten Baumbestand sind noch ein paar Bäume übrig geblieben, und sie tragen in guten Jahren noch reichlich Früchte.

Direkt an der vorderen Scheunenecke stand (und steht) unsere Trauerweide. Wie ich aus sicherer Quelle erfahren habe, wurde sie von meiner Mutter gepflanzt. Dieser Baum, an dem ich von Kindesbeinen an sehr hänge, hat wohl das gleiche Alter wie ich. Diese Tatsache geht übrigens aus einem Bild hervor, auf dem wir beide, (Trauerweide und ich), im Alter von knapp drei Jahren zu sehen sind. Inzwischen hat der Baum riesige Ausmaße angenommen. Ein paarmal wurde er, genau wie ich, vom Sturm arg zerzaust. Einige schwere Äste brachen aus der Krone. Aber das hat ihm alles nichts anhaben können. Im Gegenteil. Rasch bildeten sich neue Astverzweigungen und ließen ihn bald wieder in alter Pracht erstrahlen. Auch richteten die herabstürzenden Äste an Haus und Scheune kaum Schaden an. Ob weiter alles gut geht, ich weiß es nicht. Jedenfalls soll diesem Baum, soweit und solange ich es zu bestimmen habe, nie „ein Haar gekrümmt werden“. Im Übrigen vertraue ich auf den großen „Statiker“ oben, der ihn so prächtig hat wachsen lassen.

Hinter unserem Kuhstall befand sich der obligate Misthaufen. Akkurat auf Kante gelegt, bedeutete er den Stolz eines jeden Bauern. Hatte er im Frühjahr ein gewisses Volumen erreicht, dann wurde er ins Feld gebracht, dort ausgestreut und in die Erde eingepflügt. Ein hochwertiger Naturdünger.

Ein gepflegter Rasen, wie er heute überall anzutreffen ist, war damals natürlich unbekannt. Entweder nutzte man solche Flächen als Weideland oder zum Gemüseanbau. Im Übrigen achtete man rund um Haus und Stallungen nicht so sehr auf „klinisch“ herausgeputzte Sauberkeit im heutigen Sinne. Dabei versanken wir aber auch nicht im Unrat. Was ich damit sagen möchte: Man ließ auch mal ein paar Brennesseln und Holunderbüsche wachsen. Zu meiner großen Erheiterung sehe ich, dass dieses alles heute wieder in dörflichen Lebensbereichen propagiert und gefördert wird. Das geht schon soweit, dass bei den Wettbewerben „Unser Dorf soll schöner werden“, solche „Trocken-Biotope“, wie man das heute nennt, mit Pluspunkten versehen werden. Eine ver-rückte Welt ist das!

Unabhängig von solchen Zeitgeist-Erscheinungen haben meine Frau und ich schon immer rund um’s Haus alle Sträucher, Büsche und Bäume wachsen lassen, wie sie die Natur hervorbrachte. Natürlich wurde immer wieder etwas um- oder neu gepflanzt. Aber mit Vorsicht und Augenmaß. Dazwischen war immer wieder Platz für kleinere und größere Rasenflächen und selbstverständlich für die vielen Blumenbeete, welche meine Frau in unnachahmlicher Weise und mit sehr viel Mühe und Fleiß - aber auch mit Können -, rund ums Haus angelegt hat und ständig mit viel Liebe pflegt. (Sie besitzt übrigens, - wie man so sagt „den grünen Daumen“) denn es blüht und gedeiht alles prächtig unter ihren Händen. So ist die Umgebung unseres Hauses mit den Jahren zu einer Augenweide geworden und sie wurde schon von manchen Besuchern als „kleines Paradies“ bezeichnet.

Naturgemäß ist ein solches Gelände eine ideale Heimstatt für die Vogel- und  Tierwelt. Vögel aller Art tummeln sich bei uns und brüten ihre Junge aus. Viele von ihnen sind inzwischen alte Bekannte. So zum Beispiel „unser“ Taubenpaar, welches Jahr für Jahr im nahen Fichtenwald sein Domizil aufschlägt. Abends sitzen die beiden oft dicht nebeneinander in unserem Kirschbaum und betrachten die Abendsonne.

Oder „Emil“, der Waldkauz. Der sitzt Tag für Tag gegenüber auf Nachbars Schornstein und wartet auf die Dämmerung. Dann streicht er ab zur nächtlichen Jagd. Oft tönt dann sein lang gezogenes „Uhuuuitt“ durch die Nacht. Die dann in ihrer wohlverdienten Nachtruhe gestörten Eichelhäher, Elstern, Spechte, Amseln und Stare zahlen es ihm am anderen Morgen heim, wenn er sich auf seinem Thron niedergelassen hat. Dort wird er dann manchmal von einer ganzen Horde seiner Artgenossen attackiert und bedrängt. Sie umkreisen ihn mit markerschütterndem Gekrächze. „Emil“ ergreift dann auch mal die Flucht oder taucht ab in den Kamin, aus dem er, wenn die Lage sich wieder beruhigt hat, dann wieder herauskrabbelt.  Dann ist da noch das Eichhörnchen-Paar, welches unter anderem im Frühherbst pünktlich erscheint und unseren Haselnussstrauch leer plündert, kaum das er Früchte angesetzt hat. Die Igelkolonne sorgt für die Schneckenvertilgung im Garten.

Auf der ruhigen Hausrückseite steht die mit Wasser gefüllte und ausrangierte Sattelitenschüssel. Sie dient den Vögeln als Tränke und auch als Swimming-Pool. Sie muss jede Woche ein paar Mal gesäubert und mit frischem Wasser gefüllt werden. Das hat seinen Grund, denn die Vögel benutzen diese Tränken nicht nur zum trinken sondern hauptsächlich zum baden. Im Sommer sieht man sie schon in aller Hergottsfrühe Toilette machen. Das ist oft eine äußerst ulkige Angelegenheit, wenn sich dann so ein fetter Eichelhäher im Wasser plustert das es nur so umherspritzt. Die Vögel haben ihr Vergnügen - aber wir auch!

Ja, wahrhaftig, in solcher Umgebung hält sich Körper und Seele gesund. Die Natur ist doch der größte Lehrmeister, wenn man es versteht, mit offenen Augen und Sinnen ihren einfachen Worten zu lauschen. Alle Bücher und Lehranstalten können dem Menschen nicht jene innere Freude und jenen inneren Frieden vermitteln, der aus einer einzigen Blume spricht. Wie oft sitze ich an einem warmen Sommerabend nach getaner Arbeit vor unserem Gartenhäuschen und lausche dem Gesang einer Amsel in den nahen Baumwipfeln. Alle Reichtümer der Welt sind ein Nichts gegen diese Stunde des Friedens und der tiefen inneren Freude, in der man Gott ganz nahe ist. ---

Aber zurück zum Haus. Ich hatte also 1954 meine Frau Rita kennen gelernt, und wir wurden uns einig, irgendwann auch zu heiraten und eine Familie zu gründen. Das Haus war zwar vorhanden, aber es war bei näherer Betrachtung im Laufe der Jahre ziemlich renovierungsbedürftig geworden. Außerdem wurde es ja noch von meinem Vater, - der inzwischen wieder geheiratet hatte -, bewohnt. Er brauchte also für sich und seine Frau ein paar eigene Zimmer. Schließlich wollte ich meiner jungen Frau auch nicht zumuten, in ein altes Lehm-Fachwerkhaus einzuziehen, das den modernen Bedürfnissen in vielen Punkten nicht entsprach.

Da war nun guter Rat teuer. Einerseits ging es mir schon um Modernisierung. Andererseits lag es mir aber auch sehr am Herzen, die alte Bausubstanz, besonders in ihrer äußeren Fachwerkform zu erhalten. Bei näherer Betrachtung lag der Zustand an der Hausrückseite ziemlich im Argen. Es war ja die Nordseite, und die unteren Balken hatten im Laufe der Jahre doch sehr gelitten, zumal am hinteren Dach keine Dachrinne angebracht war. Warum, ist mir immer ein Rätsel geblieben. Ich musste mich also damit abfinden, die Schlafkammer und den so genannten „Alten Stall“ abzubrechen. Der Abbruch als solcher schien dabei ziemlich problemlos, da diese beiden Räume ja ursprünglich von meinem Großvater an das  Haus angebaut worden waren.

Zu dieser Zeit war ich aber noch, wie man so sagt, ein „blutiger Laie“. Ich hätte es damals wahrscheinlich auch nie riskiert, ein solches Projekt jemals ins Auge zu fassen, wenn mir da nicht der Söntgerath’s Willi unten aus dem Dorf kräftig mit Rat und Tat zur Seite gestanden hätte. Willi hatte selber schon damit angefangen, sein altes Haus, in dem er mit seiner Mutter und seinem Großvater, - (der alte Söntgerath’s Justin) lebte, umzubauen und zu renovieren. Von Beruf Elektriker, war er da schon etwas vertrauter mit der Materie. Wir haben uns in dieser Zeit immer wechselseitig geholfen, wenn die Arbeit von zwei Leuten erforderlich war. Meistens kam er aber schnell mal vorbei, schaute nach dem Rechten und erklärte mir, was weiter zu tun sei. Dann ließ er mich arbeiten und das war auch gut und richtig so. Denn nur, wer selber etwas durch seiner Hände Arbeit schafft, erkennt später auch deren Wert und kann mit innerer Genugtuung und Freude auf sein vollbrachtes Werk zurückschauen.

Mit Willi verband mich so eine Art nachbarschaftliche Freundschaft. Wir haben damals in den 50er Jahren viel zusammen unternommen, besonders an den Wochenenden. Wenn es da zum Beispiel samstags so gegen Abend irgendwo zu böllern begann, wussten wir sofort: Aha, eine Hilich, und wir machten uns auf den Weg, - natürlich zu Fuß. Zur Hilich (Polterabend) konnte jeder erscheinen, der das Brautpaar in spe kannte - oder auch nicht. Meistens kannten wir die Beiden aber.

So eine Hilich ging damals etwas anders vonstatten als heute. Erst einmal kannte man nicht diese Berge von Unrat, die heutzutage lastwagenweise angekarrt und vor dem Hause der Brautleute abgeladen werden. Diese große Unsitte ist wohl aus den Städten zu uns herüber gekommen. So etwas gab es damals überhaupt nicht. Als das mindeste wird ja auch heute ein Bierpilz mit integrierter moderner Zapfanlage beansprucht. Zu unserer Zeit bekam man eine Flasche Bier in die Hand gedrückt, dazu ab und an mal einen Schnaps. An essbarem gab es belegte Brotschnitten, - wenn’s hoch kam - Würstchen mit selber gemachtem Kartoffelsalat. Die Böllerschüsse wurden mittels ausrangierter Milchkannen erzeugt, in die man am Boden ein Loch gebohrt hatte. Die Kanne wurde nun mit einem Sauerstoff-Gas-Gemisch gefüllt. Dann kam der Deckel drauf. Nun wurde ans Bohrloch unten eine brennende Lunte gehalten und der Deckel flog mit einem lauten Knall davon. Wir banden ihn aber immer zuvor an eine lange Kette, damit er nicht zu weit flog. Das Böllerschießen dauerte oft die ganze Nacht hindurch, - je nach Lust und Laune oder nach dem Stand des Alkoholpegels. Das war normal und niemand beschwerte sich ernsthaft. Auch die Polizei ist nie eingeschritten, so weit ich mich erinnern kann. Das fiel wahrscheinlich unter „Brauchtumspflege“ damals. Die Leute, welche das Schießen bewerkstelligten, sahen dann später wie die Mohren aus. Das andauernde Hantieren mit dem rußgeschwärzten Deckel tat seine Wirkung. Aber das gehörte dazu. Dem Thema Hilich könnte ich eigentlich ein ganzes Kapitel widmen. - Vielleicht greife ich es später noch einmal auf. Wenn Willi und ich  eine Hilich besuchten, war für uns der Samstagabend mal wieder gerettet. Es war ja sonst nicht allzu viel los bei uns auf dem Lande. Und das nötige Kleingeld fehlte  ja auch.

Sonntags fuhren wir auch oft mit unseren Motorrädern los. Ich besaß eine 98er NSU „Quick“ - ein so genanntes „Hermännchen“. Mit dem habe ich auch immer die Post ausgefahren. Dazu später mehr. Wir beide, der Willi und ich waren ja noch Junggesellen. Ich war zwar schon mit meiner späteren Frau Rita befreundet, und ich hätte mit ihr an den Wochenenden auch gerne etwas unternommen, aber das klappte nicht immer, denn Rita hatte oft Verpflichtungen in ihrem Arbeitsbereich. Sie führte ja damals den Haushalt eines Zahnarztehepaares in Troisdorf. Wenn die dann am Wochenende wieder einmal Besuch bekamen, ließ sich Rita in ihrer Gutmütigkeit überreden und bediente die Herrschaften.

So bin ich viele Male mit meinem Motorrad nach Troisdorf - Friedrich-Wilhelmshütte gefahren, (dort wohnten sie), um Rita nach Wohlfarth abzuholen. Dort wohnte ja ihre Mutter. Ich musste dann enttäuscht wieder zurückfahren, weil sie wieder einmal „unabkömmlich“ war. So war ich alsdann froh, wenn ich mit Willi noch etwas unternehmen konnte. Aber die Liebe zwischen Rita und mir ist dabei nicht in die Brüche gegangen, - ganz im Gegenteil!

Als Dritter im Bunde bei Willi und mir war da noch der Beckers Karl-Josef. Er war ein halbes Dutzend Jahre jünger als ich. Trotzdem hatte er schon sehr ausgeprägte Ansichten und Einsichten. Mit ihm verband mich eine wirkliche Freundschaft trotz unseres Altersunterschiedes. Ich habe ihm damals oft bei der Heuernte geholfen. Auch sonst war ich immer zur Stelle, wenn er mich mal brauchte, denn er bewirtschaftete ja nach dem frühen Tode seines Vaters seinen landwirtschaftlichen Betrieb mit Mutter und Schwester allein. Ich habe ihm immer gern geholfen, - er mir umgekehrt natürlich auch. Wir haben uns dabei viel über Gott und die Welt unterhalten. Karl-Josef war äußerst wissbegierig und er begann sich, - daran war ich nicht ganz unschuldig, - genau wie ich damals, für klassische Musik zu interessieren, für die ich in diesen Jahren auch langsam Zugang bekam.           

Wir haben da so manchen Abend bei mir in der Stube gesessen und uns mittels eines Plattenspielers, (den mir Willi besorgt hatte), und den ich an unser altes „Dampfradio“ angekoppelt hatte, Beethoven, Mozart und Wagner angehört. Und das mit wachsender Begeisterung. Von „Hifi-Qualität“ und „Stereo“ konnte da natürlich keine Rede sein, aber für uns beide war es die absolute Spitze. Alle paar Monate hatte ich von meinem geringen Gehalt soviel zusammengespart, das ich eine „Sonderausgabe“ riskieren konnte. Inzwischen hatte ich ja genug Zeit, aus dem vorhandenen Angebot an Schallplatten eine entsprechende Auswahl zu treffen. Und das war dann oft eine Qual bei all den herrlichen Stücken im Angebot. So riet mir damals die Frau Schreckenberg, - sie war die Besitzerin des großen Musikgeschäftes in der Siegburger Holzgasse, - (ich war dort Stammkunde), zum Kauf der „Mondscheinsonate“ mit der Interpretin Elli Ney. Sie war damals eine der besten Beethoven-Interpretinnen überhaupt. Ich habe dann doch die billigere Platte mit Carl Seemann erstanden und habe mich auch prompt jahrelang darüber geärgert.

Nun gut. Karl-Josef stand mir damals also in geistig-seelischer Hinsicht sehr nahe und auch unsere Zukunftspläne waren schon in etwa abgestimmt. So zum Beispiel, Aktivitäten und Einrichtungen für unser Dorf usw. Doch diese Pläne wurden durch einen tragischen Unfall jäh zunichte gemacht. Es war im August 1959. Durch eine schadhafte Starkstromleitung, mit der Karl-Josef in Berührung kam, wurde er von einem tödlichen Stromschlag getroffen und er starb trotz intensiver Wiederbelebungsversuche und ärztlicher Hilfe. Ein paar Minuten vor dem Unglück hatte ich noch mit ihm gesprochen, als ich ihn darum bat, das von mir ausgehobene Fundament-Erdreich mit Traktor und Karre wegzufahren, was er mit einigen lustigen Bemerkungen zur Kenntnis nahm. Kurze Zeit später war er tot. Es war für mich, für seine Familie, aber auch für ganz Oberholz ein schwerer Schlag, von dem sich alle nur ganz langsam erholten. Karl-Josef lebt bis heute in meiner Erinnerung und ich rede noch oft mit ihm.

Der Tod eines Menschen kann für die Zukunft eines Dorfes manchmal von ausschlaggebender Wirkung sein und der Infrastruktur und dem Gepräge des Ortes ein völlig neue Richtung geben. Das war jedenfalls bei uns in Oberholz der Fall. Nach dem Tode von Karl-Josef kam der landwirtschaftliche Betrieb zum Erliegen. Die Schwester heiratete. Stallungen und Scheune wurden durch ein neues Wohnhaus ersetzt. Die Weideflächen gegenüber unserem Haus wurden als Baustellen verkauft. Inzwischen „ziert“ ein hoher Fichtenwald nebst zwei neuen Häusern das ehemalige Grünland. Aber auch die zwischen-nachbarlichen Beziehungen bekamen an manchen Stellen einen „Knaks“. Erst in den letzten Jahren, - wohl auch bedingt durch Zu- und Wegzug einiger Familien ist es Gott sei Dank wieder besser geworden, - doch davon mehr im nächsten Kapitel.

Ich muss nun aber wieder zu meinem Hauptthema zurückehren. Es war Frühjahr 1958. Ich war inzwischen über die Umwege Hennef - Siegburg  in Much auf der Post gelandet. (Mehr in einem anderen Kapitel). Ich war „Landbriefträger“, und trug in Much und Umgebung Briefe und Pakete aus, wie es damals so üblich war, - per Fahrrad oder später mit dem Motorrad. Die Verdienstmöglichkeiten damals bei der Post waren äußerst bescheiden um nicht zu sagen: besch... . Wenn ich Samstags nach Feierabend zu einem Bier in der Reichensteiner Mühle an der Theke saß und mich mit den ebenfalls dort beim Bier sitzenden Maureren und Handwerkern unterhielt, - und wir dann auch über Verdienst und Geld redeten, log ich meinerseits immer ein paar Hundert Mark dazu und wurde trotzdem von ihnen ausgelacht. Soviel, erklärten sie mir, machten sie in einer Woche mit „Schwarzarbeit“.

Soviel zu meiner finanzielle Situation im Frühjahr 1958. Ich musste mich also nach einer „Geldquelle“ umsehen. Das Startkapital, ich glaube, es waren so um die 3000 Mark bekam ich von meinem Vater. Im Gegenzug garantierte ich ihm und seiner Frau ein lebenslanges „Wohn- und Nießbrauchsrecht“, wie es notariell beglaubigt hieß. Damit hatte sich  für ihn aber seine Hilfe mir gegenüber an der Hausrenovierung weitgehend erschöpft.  Weder finanziell noch „zupackend“ hat er mir dann später je wieder geholfen, - was ich ja eigentlich gut verstehen kann. Aus seiner Sicht hatte er ja Recht, denn durch das Testament meiner Mutter war ich ja der Alleinerbe und mein Vater stand ziemlich dumm da. Ich musste mir dann später aber noch bei der Mucher Raiffeisenbank zusätzliches Geld leihen, denn es stellte sich heraus, dass ich mit dem Geldbetrag meines Vaters bei weitem nicht auskam.

Nun gut. Nachdem also das Anfangskapital vorhanden war, konnte ich  das Werk beginnen. Bevor ich mit dem eigentlichen Abbruch starten konnte, war zuerst das Backhaus, das „Backes“ an der Reihe. Es grenzte ja mit seiner Vorderwand an die Hausrückseite und es konnte - wie bereits erwähnt, von innen „bedient“ werden. Dieses Backes war aus schweren, klobigen Grauwacke-Steinen gefügt. Das war schon eine harte Sache, die großen Steinbrocken einzeln abzutragen. Ich habe sie damals zu einer halbrunden Mauer lose aufgeschichtet. Inzwischen ist sie hinter unserem Haus mit allerlei Sträuchern überwachsen. Nachdem das Backes dann verschwunden war, ging es ans Haus. Die Dachziegel habe ich sorgfältig abgenommen, - es waren ja so genannte Hohlziegel und die gibt es inzwischen nur noch in imitierter Form. Ich habe sie aufgestapelt und sie dienen jetzt als Ersatz für das Scheunendach, wenn dort einmal eine Dachziegel in die Brüche geht.

Dann waren die Lehmgefache an der Reihe. Das gab vielleicht Staub und Dreck. Der knochentrockne Lehmstaub zog durch alle Ritze und Fugen des Hauses. Er setzte sich sogar auf die Kleider in den Kleiderschränken. Danach kamen die schweren Eichenbalken an die Reihe, die gar nicht so morsch waren, wie es den ersten Anschein hatte. Beim Entfernen der Deckenbalken war auch der Karl-Josef mit dabei. Er schlug mit einem schweren Vorschlaghammer die einzelnen Balken aus den Zapflöchern und hatte „im Eifer des Gefechts“ nicht bemerkt, das ich gerade auf einem solchen Balken stand. Und ich sauste urplötzlich und völlig überrascht mit dem Balken in den darunter liegenden Schutt. Ich glaube, Karl-Josef hat sich dabei mehr erschrocken als ich. Mit ein paar Schrammen und blauen Flecken, außerdem total lehmbestaubt kroch ich schließlich unter dem Geröll hervor. Das alles lässt sich ja nun  schnell und mühelos hier aufschreiben, aber für mich war diese Art von körperlicher Arbeit damals ausgesprochen ungewohnt und daher ziemlich schweißtreibend. Wenn ich des Abends müde in mein Bett fiel, spürte ich jeden Knochen einzeln. Aber wenn man jung ist, steckt man so etwas ja schnell weg.

Ganz vergessen habe ich aber noch zu erwähnen, das die Abbruchräume zuerst natürlich vollständig „entrümpelt“ werden mussten. Das kann man ruhig wörtlich nehmen. Im Laufe der Jahre hatten sich dort nämlich jede Menge ausrangierter Haushalts- und Gebrauchsgegenstände angesammelt. Alles, was nicht mehr zu gebrauchen war oder durch den Kauf von etwas Neuem überflüssig wurde, (aber noch „zu schade“ zum wegschmeißen), das wurde erst einmal im „Alten Stall“ deponiert. Und da kommt im Laufe der Jahre einiges zusammen. Im heutigen „Nostalgie-Zeitalter“ wäre das für einen Fan alter Sachen eine herrliche Fundgrube gewesen. Oft genug treffe ich auf Flohmärkten und in Museen auf Dinge dieser Art, die ich damals in Unkenntnis kommender Modeerscheinungen  einfach in eine der  alten Lehmkuhlen in den nahen Wald gekarrt und dort versengt habe. Darüber habe ich mich schon so manches Mal schwer geärgert. Aber was hilft’s - weg ist weg.

Die alten Fundamente bestanden, da sie ja nur ein paar Meter Fachwerkwände zu tragen hatten, aus Bruchsteinen, gut 30 cm tief. Nachdem ich sie herausgeholt hatte, musste ich natürlich für die kommenden massiven Blocksteinwände tiefer ausschachten. Nachdem das geschehen war, und die Beton-Fundamente ausgegossen waren, ging es ans mauern.

Das war wieder neu für mich, denn ich hatte vorher noch nie eine Maurerkelle nebst Wasserwaage in der Hand gehabt. Vom Mörtel, - gemeinhin „Spieß“ genannt, ganz zu schweigen. Das alles wurde mir so nach und nach vom Söntgeraths Willi beigebracht. Hier und da ließ ich mir von Fachleuten aus meinem Bekanntenkreis Tipps und Ratschläge geben. Den Spieß für das ganze Haus habe ich übrigens in all der Zeit mit der Hand und Schaufel gemischt. Erst ganz am Schluss stellte ich fest, das mein Schwager Gerd in Oberhausen eine Mischmaschine besaß, die er nicht ständig brauchte. Die habe ich mir dann geholt, aber da war die meiste Arbeit schon getan. Der Rohbau mit Dach war bald komplett. Es stellte sich dann noch heraus, dass die untere Hälfte der linken Giebelseite, (Richtung Scheune) auch nicht mehr im allerbesten Zustand war. Ich habe sie dann ebenfalls bis zur Höhe des ersten Stockwerkes abgebrochen und durch eine massive Blocksteinmauer ersetzt.

Inzwischen war es Winter geworden. Ich schlief nun im bekannten „Gästezimmer“ mit der neu errichteten Außenmauer. Sie war oben noch nicht „beigeputzt“ und so dichtete ich die Ritze gegen Kälteeinbruch mit Zeitungspapier ab.

Der Winter 1959/60 war ein sehr gestrenger Herr. Ich habe nie jene Nacht vergessen, als ich plötzlich durch einen lauten Knall, dem ein merkwürdiges Zischen folgte, aufgeweckt wurde. Das wiederholte sich noch ein paarmal und ich rätselte lange herum, woher diese merkwürdigen Geräusche wohl kämen, schlief dann aber wieder ein. Am anderen Morgen entdeckte ich des Rätsels Lösung. Ich hatte in meinem Schlafzimmer einen Kasten Mineralwasser deponiert. Das Wasser war bei der strengen Kälte in den Flaschen gefroren, die dadurch in der fraglichen Nacht mit lautem Knall platzten. Die restliche Kohlensäure entwich dabei mit einem Zischen.

Im Frühjahr 1960 ging es dann zügig weiter, das heißt, wenn ich meine Tour als Briefträger beendet hatte, und ich mein selbst zubereitetes Mittagessen zu mir genommen hatte, - (mein Vater und Lieschen waren ja beide berufstätig), - und einem kurzen Ausruhen, indem ich den Kopf mit den verschränkten Armen auf die Tischkante legte, machte ich mich an die Arbeit. Das wurde zur täglichen Routine. Jeden Tag nahm ich mir ein paar der Lehmgefache vor. Zuerst schlug ich mittels eines schweren Vorschlaghammers den Lehm samt dem darin enthaltenen Holz heraus. Dann nagelte ich auf die Innenseiten der Balken in passende Streifen geschnittenes so genanntes „Streckmetall“ damit die Schwemmsteine in Verbindung mit dem Mörtel seitlich einen guten Halt bekamen. Danach wurde die entsprechende Menge „Spieß“ angemacht und los ging’s. Das Mauern gestaltete sich dabei ziemlich langwierig, denn ich musst jeden dritten bis vierten Stein auf die richtige Länge passend zurecht hauen. Das war, besonders bei schräg stehenden Balken ziemlich zeitraubend und ich kam nicht gerade schnell voran.

Zwischendurch wurden im Anbau die Türen und Fenster eingesetzt und der Fußboden gelegt. Hierbei hat mir der Pick´s Hans-Dieter aus Birrenbachshöhe schwer unter die Arme gegriffen. Einmal hat er beim Abstemmen eines unebenen Balkens, - es war beim Einsetzen der jetzigen Wohnzimmertür, - mit seinem Stechbeitel meinen rechten Daumen erwischt. Als ich dann das Blut sah, - (es sah schlimmer aus, als es war),  muss ich wohl kreidebleich zusammengesackt sein. Der Hans-Dieter erzählt diese Story zur allgemeinen Erheiterung seiner Zuhörer heute noch oft und gern.

Natürlich lebten wir zu der Zeit des Umbaues in ziemlichem Chaos. Die Wände waren frisch vermauert und unverputzt. Es fehlten Türen. Der Lehmstaub war allgegenwärtig. Zu dieser Zeit erhielten wir auch den Anschluss an die zentrale Wasserversorgung. Bis dahin gab es ja bei uns und bei unseren Nachbarn noch kein fließendes Wasser „aus dem Kranen“, es sei denn, man hatte sich inzwischen eine private Anlage zugelegt. Ich erinnere mich noch gut, als der Helmut Söntgerath (der „Wasser-Helmut“) vom Mucher Gemeindewasserwerk bei uns die Installation vornehmen wollte, und ganz verwundert fragte. „Wohnen denn hier auch noch Leute?“ So schlimm muss es wohl damals bei uns ausgesehen haben.

Nach und nach wurde es dann aber wohnlich. Ich will und kann hier nicht alle die hundert Dinge und Arbeiten aufzählen, die bei der Renovierung eines alten Fachwerkhauses nun einmal anfallen. Wenn ich es mir aber heute richtig überlege, dann habe ich im Verlauf dieser Umbauarbeiten jeden Quadrat-Zentimeter unseres Hauses nicht einmal, sondern mehrmals außen und innen, vom Keller bis zum Dach mit meinen Händen „bearbeitet“. Da bekommt man natürlich eine besondere Beziehung zu so einem alten Haus. Dabei habe ich auch den Erbauer so richtig kennen gelernt, und viel von seinem handwerklichen Können und von seiner Mentalität begriffen. Oft habe ich beim Nachdenken in einer kniffligen Angelegenheit, - wenn ich überhaupt nicht mehr weiter wusste, und einer leisen Verzweiflung anheim zu fallen drohte, -  seine Stimme gehört, in dem er mir seinen Rat erteilte. Man kann darüber lachen - ich nicht!

Als es daran ging, den früheren „Söller“ im ersten Stock als Kinderzimmer einzurichten, und ich die schrägen und ziemlich buckligen Lehmwände so betrachtete, muss ich wohl laut für mich hin gedacht haben: „Mein Gott, Opa, wie bekomme ich das überhaupt jemals gerade“. Nachdem der Lehm dann entfernt war, habe ich bei meinem Großvater Abbitte getan, denn als ich die Wasserwaage zu Rate zog, stellte sich heraus, dass jeder Balken ausnahmslos „in der Waage“ lag. - Nur der etwas „hügelige“ Lehmverputz, der im Laufe der Jahre immer wieder erneuert worden war, hatte getäuscht.

Sicher lässt sich heute komfortabler wohnen, und für viele Zeitgenossen muss das Leben in unserem alten Fachwerkhaus aus ihrer Sicht recht unzeitgemäß erscheinen. Es sind dies die Menschen, - und zur Zeit werden es leider immer mehr, - die sich in oberflächlichem Denken gefallen, dabei vergessen, einmal über ihre beschränkten „Tellerrand“ hinweg zu schauen. Sie würden dann nämlich feststellen, dass es nur ein paar Flugstunden bedarf, um Menschen kennen zu lernen, die wesentlich „primitiver“ leben und dabei in heiterer Gelassenheit und vollster Zufriedenheit unserer hoch zivilisierter Wohnkultur verständnislos gegenüberstehen. Ja, ich gehe sogar soweit, zu behaupten, das eine Zeit kommen wird, in der die Menschen unserer Region, - nachdem sie in unverantwortlicher Weise die Erde mit ihren natürlichen Rohstoffen ausgebeutet und die Natur mit allerlei Schadstoffen „angereichert“ haben, - wieder gezwungen sein werden, alte Wege neu zu erforschen, zu entdecken und zu beschreiten. Möge es den Menschen der Zukunft dann vergönnt sein, dieses alles ohne  gegenseitige Schuldzuweisung und ohne Gewalt in den Griff zu bekommen.

Mit diesen, etwas ernsten, aber von mir wohldurchdachten Worten möchte ich nun dieses Kapitel schließen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3. Das Dorf

Unser Dorf, von dem ich jetzt berichten werde trägt den Namen Oberholz. Bis zur Gebietsreform in den 60er Jahren hieß es „Klein-Oberholz“. Natürlich gab es da auch ein „Groß-Oberholz“. Es hat damals seinen Ortsnamen verloren und gehört heute zu der Ortschaft Birrenbachshöhe. Wie es zu Groß- und Klein-Oberholz kam, ist mir schleierhaft, denn Großoberholz hatte von jeher eine geringere Häuserzahl als Kleinoberholz.

Die Gegebenheiten unseres Dorfes, die ich hier schildern werde, beziehen sich in erster Linie auf den Zeitraum der 40er Jahre. Hier in Oberholz standen damals 6 Häuser. Zwei von ihnen waren so genannte „Doppelhäuser“. Das heißt, sie waren in der Mitte von Giebel zu Giebel getrennt. Jede Hälfte wurde von einer Familie bewohnt. Ihre Bauweise resultiert wohl aus Gründen der Rentabilität und der Sparsamkeit.

Wollten zum Beispiel zwei Brüder einen Hausstand gründen und zu diesem Zwecke ein Haus errichten, tat man sich halt zusammen. Die ganze Familie konnte so beim Bau mit einbezogen werden. Das sparte natürlich enorm, denn das Baumaterial war ja meistens vorhanden, handelte es sich doch in der Hauptsache um Holz, Lehm und Steine. Das war auch gut so, denn über größere Mengen Bargeld verfügte damals  bei uns hier niemand.

Die Bezeichnung „Dorf“ war uns fremd. Wir nannten unseren Wohnort „Hof“. (Wir wohnten „em Hoff“). Je nach Lage wohnte man oben, unten, hinten oder vorne „im Hof“. Wir wohnten also „oben im Hof“.

Unsere nächsten Nachbarn wohnten in so einem Doppelhaus. In der uns zugewandten Hälfte wohnte die Familie Kraus. Sie bestand damals aus den beiden unverheirateten Geschwistern Willi und Sofie Kraus. In den letzten Kriegsjahren hatten sie noch eine verheiratete Schwester mit ihrem Mann und ihrer Tochter bei sich aufgenommen. Ihre Wohnung in Siegburg war ihnen durch die ständig wachsende Zahl der Bombenangriffe zu unsicher geworden. Deshalb waren sie - wie übrigens viele, wenn sie dazu Gelegenheit hatten -, aufs Land gezogen. Sie hießen Minna und Karl Balensiefer. Ihre Tochter hieß Marianne und sie war für mich eine willkommene Spielgefährtin, denn Kinder, besonders in meinem Alter waren zu der damaligen Zeit rar in unserem Dorf. Mit Sofie verband meine Mutter, wie ich als Kind herausbekam, eine enge nachbarliche Freundschaft. (Sie machte, wie ich bereits erwähnte, bei uns im Dorf auch den Nikolaus).  Es waren übrigens die besten Nachbarn, die man sich wünschen kann, - und sind es immer geblieben!

Willi hat dann später geheiratet, und nachdem der Krieg zu Ende war, übernahm die Familie Balensiefer wieder ihre Wohnung in Siegburg. Noch viel später ist dann auch seine Schwester Sofie „unter die Haube“ gekommen und weggezogen.

Auf der anderen Seite des Doppelhauses wohnte die Familie Becker, bestehend aus den Eheleuten Josef und Helene mit ihrer Tochter Marlene. (Sie war übrigens in meinem Alter). Später kam dann noch Karl-Josef dazu. „Beckers Lena“ war  eine Tochter vom Schmiedemeister Peter Kraus aus Wohlfarth und sie hatte bei den Beckers, wie man sagt „eingeheiratet“. Dann war da noch die Mutter von Josef, - die „Beckers Oma“, wie sie von allen genannt wurde. (Auch „Hännes- oder Hännes-ches-Oma). Darauf komme ich später zurück. Die beiden Familien lebten, wie fast alle hier von der Landwirtschaft.

Der Betrieb vom Beckers Jupp konnte sich sehen lassen. Das ließ sich schon sofort feststellen, wenn man seinen Hof betrat. Da fehlte nichts. Alle Maschinen und Geräte waren instand. Alles stand an seinem Platz. Der geräumige Innenhof war eingesäumt von den verschiedenen Wirtschaftsgebäuden.

Links vom Wohnhaus erhob sich der Stall mit angebauter Scheune. Über den Stallungen lagerte das Heu. Das war sehr praktisch, denn das Heu ließ sich nach der Ernte von der höher gelegenen Weide aus durch eine Dachluke dorthin transportieren. Durch eine weitere Luke warf man es von nach unten in den Stall, sozusagen den Kühen in den Trog.

Man konnte den Heustall aber auch von außen über eine Treppe erreichen, die an der Stallwand hinaufführte. Diese  stabile Holztreppe mit dazugehörigem Gelände hätte damals auch manchem Wohnhaus zur Ehre gereicht, denn sie war perfekt gezimmert und hat mich als Kind immer wieder fasziniert. Ich glaube, der Jupp hat sie wohl selber errichtet, denn er war nicht nur ein guter Landwirt sondern auch ein geschickter Handwerker. Das sah man an seinen vielen Gerätschaften und Werkzeugen, die damals für einen solchen Betrieb ungewöhnlich waren, obschon die meisten Bauern – gezwungenermaßen, - vieles selber anfertigen und reparieren mussten.

Am oberen Ende des Hofraumes, (dem Wohnhaus gegenüber) befand sich ein massiver langgezogener Schuppen. Wenn ich sage „massiv“, so beinhaltet dieser Ausdruck, das es sich hier um ein Gebäude aus Lehmfachwerk handelte. (Alle Gebäude in unserem Dorf  und in der Umgebung waren übrigens von derselben Bauart). So weit ich mich erinnere, war in diesem Schuppen der Schweinestall und das „Backes“ untergebracht. Ebenfalls lagerte hier auch das obligate Brennholz. Außerdem hatte der Jupp hier seine Werkstatt mit dem schweren Schmiede-Amboß und der Hobelbank.

Er besaß auch eine so genannte „Feldschmiede“. Mittels eines Gebläses, welches man durch ein Fußpedal in Betrieb nahm, brachte man  auf diesem eisernen Tisch Steinkohlen zum Glühen und konnte nun in dieser Glut die jeweiligen Werkstück zur Weiterverarbeitung auf die richtige Temperatur bringen. Auch beim Beschlagen der Pferde mit neuen Hufeisen war so eine Feldschmiede unentbehrlich.

Auf der rechten Seite, (zur Dorfstraße hin), wurde der Innenhof  eingefasst von einer lang  gezogenen Remise. Mit „Remise“ bezeichnet man einen Geräteschuppen, der an einer Seite offen ist. Zur Innenhofseite also offen, hatte sie zur Straßenseite eine Schwemmsteinmauer, ein Zeichen für ihre Entstehung vor noch nicht allzu langer Zeit. Die Mauer war und blieb übrigens unverputzt.

Die Remise beherbergte, wie üblich alle größeren landwirtschaftlichen Geräte wie Schlagkarre, Leiterwagen, Pflug, Egge, Kultivator, („Fröselploch“), Ackerwalze („et Bloch“) und  die Geräte für die Heuernte wie Mähmaschine, Heuwender und Heurechen. Bei den Beckers stand da aber noch einiges mehr. Da war noch ein Ungetüm von Bandsäge, (eine Rarität damals), und eine große Bohrmaschine. Von uns Kindern wurde das alles immer wieder gebührend bestaunt. Wir durften nur nichts anfassen, so gerne wir das alles auch einmal selber ausprobiert hätten. Aber das riskierten wir nicht.

Der Jupp hatte nämlich eine sehr gewaltige Bassstimme. Mit der sang er nicht nur den 2.Baß im Kreuzkapeller Quartett-Verein (zugleich Kirchenchor), - Choralgesang war seine Leidenschaft, - und er sang die Choral-Noten, wenn’s darauf ankam „vom Blatt“, -  sondern er konnte mit seiner Stimme auch Schimpfkanonaden loslassen, die dann im ganzen Dorf zu hören waren.

In der Lücke zwischen der rechten Hausecke und der Remisenkante, (ck.2 m)  war eine hohe Bretterwand errichtet in die eine Holztür eingelassen war. So war der Innenhof beständig von Zugluft und Wind geschützt. Im Winkel zwischen Haus und Remise, direkt an diesem  Holztor stand eine mächtige Linde. Dieser Baum in seiner imposanten Größe war damals so ein Wahrzeichen von Oberholz. Oberhalb der Remise, in Richtung Dorfmitte war dann die breite Zufahrt. Wäre Karl-Josef und sein Vater nicht so früh verstorben, dann hätten sie bestimmt aus diesem Anwesen einen Musterbetrieb gemacht und Oberholz samt seiner Umgebung sähe heute mit Sicherheit anders aus. ---

Es lebte damals auch noch eine ältere Frau bei den Beckers mit Namen Josefa Funken, (von allen im Dorf „et Fonken Sefchen“ genannt). Ob sie eine Verwandte  war, weiß ich nicht. Sie wohnte vorher jedenfalls in einem, damals schon ziemlich baufälligen Haus  oberhalb der Beckers. Als sie sich dann selber  nicht  mehr versorgen konnte, hat sie bei den Beckers Unterkunft erhalten. So etwas war damals nicht unüblich, denn Altersheime und ähnliche soziale Einrichtungen gab es ja nicht. Entweder war man in der eigenen Großfamilie integriert, oder man wurde im Alter von Verwandten bzw. Nachbarn aufgenommen, wenn man selber nicht mehr zurecht kam. Dann gab es bei den Beckers noch eine alte Dame. Ihren Namen weiß ich nicht, denn sie wurde allgemein nur „die Tante“ genannt.

In dem zusammenbruchnahen Hause vom Funken Sefchen, welches dann später leer stand, sind wir als Kinder, trotz strengem Verbots gerne herumgekrochen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich einmal fast mit der altersschwachen Stiege herunter gesaust wäre. Das Haus ist dann, von Brennnesseln und allerlei Gestrüpp überwuchert, im Laufe der Zeit langsam in sich zusammengefallen.

Weiter oberhalb stand das Haus von Maria Kraus, (et „Wöllems Marichen“) genannt. Sie hat später, - schon im vorgerückten Alter, Matthias Dalmus geheiratet und sie bekamen eine Tochter namens Erika. Die beiden Eheleute würde man heute ohne Abstrich als „Originale“ bezeichnen. Davon gab es damals übrigens mehr als genug, - anders als heute. Matthias war von Beruf  Anstreicher und im Umgang und beim Erzählen etwas umständlich, um nicht zu sagen „kompliziert“. Dabei aber ein sehr korrekter Mensch. Wenn ich dem „Mattes“ als Kind irgendwo begegnete, machte ich tunlichst einen Bogen um ihn, um dadurch ein Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden. Er hatte nämlich die Angewohnheit, seinen Gegenüber in ein langes und oft ermüdendes Gespräch zu verwickeln. Dabei war dieser Mann ansonsten ein ausgesprochen liebenswerter Mensch.

Seine Frau „et Marichen“ (mit kurzem „i“ausgesprochen) brachte immer gerne selbst erfundene oder irgendwo aufgeschnappte Redewendungen und Zitate in gestochenem „Hochdeutsch“ unter die Leute. Ihre Lieblingsworte hießen: „Man muss die Menschen lieben, solange sie warm sind“ - womit sie eigentlich gar nicht mal so unrecht hatte.

Et Wöllems Marichen war aber auch aus unerfindlichen Gründen das bevorzugte Ziel unserer kindlichen Streiche. Vielleicht kam es daher, weil sie sich so herrlich, nebst ihrem Matthes, - aufregen konnte. Ihre Antipathie gegen (tote) Mäuse nutzten wir, - ich muss es zu meiner Schande gestehen, - schamlos aus. Ich will das hier aber nicht näher beschreiben. Ansonsten trieben wir nach Einbruch der Dunkelheit gern um’s  Dalmus-Haus  unseren Schabernack und stellten mittels komplizierter Kordelverbindungen so genannte „Klopfmännchen“ her. Damit kann man die Hausbewohner langsam aber sicher bis zur Weißglut treiben. Es klopft nämlich auf geheimnisvolle Weise an die Fensterläden .Reißt dann der Geplagte blitzschnell die Haustüre auf, um den oder die Übeltäter zu fassen, ist kein Mensch zu sehen. Wir standen dann irgendwo in sicherer Entfernung und hielten uns die Bäuche vor lachen.

Wie mir ältere Einwohner aus unserem Dorf erzählt haben, muss oberhalb vom Hause Dalmus, - in Richtung „Hohe Fuhr“, (wohl schon auf dem Plateau der oberen Weide), noch ein Haus gestanden haben. Aber selbst sie wussten es auch nur vom Hörensagen. Hier soll eine Familie namens „Deubel“ gewohnt haben. Dieses Haus soll übrigens jetzt in Much an der Hauptstraße stehen. Es ist ein sehr schmuckes Fachwerkhaus und trägt die Nummer 69. Damals war es ja durchaus üblich, solche Fachwerkhäuser auseinander zu montieren und an anderer Stelle wieder aufzurichten. Sauber gefügte Fachwerke lassen so etwas problemlos zu. Der älteste Teil meines Elternhauses soll ja auch ursprünglich in Söntgerath gestanden haben.

Dann stand noch ein Haus rechts der Straße, Richtung Birrenbachshöhe. Ich kann mich noch schwach daran erinnern, dort als Kind einen halb zugeschütteten Kellerraum und Teile einer Bruchsteinmauer gesehen zu haben. Bis vor einigen Jahren gab es hier noch eine Vertiefung im Ackergelände. Ob dieses Haus aber nun zu Groß - oder Klein-Oberholz gehört hat, kann ich nicht sagen, - wahrscheinlich aber zu keinem von beiden. Wie mir (der inzwischen verstorbene) Fedder’s Alois zu berichten wusste, hat dort eine gewisse „Buchholz Karline“ mit ihrer Familie gehaust. Er hat sie übrigens noch gekannt. Sie hatte wohl keinen allzu guten Leumund und wird, mehr schlecht als recht versucht haben, ihre Familie „über die Runden“ zu bringen. Das ihr Haus (oder Hütte - muss man wohl sagen), sich außerhalb der Dorfgrenzen befand, trug wohl auch dazu bei, dass über sie gemunkelt wurde.

Armut und Hunger waren in unseren ländlichen Dörfern vor 100 Jahren an der Tagesordnung. Die mageren Erträge aus der kleinen Landwirtschaft wurden oft genug durch Missernten zunichte gemacht. Viehseuchen rafften den knappen Milchviehbestand dahin. Dazu kam allenthalben ein reicher Kindersegen.

Wie sich das ausdrückte, beleuchtet diese kleine Geschichte, welche ich ein paarmal vom Fedders Alwis zu hören bekam: In unserem Dorf lebte damals eine Familie. Der Mann war Schneider von Beruf. Und sie hatten natürlich, wie üblich „einen Stall voll Kinder“. Ein Handelsmann, der dort eingekehrt war, wusste anschließend in der Nachbarschaft zu berichten, was er dort zu sehen bekommen hatte: Ein Kind habe - so erzählte er -, unter der Bank gelegen und vor lauter Hunger an einem alte Schuh gekaut. (Die Schuhe trugen damals natürlich keine Schuhcreme, sie wurden immer wieder kräftig eingefettet). ---

Unterhalb des Hauses Dalmus wohnte - und wohnt - die Familie Tüschenbönner. Ihr Haus lag nicht nur in der Dorfmitte sondern war auch oft der Dorf-Mittelpunkt. Heute würde man sagen: „Ein Haus der offenen Tür“ - besonders für uns Kinder damals. Im Dorf hießen sie „de Piddersch“ oder „Pittersch“. Zur Familie Tüschenbönner gehörten die Großeltern mütterlicherseits namens Martin und Lienchen Kraus. Dann das Ehepaar Will und Maria und ihre Kinder Willi, Mia, Helene und Paul. Und es gab  noch den kleinen Heribert. Er starb im Alter von zwei Jahren an Diphtherie. Martin und Lienchen waren damals schon recht betagt und „kromm jedausen“ (krumm gearbeitet) wie man so sagt.

Die Tüschenbönners hatten schräg hinter unserem Haus, (an der Stelle unseres jetzigen Gartens) eine Weide. Martin trieb morgens die Kühe auf diese Weide und er holte sie dann auch abends wieder nach Haus in den Stall. Wenn er nun des Abends den „Schweizers Berg“ heraufgeschlappt kam - er trug immer einen „Manschester-Anzug“, (eine braune Cordjacke und einen dazu passende Hose aus demselben Stoff) - hatte er die Angewohnheit, jedes Tier mit seinem speziellen Namen zu rufen. Die Kühe kannten das und versammelten sich bald am Tor. Die Namen waren dem Reich der Blumen und der Natur entnommen. Es klang daher sehr poetisch, wenn der Martin sie mit lauter Stimme herunterbetete. Noch heute habe ich einen Teil der Namen im Ohr: Appeldrüfchen, Wengdrüfchen, Klieblömchen, (Apfel-Träubchen, Wein-Träubchen, Klee-Blümchen). Zum Schluss kam dann das langgezogene: „Kallef“. Damit war das Kalb gemeint, - es besaß noch keinen Namen.

Der Vater Wilhelm wurde im letzten Kriegsjahr noch eingezogen. Er ist am 5. März 1945 kurz vor Kriegsende in Frankreich gefallen. Dort liegt auch sein Grab auf einem Soldatenfriedhof. Er war damals erst 39 Jahre alt. Nun war Maria mit ihren 4 unmündigen Kindern allein. Als sie bald darauf ebenfalls starb, standen die Kinder ganz allein da. Die Großeltern lebten inzwischen auch nicht mehr. Als Vormund bekamen sie Theo Haas aus Wohlfarth. Der älteste Sohn Willi war gerade 14 Jahre alt. Er stand nun vor der schwierigen Aufgabe, den landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern fortzuführen. Bestimmt keine leichte Sache für einen Jungen seines Alters in der damaligen Zeit. Er holte sich immer Rat und Hilfe von den Dorfbewohnern. Besonders der Beckers Jupp und der Söntgeraths Justin standen ihm dabei zur Seite. Später kam dann eine ältere, alleinstehende Frau zu den Geschwistern und versorgte den Haushalt.

Ich muss hier aber noch kurz erklären, was es mit den Namen: „Hännesjes - „Wöllems“ - und „Pittersch“ auf sich hat. Der Urahn Kraus hatte unter Anderem drei Söhne mit Namen Johann, Wilhelm und Peter. Jeder der  drei gründete nun hier in Oberholz eine Familie. Wie es damals so üblich war, wurden nun deren Nachkommen nach dem Vornamen des Vaters genannt. So hießen z.B. die Nachfahren von Peter Kraus „de Pittersch“. Das Stammhaus der Familie Kraus war übrigens das Haus Dalmus. Geht man in der Ahnenforschung hier auf dem Lande weit genug zurück, so stellt man mit Überraschung immer neue Verwandschaftsverhältnisse fest. Wie es dazu kam, - siehe weiter unten.

Direkt neben den Tüschenbönners wohnte der alte Justin Söntgerath mit seiner Tochter Trautchen und ihrem Sohn Willi. Justin war, wie schon erwähnt, der Bruder meines Großvaters. Er stammte übrigens aus diesem Haus. Justin Söntgerath war ein knorriger Typ mit einer kräftigen, markanten Stimme. Vielleicht lag es an dieser Stimme, das Justin in unserer Kirchengemeinde als Vorbeter bei Prozessionen, Wallfahrten, Beerdigungen und anderen Anlässen fungierte. So hat er übrigens die Wallfahrt nach „Maria Hilf“ in Niedermühlen bei Asbach mehr als 50 Mal als Vorbeter begleitet.

Im Maimonat versammelten sich die Dorfbewohner damals am Abend bei Tüschenbönners zur Maiandacht. An der westlichen Giebelseite stand dort von jeher ein großes Holzkreuz. Der Corpus dieses Kreuzes hat die Zeiten glücklicherweise überdauert und befindet sich jetzt an unserem schönen neuen Dorfkreuz, welches in den vergangenen Jahren samt Dorfplatz in Gemeinschaftsarbeit von den Oberholzer Dorfbewohner errichtet wurde. Doch ich war bei der Maiandacht. Gegenüber der Giebelseite mit dem Kreuz befand sich die Remise. Sie war nach Remisenart vorne zum Haus hin offen. Dort hinein wurden ein paar Bretterbohlen zurecht gelegt. Sie dienten als Sitzplatz. Das Remisendach schützte vor Witterungseinflüssen. Es wurde bei der Andacht der Rosenkranz, dann die „Fünf Wunden“, die Muttergottes-Litanei und Gebete für die Verstorbenen und sonstige Anliegen gebetet. Und Justin Söntgerath betete vor.

Ich bin damals oft mit meiner Mutter zur Maiandacht gegangen. Für uns Kinder war das immer eine Abwechslung im dörflichen Jahreslauf. Wenn die Erwachsenen beteten, verkrümelten wir uns manchmal, - es war inzwischen schon dunkel geworden - ins Heu der angrenzenden Scheune. Wenn wir dort allzu laut tobten, wurden wir aber wieder nach vorne befördert und mussten mitbeten. Nach etwa einer Stunde war die Maiandacht zu Ende und man saß noch eine Weile zusammen. Ich kann mich noch lebhaft an den herrlichen Duft der blühenden Obstbäume erinnern, wenn meinen Eltern und ich uns dann später auf den Heimweg machten.

Wenn aus unserem Dorf jemand gestorben war, wurde an den Abenden bis zur Beerdigung „Totenwache“ gehalten. Man traf sich abends im Hause des oder der Verstorbenen und betete den Rosenkranz, die Litanei für die Verstorbenen, die „Fünf Wunden“ und noch ein paar andere Gebete, an die ich mich nicht mehr erinnere. Auch hier war Justin der Vorbeter. Der oder die Tote befand sich ja noch im Haus, meistens eingesargt. Es gab ja noch keine Leichenhalle auf dem Friedhof. Manchmal wurde auch der Wunsch geäußert, den Verstorbenen oder die Verstorbene noch einmal sehen zu dürfen. Dann wurde der Sargdeckel abgenommen und man konnte die Leiche betrachten und in stillem, persönlichem Gebet Abschied nehmen. Das war damals ganz natürlich. Der Tod gehörte ganz einfach zum Leben. Wenn es ans Sterben ging, wurde niemand ins Krankenhaus verfrachtet. Man starb dort, wo man gelebt und gearbeitet hatte, - zu Hause, im Kreise der Angehörigen.

So war das auch bei meiner Mutter und Großmutter. Bei der Totenwache hatten damals so ziemlich alle Dorfbewohner in unserer Wohnküche Platz. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater ein paar Bretter hereinholte, und sie über die Stühle legte. Auf diesen nachgemachten Bänken saß man dann und betete. Am Begräbnistage kam die schwarze Kutsche, mit schwarzem Stoff  verhangen. Auch die Pferde hatte man mit einem schwarzen Tuch bedeckt. Zu Fuß begleitete man dann die Kutsche mit dem Sarg zum Friedhof. –

Doch zurück zum Dorf.  Der Justin war genau wie wir, ein „Kuhbauer“, das heißt, er besaß kein Pferd sondern benutzte die Kühe als Zugtiere. Er war noch bis ins hohe Alter rüstig und voller Schaffenskraft. Als er am 26. Oktober 1962 starb, war er 87 Jahre alt.

Ganz unten im Dorf, („em Loch“) wohnten die Fedders. Das Haus war, wie oben beschrieben, ein Doppelhaus. Auf der östlichen Seite wohnte Aloys und Katharina Fedder. Damals lebte der alte Josef Fedder noch. Das Ehepaar Fedder hatte keine Kinder. Sie haben später einen kleinen Waisenjungen „angenommen“, wie man sagt. Er wohnt jetzt dort mit seiner Familie.

Auf der westlichen Seite des Hauses wohnte Hermann und Katharina Fedder. Die Eheleute Peter Fedder lebten ebenfalls noch. Sie hatten auch keine Kinder und hatten deshalb den Hermann im Kindesalter adoptiert. Die beiden alten Fedders Josef und Peter waren übrigens Brüder. Der Fedders Peter, den ich nur hinkend gekannt habe, - man sagte, er habe sich in jungen Jahren mit einem Dreizahn in den Fuß gehauen, - hatte auf der „Hohen Fuhr“ ein Stück Land. Wenn er dort mit Pferd und Pflug oder Egge zugange war, hatte er die Angewohnheit, ständig ohne Unterlass zu pfeifen. Dieser Pfeifton war spitz und hoch. Vergeblich habe ich immer wieder versucht, diese Höhe beim pfeifen zu erreichen. Es ging die Kunde im Dorf, wenn Peter in dieser Art die Pfeiftöne von sich gab, sollte man tunlichst einen Bogen um ihn machen, denn dann sei mit ihm „nicht gut Kirschen essen“. Mit den Fedders sind wir übrigens verwandt, denn meine Urgroßmutter, (die Mutter von Peter und Justin Söntgerath war eine geborene Fedder).

Man suchte sich damals hier auf dem Lande den jeweiligen Lebenspartner am liebsten in der Nähe, möglichst aus dem gleichen Dorf. Das hatte gleich mehrere Gründe. Zum einen waren die Verkehrsmittel natürlich noch nicht vorhanden, und „auf Schusters Rappen“ auf „die Frei“ zu gehen, war nicht nur zeitaufwendig sondern auch unbequem. Zum anderen dachte man auch ganz praktisch. Da fast alle von der Landwirtschaft lebten, kam es hier und da ganz gelegen, wenn man als „Mitgift“ ein in der Nähe gelegenes Stück Land dazu erhielt. Es soll ja auch nicht selten vorgekommen sein, das sich wegen ein paar Morgen Ackerlandes das Jawort gegeben wurde. Von einer „Liebesheirat“ konnte man da ja nicht gerade reden. Naja - vielleicht ist dann später im Laufe der Zeit für die beiden die Liebe auch noch dazugekommen.

Die 6 Häuser unseres Dorfes lagen alle doch ziemlich weit auseinander. Außer den beiden Häuser Dalmus - Fedder lagen sie aber alle am Dorfweg. Der Dorfweg hatte ungefähr den gleichen Verlauf wie heute. Ab unserem Haus nahm er damals jedoch eine völlig andere Richtung zur Straße hin. Hinter unserer Scheune, führte er nach einer scharfen, fast rechtwinkligen Linkskurve zuerst an unseren beiden Weiden vorbei, dann durchquerte er ein kleines Wäldchen, um dann schließlich den Rokenbusch zu erreichen. Dort mündete er auf den „Oberhauser Weg“ der damals fast in gerader Linie von Oberhausen zu Neunkirchener Straße führte. Parallel zum Dorfweg zog sich aber noch ein an mehreren Stellen von niederem Gebüsch überwachsener Waldweg durch den Rokenbusch. Sein Verlauf lag ziemlich genau an der Stelle der heutigen Straßenführung. Wir Kinder benutzten ihn an heißen Sommertagen gern wegen des kühlen Waldschattens. Die Stelle, wo dieser Waldweg in die unten beschriebene Abkürzung mündete, wurde damals allgemein „op dr Käjelbahn“ (auf der Kegelbahn) genannt.

Damit hatte es folgende Bewandtnis, wie mir meine Oma erzählte. Die älteren Burschen unseres Dorfes hatten sich dort in früheren Jahren eine Kegelbahn gezimmert. Nun weiß ich auch nicht, ob diese Bahn aus Brettern oder hart gestampftem Lehm bestand. Man traf sich dort nach Feierabend und an Sonntagen zum Kegeln. Der Kegelsport war damals wie heute hier in den ländlichen Regionen sehr beliebt. Viele Dörfer besaßen damals eine solche „Freiluft-Kegelbahn“. In Büchel gab es bis in die 50er Jahre noch so eine Bahn, direkt entlang des Brölbaches. Sie war in ihrer ganzen Länge überdacht, hatte aber keine massiven Wände. In Gerlinghausen existiert heute noch eine solche Kegelbahn, inzwischen aber massiv und mit allem Komfort ausgestattet. Sie stammt auch noch aus jener Zeit. Jedenfalls habe ich trotz eifriger Nachforschung damals, - die Erzählungen meiner Oma hatten mich natürlich sehr neugierig gemacht, - keine Spur mehr von unserer alten Kegelbahn entdecken können.

Wollte man nach Wohlfarth, zur Kirche in Kreuzkapelle oder Richtung Much, dann konnte man die oben erwähnte Abkürzung benutzen. Das war aber ein ziemlich morastiger, von Kühen und Fuhrwerken ausgetretener Hohlweg. Er führte an der eben beschriebenen Linkskurve geradeaus zur Straße. Dieser Weg war nach starken Regenfällen besonders natürlich im Winter unpassierbar, es sei denn, der Boden war hart gefroren. Auch die Fuhrwerke benutzten den Weg kaum noch, da die Radspuren inzwischen tief ausgefahren waren, so dass sie darin stecken blieben. Trotzdem bin ich diesen Weg oft und gern gegangen, vielleicht auch aus Bequemlichkeit, denn der Bogen über den Oberhäuser Weg war doch ganz schön groß. Ich hatte da meine ganz persönliche „Reiseroute“ zurecht gezimmert. Mal ging es ein Stück durch den Wald, mal sprang ich über den Graben. Ich hatte es mir so gut eingeprägt, dass ich mich auch noch zurechtfand wenn es stockdunkel war, und das hieß schon was in diesem urwald-ähnlichen Gelände.

Ich erinnere mich noch gut, wenn ich im Winter spätabends von der Tambourcorps-Probe diesen Weg nach Haus nahm, dass ich keine Hand vor Augen sehen konnte und ich deshalb meine Augen zum Himmel hob, - (jedoch nicht, um vor lauter Angst zu beten), sondern damit ich oben zwischen den Bäumen vielleicht einen Zipfel vom etwas helleren Himmel erwischte, nach dem ich mich dann orientieren konnte. Einmal jedoch habe ich auf diesem Weg dann doch richtige Todesangst ausgestanden. Wieder war ich mit meinem Fahrrad von der Probe unterwegs nach Haus, als ich plötzlich im dunkelsten Teil des Weges das bestimmte Gefühl hatte, nicht allein zu sein. Dann hörte ich um mich herum ein Rascheln und Grunzen, welches mir die Gänsehaut über den Rücken zog und den Angstschweiß auf die Stirne brachte. Es war Ende der 40er Jahre, als hier bei uns die Wildschweinplage in voller Blüte stand. Die Biester konnten sich ja ungestört vermehren, da es  keinen Jäger gab, der sie abknallte. Die Militärregierung hatte ja deren Jagdwaffen eingezogen. Als mir bewusst wurde, was da um mich herum vor sich ging, schulterte ich mein Fahrrad und eilte so schnell ich konnte durch das halsbrecherische Gelände Richtung Heimat. Ich beruhigte mich erst, als ich die sichere Haustür von innen zugeschlagen hatte. Im Geiste hatte ich mich schon auf den Hauern eines wilden Ebers gesehen. Dabei hatten die Schwarzkittel wohl nur nach den massenweise auf dem Boden liegenden Eicheln gesucht.

Es wäre natürlich eine Illusion, zu glauben, wir hätten es damals geschafft, bei ungünstigen Witterungsbedingungen jemals irgendwo mit sauberen Schuhen anzukommen. Wenn es regnete, verwandelte sich der feine, knöcheltiefe Staub unserer „Dorfstraße“ sofort in einen zähen Matsch. Auch das Hüpfen über die spärlich herausragenden Schottersteine oder der riskante Gang über den schmalen Grad zwischen Weg und Graben half da nicht viel. Hatte man die Straße erreicht, dann wurden die Schuhe erst mal im Gras notdürftig gesäubert und weiter ging’s.

Der feine Lehmstaub ergab für uns Kinder übrigens ein ideales Baumaterial für alle möglichen Dinge. Wir verarbeiteten ihn unter Hinzufügen einer bestimmten, genau proportionierten Menge Wasser zu einem sämigen Brei. Diesen Brei füllten wir dann in ausrangierte Kuchen- und Puddingformen, die wir bei der Mutter in der Küche „abgestaubt“ hatten. Wenn dann der Brei in der Sommersonne knochentrocken geworden war, stülpten wir die Form vorsichtig um und vor uns stand der herrlichste „Rohdon-Kuchen“ - zum reinbeißen schön. Leider bestand er aber nur aus Dreck. Trotzdem ließen wir die Kuchen in ihrer ganzen Pracht tagelang auf der kleinen Bank neben unserer Trauerweide zur Besichtigung für die Vorübergehenden stehen. Das ging dann meistens so lange gut, bis sich eines Tages der „Horchs Paul“ aus Feld, - (mit seinem richtigen Namen hieß er Paul Krawinkel) - auf seinem Heimweg aus der Schule  in purem Übermut die herrlichen Gebilde schnappte und sie genüsslich vor meinen Augen auf die Erde fallen ließ, so dass sie in tausend Stücke zerbrachen. Heulend lief ich dann zur Oma um ihr die Schreckensnachricht zu überbringen, (mit dem klaren Hintergedanken, das sie den Übeltäter wohl zur Rechenschaft ziehen würde). Die sagte dann aber nur: „Jong, dann mosste jo en Neuen backen“. Dem Paul habe ich das aber nie vergessen! ---

Wie ich bereits mehrfach erwähnt habe, lebten die meisten Familien damals hier bei uns von der Landwirtschaft. Es waren vielfach kleinere Betriebe. Wenn es die Größe zuließ, war ein Pferd vorhanden. Ansonsten benutzt man als Zugtier einen Ochsen, (das war ein kastrierter Stier) mit zumeist riesigen Hörnern an seinem Schädel. Diese Ochsen zeichneten sich durch ihre überaus stoische Ruhe und ihren, an die Nerven gehenden, langsamen Gang aus. Hatte man einen Ochsen im Gespann, brauchte man jede Menge Zeit und Geduld, - aber davon war ja damals immer genug vorhanden. Weiter kamen noch Kühe als Zugtiere in Frage. Wenn die Kühe nun den ganzen Tag „im Einsatz“ waren, machte sich das beim abendlichen Melken natürlich negativ bemerkbar.

Im Stall standen, je nach der Morgenzahl von Ackerland und Grünflächen bis zu einem Dutzend Kühe, Rinder und Kälber. Wir lagen mit unseren zwei Kühen im unteren Größenbereich. Wer damals mehr als zwölf Milchkühe aufzuweisen hatte, zählte schon zu den Großbauern. Davon gab es aber nur wenige damals.

Zur weiteren „Grundausstattung“ gehörte natürlich das obligate Schwein, (oder auch mehrere). Es war ja der Fleisch-Lieferant schlechthin. Hier und da hielt man noch ein oder zwei Schafe. Die gaben nicht nur Milch sondern lieferten auch die begehrte Schafwolle. Wir besaßen übrigens neben unseren beiden Kühen und einem Schwein ebenfalls ein Schaf.

In den Wintermonaten saßen meine Oma und meine Mutter oft am Spinnrad und spannen die Wolle zu einem gleichmäßigen dünnen Faden. Ich habe als Kind oft stundenlang zugeschaut. Manchmal durfte ich es auch selber probieren. Dabei merkte ich dann, dass das gar nicht so einfach war, wie es aussah. Oben musste man die Wolle schön gleichmäßig auseinander zurren, damit der Wollfaden später keine   „Knubbeln“ zeigte. Unten durfte man das Treten nicht vergessen, damit das Spinnrad in Bewegung blieb.

Meine Mutter strickte  aus dieser Schafwolle mollig warme Pullover, Socken, Handschuhe und Mützen für den Winter. Diese Sachen hielten auch der dicksten Kälte stand. Manchmal tauschte man weiße Wolle gegen schwarze. Mit dieser schwarzen Wolle, (sie stammten von schwarzfarbenen Schafen), konnte man beim Stricken schöne Muster einarbeiten. Ich erinnere mich noch gut an einen solchen Pullover. Seine Vorderseite zierte eine schwarze Rentierherde. Ich habe ihn manchen Winter, und noch während meiner Schulzeit getragen.

Unser Schaf wurde uns dann im Winter 1945 / 46 gestohlen. Man hatte es des Nachts aus dem Stall geholt. Es müssen zwei Männer gewesen sein. Der eine hatte einen Krückstock oder so was ähnliches mit sich. Ihre Spuren ließen sich im Schnee gut verfolgen. Sie führte über die Hohe Fuhr zur Straße nach Birrenbachshöhe. Dort verlor sie sich aber leider. Es war ja kurz nach dem Krieg und es herrschte überall Hunger. Darüber hinaus war so genanntes „Schwarzschlachten“ streng verboten und wurde sehr hart bestraft. So ein geklautes Schaf brachte da schon einiges.

Mein Vater hat jedenfalls sofort reagiert. Bis dato war unser Stall nicht sonderlich gesichert. Mit einem Stemmeisen oder dergleichen ließen sich beide Stalltüren bequem aufbrechen. Nun tüftelte sich mein Vater ein ausgeklügeltes „Sicherheitssystem“ zurecht, das in seiner Einfachheit und Wirksamkeit seinesgleichen suchte. Zuerst brachte er an den Innenseiten der Türen, - ziemlich in der Mitte, - aus starkem Bandeisen große Ösen oder Schlaufen an. Durch diese Schlaufen wurde sodann ein dickes Bohlenbrett geschoben. Dadurch waren die Türen von innen effektvoll verriegelt. Es bedurfte nun schon einer größeren Kraftanwendung, die Türen von außen aufzubrechen. Jedenfalls wäre das kaum ohne Lärm vonstatten gegangen. Der besondere Clou dabei war aber folgender: Wie ließe sich nun die letzte Tür verriegeln. Man musste ja schließlich selber noch den Stall verlassen. Die Lösung war einfach, aber darauf mute man erst einmal kommen: Mein Vater stemmte in Höhe der Türschlaufe einen schmalen Schlitz durch das Lehmgefach der angrenzenden Scheunenwand. Von der Scheune aus konnte er nun den Bretterbohlen quer durch die Schlaufe schieben. Um dieses Loch im Gefach allzu neugierigen Blicken zu verwehren, befestigte er mittels eines Nagels ein Brett über der Stelle und ließ es wie zufällig herunterbaumeln. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, einen derartigen Sicherheitsmechanismus dahinter zu vermuten.

Dem Tüschenbönners Willi habe ich dann die ganze Sache irgendwann einmal vorgeführt, worauf ein heftiges Donnerwetter meines Vaters fällig war. Erst, nachdem Willi ihm hoch und heilig versprach, kein Sterbenswörtchen davon verlauten zu lassen, beruhigte er sich wieder. ---

Zu jedem Bauernhof gehörte natürlich auch ein Hühnerstall mit einer entsprechenden Anzahl Hühner nebst einem Hahn. Ab und zu wurde „en Klotze jesatzt“. („Klotze = Glucke) Man legte eine Anzahl Hühnereier, - manchmal waren es aber auch Gänse- oder Enteneier,  unter die Glucke welche diese dann in geduldigen Sitzungen ausbrütete. Der Glucke war es später ziemlich egal, ob nun eine Schar Hühner- oder Gänse-Küken hinter ihr her trottete. War man auf vielerlei Umwegen glücklicher Besitzer einer Truthenne (wir nannten sie „Schrute“) geworden, dann ließ man sie das Brütgeschäft übernehmen. Wegen ihrer Größe passten natürlich etliche Einer mehr ins Nest. Puten gingen auch sehr fürsorglich mit ihrem Nachwuchs um und sie waren auch deshalb als Glucke sehr gefragt. Sie ließen sich als Küken jedoch sehr schwer aufziehen. Sie waren nämlich sehr empfindlich. So vertrugen sie keinen Regen, - und das wussten sie scheinbar selber auch. Bei den ersten Regentropfen liefen sie schleunigst unter das schützende Dach. Von ihrer Unart, sich am Abend mit Vorliebe einen Schlafplatz im nahen Gebüsch zu suchen, habe ich ja schon in einem vorigen Kapitel erzählt.

Gegessen wurde damals, was Landwirtschaft, Gemüse- und Obstgarten hervorbrachte. Die Mahlzeiten bestanden hauptsächlich aus Karoffelgerichten, Gemüse, Brot, Obst (frisch, eingekocht oder getrocknet) und Milch bzw. jede Menge Milchsuppen. Einen Teller Brei, Milch- oder  Reisbrei gab es fast jeden Abend. In den Brei gab man Pflaumen aus dem Einkochglas oder getrocknete Pflaumen. Das war dann der „Quetschenbrei“. (Quetschen = Pflaumen).Und natürlich ab und zu die von mir - (heute noch) – heiß geliebten „Flötstücke“. Das waren rohe Kartoffelscheiben, die in der Pfanne auf Speckwürfeln gar geröstet bzw. gedünstet wurden. Zwischen die einzelnen Lagen kam dann Pfeffer und Salz und natürlich tüchtig Zwiebeln. Aber dass habe ich ja schon ausführlich beschrieben. Überhaupt gab es abends fast immer warmes Essen. Das sieht zwar aus heutiger Sicht ziemlich eintönig aus, es gab jedoch auch damals bei den einzelnen Mahlzeiten manche Variationen. Viele sind in Vergessenheit geraten, einige wurden inzwischen wieder neu entdeckt.

So gab es morgens schon mal „Kaffee on Epel“. Das waren gekochte Salzkartoffeln. Die aß man einfach so zu einem Butterbrot. Manchmal kam auch ein Stück Butter mit auf den Teller. Die heiße Kartoffel wurde mit der Butter bestrichen. Dazu gab es Kaffee. Das war meistens „Muckefuck“, so nannte man den damals üblichen Malzkaffee (geröstete Gerste). Echter Bohnenkaffee war teuer und rar. Trotzdem erinnere ich mich noch gut daran, das meine Oma und meine Mutter sich des Öfteren am Nachmittag ein Tässchen Bohnenkaffee gönnten. Später dann in den Kriegsjahren wurde der Bohnenkaffee zum reinen „Luxusartikel“. Man bekam ihn nur noch auf Lebensmittelkarte, und das waren nur einige hundert Gramm. Dann wurde auch schon mal „ennen op den Ooest jeschott“, das heißt, man brühte den Kaffee zweimal auf. Jedoch auch während des Krieges gab es bei uns immer Bohnenkaffe, wenn auch in kleinen Mengen. Dafür sorgten Tante Anna und Tante Trautchen, welche beide ja ein kleines Lebensmittelgeschäft führten, (einen „Tante Emma-Laden“, wie man heute sagt).

Die meisten Dorfbewohner nannten ein Backhaus (das „Backes“) ihr Eigen. Darin buk man Schwarzbrot und Weißbrot (den „Blatz“). Im hölzernen Teigtrog („Deechtrooh“) wurde der Sauerteig für das Schwarzbrot angesetzt und meistens mit den Füßen geknetet. Nach dem Abbacken des Schwarzbrotes war dann noch genug Hitze vorhanden, um noch einige Blätze gar zu bekommen. Das Backes war ein, aus schweren Bruchsteinen gefügtes, quadratisches Häuschen und es stand vielfach etwas abseits vom Haus. Bei uns war es ja, wie bereits beschrieben, ins Haus integriert. Es gab aber auch die Möglichkeit, den gedroschenen Roggen und Weizen an eine Mühle oder Bäckerei zu geben. Man erhielt dafür eine bestimmte Anzahl Gutscheine, die man dann gegen das Brot eintauschen konnte.

Der Brotaufstrich bestand in der Hauptsache aus Schichtkäse (Quark), Marmelade, Gelee aus eigenen Früchten hergestellt, (aus Pflaumen, Kirschen, Johannes- und Stachelbeeren),  und natürlich Apfel- und Birnenkraut. „Krutt“ fehlte damals in keinem Haushalt. Im Herbst wurde das Obst, (meistens Fallobst) eingesammelt und zur „Kruttpatsche“ (Krautkocherei) gefahren. Dafür erhielt man im Gegenzug etliche Zehn-Liter-Eimer Apfel- oder Birnenkraut. Das hielt dann das ganze Jahr.

Was man nicht selber erzeugen, bzw. nur unter großem Aufwand selber herstellen konnte, musste man natürlich kaufen. Dafür gab es dann die kleinen Lebensmittel- Geschäfte, auch „Kolonialwaren-Laden“ genannt. Sie waren gleichmäßig über die Dörfer verstreut. Jeder Laden hatte da so sein „Einzugsgebiet“ - seine Stammkundschaft. Der Name „Lebensmittelgeschäft“ ist eigentlich untertrieben, denn man bekam hier so ziemlich alles, was man damals für den täglichen Bedarf in Haus und Landwirtschaft benötigte. Das ging von Nägeln, Schrauben und Werkzeug über Strickwolle, Nähzwirn und Textilien bis zu Sensen und zum Heu-Rechen. In Birrenbachshöhe betrieb Ernst Utsch mit seiner Frau einen Laden. In Ober-Feld, (an der Neunkirchener Straße) „om läddijen Böggel“ war Peter Müller mit Gastwirtschaft und Lebensmittel zugange. Das war sehr praktisch, konnte man  sich doch nach getätigtem Einkauf einen Schnaps genehmigen.

In Kreuzkapelle gab es gleich zwei Läden. Lisa Knecht, -  (später heiratete sie Heinz Straßfeld, unseren Küster. Von ihm werde ich noch sehr viel berichten) - hatte ihr Geschäft gegenüber der Kirche und Otto Schönenbrücher (genannt „Ö“) betrieb neben der Landwirtschaft mit seiner Frau Maria ebenfalls einen Laden, wobei eine unverheiratete Schwester  von Otto mit Namen Anna nebenan eine Gatswirtschaft führte. Diese beiden Geschäfte erfreuten sich am Sonntag-Morgen des meisten Zuspruchs. Das kam daher, weil man praktischerweise damals den sonntäglichen Kirchgang mit dem Einkauf verband. Man erledigte ja alles zu Fuß. Das Geschäft lag am Wege und was lag also näher. Ein Ladenschlussgesetz kannte man ja damals noch nicht und der Kaufmann freute sich auch am Sonntag über Kundschaft. „Unser“ Lebensmittelgeschäft befand sich auf der Wohlfarth und es gehörte Justin und Paula Söntgerath. (Justin war der Sohn vom Bruder meines Großvaters, - dem alten Justin hier aus dem Dorf - und demzufolge der Vetter meiner Mutter). Hierbei an Vergünstigungen durch diese Familienbande beim Einkauf zu denken, wäre allerdings fehl am Platz. Paula und Justin waren durch und durch Geschäftsleute. Während Justin von Natur her eher etwas gutmütig war - er betrieb nebenher auch noch eine kleine Landwirtschaft, herrschte seine Frau Paula hinter der Ladentheke. Sie hatte, wie man so sagt, Haare auf den Zähnen und sie konnte ihrer Kundschaft manchmal ganz schön schnippisch Bescheid geben. Ich erinnere mich noch gut, dass meine Mutter manchmal wutentbrannt von der Wohlfarth kam, weil die Paula sie wieder einmal mit ihrem Mundwerk bearbeitet hatte. Das alles konnte sich die Paula ja erlauben, denn sie lag sozusagen  mit ihrem Geschäft „außer Konkurenz“ - und das wusste sie auch. Wohin sollten wir auch groß ausweichen ohne Verkehrsmittel. Und schließlich, wie bereits erwähnt, waren die Söntgerath’s versierte Kaufleute und ihr Laden besaß für damalige Verhältnisse eine reichhaltiges Sortiment an Waren aller Richtungen. War etwas nicht vorrätig, so konnte man sicher sein, dass es schnellstens besorgt wurde. Benötigte die Mutter rasch etwas für den Haushalt, so wurden ich nach der Wohlfarth geschickt. Wenn eben möglich, taten wir Kinder uns da zusammen denn gemeinsam ging es sich besser und es war nicht so langweilig, trotz der 5 Minuten, die wir brauchten. Meistens ging es ja nur um „für einen Groschen Hefe“. An der Hefe naschten wir auch mal auf dem Heimweg. Das ergab ein merkwürdiger kalter, prickelnder Geschmack auf der Zunge. Waren mehrere Teile zu transportieren, so benutzte man ein „Einkaufsnetz“ oder eine Tasche. Zucker, Salz, Mehl und ähnliches wurden in Papiertüten abgewogen. Überhaupt wurde damals so ziemlich alles in Pergament- Zeitungs- oder Packpapier verpackt. Kunststoff-Tüten oder die Tausend Dinge aus Plastik, die heutzutage selbstverständlich sind, waren in meiner Kindheit ja noch nicht erfunden. Haushaltswaren, Gebrauchsgegenstände aller Art und auch Kinderspielzeug wurden aus Holz, Blech oder Aluminium (Leichtmetall) hergestellt.

Das Thema Müllbeseitigung, - heute zu einem ständig wachsenden Problem geworden - spielte damals kaum eine Rolle. Papiertüten und ähnliches wurde so lange benutzt, bis es auseinander fiel. Dann steckte man es in den Ofen. Für einen alten Kessel oder Topf fand sich immer noch Verwendung. Weggeschmissen wurde eigentlich nichts. Küchenabfälle fanden entweder Verwendung bei der Viehfütterung oder man warf diese auf den Misthaufen. Wenn sich zu viel altes Gerümpel angesammelt hatte, trug man es in eine alte Lehmkuhle im Wald. Dort störte es niemand. Unser heutiges „Plastik-Zeitalter“ hat uns zwar viel Gutes gebracht und ist auch gar nicht mehr wegzudenken, aber das unverrottbare Material stellt auch ein großes Entsorgungsproblem dar.

Doch wir waren beim Einkaufen. Im Sommer durften wir uns für 10 Pfennig (5 Tütchen) Ahoi-Brause kaufen. Ein Tütchen Brausepulver wurde aber schon auf dem Heimweg mittels angefeuchtetem Finger leer geleckt. Wenn wir als Kinder „Kaufladen“ spielten, nannten wir das einfach: „Wir spielen Justin und Paula“. Es ist schon schade, dass diese alten Läden inzwischen fast alle „das Zeitliche gesegnet“ haben. Nur ganz vereinzelt existieren noch ein paar aus der damaligen Zeit.

Damit die Winterabende nicht zu lang wurden, traf man sich damals „zum Nopern“ (zum Nachbarn gehen). Man traf sich also, nachdem der Stall versorgt war, und man zu Abend gegessen hatte, beim Nachbarn. Es waren meistens die Männer, die sich rund um den Tisch zusammensetzten. Man erzählte sich die Neuigkeiten, die Tagesereignisse und Begebenheiten und überlegte auch schon mal anstehende Dinge, die für sie oder das Dorf von Bedeutung waren. Dabei wurde dann so manche Pfeife gestopft. Zu vorgerückter Stunde konnte man sich vor lauter Tabakqualm manchmal kaum noch die Gesichter erkennen. Fenster aufmachen ging nicht. Erst einmal waren die Fensterläden ja zu und überhaupt war es schön mollig warm in der Stube - und das sollte auch so bleiben. Alkohol war Nebensache. Hier und da brachte mal einer einen „Stomp“ in der Flasche mit und man genehmigte sich eine „Klaren“. Wenn sie dann des Abends bei uns zusammen saßen, habe ich immer versucht, mich „unsichtbar“ zu machen und habe mit „langen Ohren“ ganz still in einer Ecke gesessen und ihren interessanten Erzählungen gelauscht. Bis dann aber plötzlich meine Oma fragte: „Wo ös dann dä Jong?“ - Und es ging ab in’s Bett. ---

Im Jahre 1949 gründete sich der Ernteverein Wohlfarth mit dem Ziel, jährlich im Herbst ein Erntedankfest zu feiern. Neben der abendlichen Tanzveranstaltung war und ist der am Sonntag-Nachmittag stattfindende Erntezug mit den vielen prächtig geschmückten Erntewagen die Hauptattraktion.

Gleich von Anfang an beteiligte sich unser Dorf mit einem Erntewagen am Festzug. Den Anstoß zum Bau unseres ersten Erntewagens kam - man höre und staune - aber nicht von den Männern sondern die „Triebfeder“ war unsere Sofie Kraus. Es ist überliefert, wie die Sofie bei den  Beckers  in die Stube stürmte um dort den Jupp für die Sache zu begeistern. Unglücklicherweise hatte sie gerade den falschen Zeitpunkt erwischt, denn der Jupp hielt eben seinen wohlverdienten „Ennongder“ (Mittagsschlaf), bei dem man ihn nur stören konnte, wenn man anschließend ein größeres Donnerwetter in Kauf nehmen wollte. Das wusste Sofie natürlich auch, aber sie wusste auch mit dem Jupp umzugehen.

Nach anfänglicher Skepsis und allerlei Ausreden und Vorbehalten ließ der sich dann überzeugen. Im großen Innenhof bei den Beckers wurde der erste Erntewagen, - und alle nachfolgenden auch gebaut. Ich erinnere mich noch an ein paar Motive aus jenen Jahren. So trug ein Wagen einen voll „unter Dampf“ stehenden Küchenherd. Auf  der einen Herdseite wurde Schnaps gebrannt und auf der anderen Seite wurden leckere Reibekuchen gebacken. Mittels einer Beschriftung musste die Sache nun aber auch den Zuschauern kundgetan werden und man überlegte angestrengt und dachte über einen passenden Spruch nach. Noch heute erinnere ich mich genau an den Augenblick, als der Krusen Willi wie aus heiterem Himmel plötzlich sagte: „Was stört uns Polizei und Zoll, de Hauptsach ös, mir werden voll!“ Als dann der Käthe Bohlen (unsere Haushälterin) die alte Kölner Redensart: „Met Rievkochen kann mer och Wind machen“ einfiel, war die Sache perfekt. Das Ganze musste nun auf weiß gestrichene lange Bretter gemalt werden. Diese Arbeit oblag mir, weil bekannt war, das ich einigermaßen gut malen konnte.

Ein andermal hieß das Motiv: „Milchverwertung ohne Abzüge!“ Auf dem Wagen war eine Zentrifuge installiert. Der dort gewonnene Rahm wurde im Butterfass zu Butter verarbeitet,  wie im richtigen Leben. Zusätzlich hatte man noch ein Kalb auf den Wagen gehievt. Das bekam dann die Magermilch zu trinken.

Was der Beckers Jupp und der Kraus in die Hand nahm, gestaltete sich im Nachhinein immer zu einem perfekten Kunstwerk. Die Seitenteile des Wagens bestanden aus Ähren und blühendem Heidekraut, durchsetzt mit allerlei Blumen. Heidekraut und Ähren wurden zum Schluss von Willi Kraus mit einer Haushaltsschere! getrimmt und zurechtgestutzt. Das ging so weit, das der Willi am Sonntagmittag bei der Abfahrt nach Wohlfarth mit seiner Schere hinter dem Wagen herlief um noch ein paar widerborstiges Hälmchen, welches irgendwo heraus lugten, abzuschneiden.       

Die Erntewagen wurden damals alle von Pferden gezogen. Traktoren waren ja noch weitgehend in der Minderheit. Auf das Pferdegespann wurde bei uns immer allergrößten Wert gelegt. Zweispännig war schon obligat - allein wegen des zu ziehenden Gewichtes. Ich glaube allerdings, der erste Erntewagen von Oberholz war einspännig und wurde von Tüschenbönners „Emma“, einem Schimmel gezogen.

Mindestens zwei Erntewagen aus Oberholz sind vierspännig gezogen worden, mit je zwei Schimmeln und zwei Braunen. Da der Pferdebestand in unserem Dorf nicht ausreichend war, lieh man sich die Pferde in den Nachbardörfern aus. Einen Erntewagen vierspännig zu fahren, galt auch damals schon als kleine Sensation. In den ersten Jahren wurden die schönsten Erntewagen noch prämiert. Unsere stärkste Konkurrenz war da immer das Dorf Löbach. Während wir meistens mit Aufbauten wie Häuschen mit Dach aufwarteten, hatten die Löbacher vielfach einen prächtigen Blumenwagen. Schon legendär geworden ist ihr Wagen mit dem riesigen, aus Hunderten von bunten Dahlien hergestellten Füllhorn, aus dem wiederum ein ganzer Schwall Blumen quoll. Trotzdem heimsten wir einige Jahre hintereinander den Ersten Preis ein. Dadurch regte sich bei den anderen Wagenbauern langsam der Unmut, und so wurde die Preisverleihung abgeschafft. Jede Wagenbauergruppe erhielt fortan (bis heute) einen bestimmten Geldbetrag in gleicher Höhe.

So skeptisch der Beckers Josef vorher gewesen war, so intensiv setzte er sich in den späteren Jahren ein, wenn es wieder hieß: Erntewagenbau. Da wurde so manche Feldarbeit liegengelassen oder verschoben. Einmal trug unser Erntewagen ein komplettes Schindeldach. Die Schindeln hatte Willi Kraus in wochenlanger, mühevoller Arbeit hergestellt indem er mit dem Beil gleichmäßige, dünne Schindelscheiben von dicken Holzklötzen abspaltete. Das war Idealismus pur!

Der Erntezug zog, wie bereits erwähnt und wie heute noch üblich, am frühen Sonntag-Nachmittag über die Dörfer zum Hause des jeweiligen Erntepaares. Dann ging es zurück nach Wohlfarth. Dort stand damals der große Saal. Er war im Besitz und gehörte zum Gasthaus von Heinrich und Katharina Steimel. Der Saal war ein Fachwerkbau. Er hatte, wenn man so will, die Form einer Basilika, d.h. es gab ein „Mittelschiff“ und links und rechts je ein „Seitenschiff“.  Innen konnte man die rustikale Balkenkonstruktion bewundern. An den seitlichen Stützbalken, welche den hohen Mittelteil trugen, hat sich so manch Alkoholbenebelter bei diversen Tanzveranstaltungen seinen Kopf ramponiert.

Dieser Saal war damals der Mittelpunkt aller Festlichkeiten im Umkreis. An seiner Stirnseite befand sich eine große Bühne mit leinwandbezogenen und bemalten Kulissen. Diese Kulissen waren wie große Lamellen oben und unten befestigt und sie ließen sich drehen. Man erhielt dann sozusagen „im Handumdrehen“ eine Landschaft mit Wäldern Bäumen und Wiesen. Auf der anderen Seite befand man sich in einem Wohnraum.

Die Errichtung des Saalbaues muss so Ende der 20er Jahre gewesen sein. Der Krusen Hein erzählte mir nämlich vom Richtfest, welches er als Kind miterlebt hat. So hatte er z.B. mitbekommen, das man, - wie damals und auch heute noch üblich -, einen „Käffer“ (Dachbalken) verschwinden ließ, der dann vom Bauherrn und der ganzen Nachbarschaft gesucht wurde. Dass dabei dann auch so mancher Schnaps gekippt wurde - und wird, - ist wohl selbstverständlich und eigentlich auch der tiefere Sinn der ganzen Aktion.

Den solchermaßen geklauten Käffer, - es muss wohl eine lange „Mittelfette“ (ein Firstbalken) gewesen sein - deponierte man auf unserem Hausspeicher, den man damals durch eine kleine Tür an der linken Giebelseite von außen erreichen konnte. Man brauchte den Balken also nur seitlich auf den Speicherboden zu schieben. Der Balken nahm, wie mir der Hein erzählte, in seiner Länge die ganze Breite unseres Hauses ein. ---

Viele Theaterstücke sind in diesem Saal „über die Bühne gegangen“. Die damalige „Jungfrauen-Kongregation“, (ein kirchlicher Verein nicht verheirateter Frauen), studierte jedes Jahr ein neues Theaterstück ein. Dieses Stück wurde zuerst - sozusagen als Generalprobe, zum Geburtstag von unserem Pastor Schiffer im kleinen Kreis im Pfarrsälchen aufgeführt. Dann war die Aufführung vor breitem Publikum im Saale Steimel. Der Saal war bei einem solchen Anlass immer bis auf den letzten Platz besetzt. Das hieß schon was, denn in den Saal passten gut und gern einige Hundert Leute rein. Die Theaterstücke waren meistens ziemlich rührselig und man tat gut daran, bei der Aufführung sein Taschentuch immer griffbereit zu halten. Ich erinnere mich noch gut an ein solches Stück, bei dem ich auch tüchtig mitgeheult habe. Es hatte den Titel: „Das Kreuz im Moor“ und es handelte von einer überaus unglücklichen und tragisch endenden Liebesgeschichte.

Nach dem Kriege (1945), als die Städte in Schutt und Asche lagen, herrschte dort große Hungersnot. So kam es, dass sich Theater- und Varieté-Ensemble zu uns aufs Land begaben um hier in den noch unzerstörten Sälen ihre Kunst darzustellen und auszuüben. Das waren oft sehr talentierte und bekannte Gruppen, die der Hunger hierher getrieben hatte. Für eine große Tüte Kartoffeln bekam eine ganze Familie freien Eintritt. Ich erinnere mich noch gut an eine Varieté-Vorstellung in Wohlfarth, die einer Großstadt-Aufführung alle Ehre gemacht hätte. Die Künstler zeigten ihr volles Programm in ihrer glanzvollen Garderobe, ohne irgendwelche Abstriche.

Auch gab es damals des Öfteren eine Filmvorführung. Für uns Kinder eine wahre Sensation. Es war für uns ja das erste Mal überhaupt, dass wir „bewegte Bilder“ zu sehen bekamen. Einmal sind wir allerdings bitter enttäuscht worden. Es sollte nämlich der neue Zeichentrickfilm „Bambi“ von W. Disney zur Aufführung gelangen. Wir zogen also mit allen Schulklassen samt Lehrer zum Wohlfarther Saal um uns diesen hoch gepriesenen Film anzusehen. Nach einigen „Vorfilmen“ begannen einige von uns, - besonders aber unsere Lehrer, (die den Braten wohl schon gerochen hatten) - unruhig zu werden, denn die Vorfilme hörten gar nicht mehr auf. Das ging dann zwei Stunden so weiter. Inzwischen hatten unsere Lehrer unter großem Protest den Saal schon lange vorher verlassen. Wir Kinder haben bis zum Schluss ausgeharrt, in der Hoffnung auf den Hauptfilm. Der war den Vorführern aber wohl abhanden gekommen. Wir hatten uns aber trotzdem gut amüsiert.

Natürlich gab es im Saale Steimel außer dem traditionellen Ernteball immer wieder Tanzveranstaltungen. Alkoholische Getränke waren damals - besonders in den Nachkriegsjahren knapp und teuer. Aber man wusste sich hier zu helfen. Da gab es überall in den umliegenden Nachbardörfern „Experten“, welche die hohe Kunst des (illegalen) Schnaps-Brennens beherrschten. Er wurde aus Kartoffeln, Rüben, Äpfeln, Pflaumen und allen möglichen und unmöglichen Ingredienzien gebraut. Diese diversen Erzeugnisse liefen unter dem Sammelbegriff „Knolli Brandi“. Jeder wusste, was damit gemeint war. Natürlich war die Schnapsbrennerei nicht ungefährlich und wenn man erwischt wurde, gab es saftige Strafen. Es wurde aber gemunkelt, dass selbst unsere Ordnungshüter oft ein Auge zudrückten, - was deren Schaden dann wohl nicht war.

Dem Wirt war es recht, wenn seine Gäste zu den jeweiligen Tanzveranstaltungen eine Flasche „Marke Eigenbau“ mitbrachten, denn sein „Repertoire“ war naturgemäß ziemlich dünn. Er verlangte dann aber ein „Stoppejelt“ (Stopfen-Geld) pro Flasche, womit auch jeder einverstanden war. Natürlich wurde da auch so manche Flasche schwarz hereingeschmuggelt. Ich erinnere mich noch gut, das wir als Kinder oft draußen an den niederen Saalfenstern gestanden haben, um den Pärchen beim tanzen zuzuschauen. Dabei kamen unsere Füße auch mal ungewollt mit einer Flasche Knolli Brandi in Berührung, die deren Besitzer in weiser Voraussicht draußen unter dem Fenster deponiert hatte, um sie zu gegebener Zeit dann klammheimlich durchs Fenster herein zu holen.

Für die Tanzmusik bei den Erntefesten, aber auch zu anderen Gelegenheiten war Remy Buchmüller aus Siegburg mit seinen Mannen zuständig. Das war ein zusammengewürfelter Haufen, - halb Blas- halb Streichmusik. Zu vorgerückter Stunde waren sie meistens betrunkener als die Gäste - spielten aber trotz allem wie eine „Eins“. Es waren halt durch und durch Musiker. (Ich weiß das inzwischen aus eigener Erfahrung)!

Einmal, zu Weiberfastnacht herrschte in musikalischer Hinsicht große Not. Die Kapelle Buchmüller war verhindert. Damals wurde in Wohlfarth ganz groß Weiberfastnacht gefeiert. Der Initiator dieses wichtigen Tages war der Damen-Elferrat „Sonnenschein“. An deren Spitze fungierte als Präsidentin Martha Fielenbach aus Köbach. In  seiner Verzweiflung wandte sich der Steimels Hein an Hermann-Josef Müller aus Bennrath, welcher ein Schlagzeug besaß und dieses auch einigermaßen beherrschte. Der holte sich wiederum den Hürholz Paul aus Sommerhausen samt seinem Akkordeon. Paul spielte die „Quetsche“ ziemlich gut, aber leider nur nach Noten, was einer gewissen Spontanität - besonders an so einem Tage sehr gefragt - natürlich  großen Abbruch tat. Wie sich die beiden über den  Abend gerettet haben, hat mir der Hermann einmal erzählt. Nur soviel: Ich bin vor Lachen fast unter den Tisch gekullert.

Für uns Kinder übte  Wohlfarth eine gewisse Anziehung aus. Da gab es z.B. eine richtige Straße, sogar mit einer Straßenkreuzung. Der Straßenverkehr verlief allerdings mehr in Nord-Südrichtung, (Richtung Neunkirchen - Much). Wenn wir uns lange genug in Wohlfarth aufhielten und wir einigermaßen Glück hatten, bekamen wir sogar schon mal ein Auto zu Gesicht. Im Winter war der „Schmettenberg“ - (der Schmiedeberg) einer der Treffpunkte zum Schlittenfahren. Salzstreuen auf der Straße war natürlich unbekannt und so hatten wir nach einigen Fahrten mit unseren Schlitten bald eine spiegelglatte Schneefläche zur Verfügung. Mit dem richtigen Schwung kamen wir dann manchmal bis hinter die Kurve von Haasen Düres Haus. (Es wurde inzwischen abgerissen). Trotz der geringeren Häuser- und Einwohnerzahl hatte Wohlfarth jedoch einiges zu bieten. Es gab dort einen Kaufladen, eine Gastwirtschaft nebst Saal und eine Schmiede. Die Schmiede vom Krusen Pitter hatte es uns Kinder natürlich angetan. Wenn wir uns dort möglichst „unsichtbar“ machten, durften wir dem Pitter beim Schmieden zuschauen. Nachdem das Eisenteil im Kohlenfeuer der Esse rotglühend geworden war, legte es der Pitter - mit einer lange Zange festhaltend -, auf den schweren Amboss. Dann wurde es mit einem dicken Schmiedehammer in die gewünschte Form gebracht. Das mutete ganz einfach, fast spielerisch an, war aber in Wirklichkeit harte Knochenarbeit. Später schaffte sich der Schmiedemeister Kraus dann einen „Elektrischen Hammer“ (wie wir ihn nannten), an. Das war ein Riesen-Ungetüm. Wenn der in Betrieb war, konnte man seine harten Schläge in ganz Oberholz hören.

Peter Kraus war aber seines Zeichens auch ein ganz versierter Hufschmied. Sein Sohn Heinrich, (besser bekannt als „Krusen Hein“) hat dieses selten gewordene Handwerk noch bis zu seinem Tode vor ein paar Jahren ausgeübt. Wenn Pferde beschlagen wurden und der Wind kam aus Richtung Wohlfarth, dann roch es bei uns im ganzen Dorf nach verschmortem Pferdehuf. Die Pferde bekamen nämlich das noch glühende Eisen erst einmal „angepasst“, natürlich völlig schmerzlos für die Tiere. Auch hier lohnte sich das Zuschauen.

Der Pitter besaß außerdem, was man diesem grobschlächtigen Kerl überhaupt nicht zugetraut hätte, eine sehr ausgeprägte poetische Ader. Aus seiner Feder stammen viele ironisch-zeitkritische Gedichte. Die meisten sind nur mündlich überliefert und inzwischen leider verschollen. Ein paar existieren aber noch, und ich werde versuchen, sie aufzutreiben und der Nachwelt zu erhalten. Der Krusen Hein hatte dieses Talent von seinem Vater geerbt und auch guten Gebrauch davon gemacht.

Auf dem Hügel neben der Schmiede, gab es ein altes Wasserbassin, von uns Kindern  einfach: „et Passeng“ genannt. Es hatte ein Ausmaß von 4 x 4 m (Länge und Breite) und es war ca. 2 m tief. Einen Meter ragte es aus der Erde und es besaß oben einen großen Eisendeckel als Verschluss. Ich glaube, es hatte in seinem Innern noch nie einen Tropfen Wasser zu sehen bekommen und ich habe auch nie erfahren, zu welchem Zweck es eigentlich errichtet wurde. Jedenfalls ließ es sich darin herrlich spielen. Mit einer provisorischen Leiter „tauchten wir ab“ ins dämmerige Innere. Wir fabrizierten uns mittels Spiegeln und einem alten Ofenrohr ein Art „Sehrohr“ mit dem wir alsdann von unten - und für andere unsichtbar, unsere Umgebung beobachteten.

Die beiden Orte Oberholz und Wohlfarth praktizierten von jeher ein, (wie man heute sagen würde), partnerschaftliches Verhältnis. Das ergab sich wohl aus deren Nähe zueinander und der geringen Einwohnerzahl der beiden Dörfer. Konnten die Einwohner von Wohlfarth eine Sache allein nicht bewerkstelligen, so mussten die Oberholzer ihnen halt „ins Rad packen“ und umgekehrt.

Ansonsten verstanden sich die Dorfgemeinschaften damals, wenn auch eher unbewusst, als so eine Art Großfamilie - mit einem guten Schuss Lokalpatriotismus. Wie in jeder Familie gab es natürlich auch mal Meinungsverschiedenheiten und Streit. Der wurde aber meistens intern beigelegt. Dass man sich längere Zeit aus dem Weg ging, war allein schon deshalb kaum möglich, weil ja jeder irgendwie auf den anderen angewiesen war. Wenn „Not am Mann war“, half man, ohne lange zu fragen. Die Türen standen immer offen und man hatte jederzeit Zutritt ohne anzuklopfen. Kam man zu einer Essenszeit, dann hieß es: „Komm, setz dech on ess jet möt“. Kam man ungelegen, bekam man es gesagt und man ging, - ohne beleidigt zu sein. Die Menschen damals waren genügsam und man war mit dem zufrieden, was man hatte. Die Moralvorstellungen waren durch den christlichen Glauben mitgeprägt. Der sonntägliche Kirchenbesuch war selbstverständlich, und - anders als heute - wurde jemand, der da nicht mittat, schief angesehen. Das führte dann natürlich auch schon mal dazu, dass sich jemand etwas halbherzig, - „wegen der anderen“ - auf den Weg zur Kirche machte. Trotzdem bin ich unbeirrbar der Meinung, das der allerorts, - besonders in den Medien - zu beobachtende Verfall der christlichen Grundwerte für unsere heutige Gesellschaft schwere Probleme aufwerfen wird. Eine unheilvolle Symbiose hat sich aufgetan: Die Kirchen werden leerer und die Straf-Vollzugsanstalten platzen aus allen Nähten!

Ich möchte dieses Kapitel nun mit einem kleinen Gedicht von mir zum Abschluss bringen. Ich habe dieses Gedicht auf unserem Dorffest in der zur „Festhalle“ umfunktionierten Scheune der Familie Tüschenbönner am Abend des 3. September 1994 den anwesenden Dorfbewohnern vorgetragen:

 

Wie es damals war.

Nun sind es fast die 60 Jahr das ich in Oberholz geboren war. Doch immer wieder geht mein Sinn zu jenen alten Zeiten hin. Erinnerungen sind dem Menschen eigen, beim Älterwerden wir des Öfteren dazu neigen. Man spricht dann gerne von der guten alten Zeit, die manchmal noch so lebhaft vor uns steht - und doch so weit. Wir denken an vergangne heile Welt, in der das Gute stets die Oberhand behält. Doch schaun wir näher hin, wird schnell uns klar, dass das nicht immer und nicht überall so war. Wenn unsere Gedanken die Vergangenheit betrachten, so sollten wir die Lebensart der Menschen jener Tage nicht verachten und sollten uns auch machen klar, das Reichtum meist’ für sie ein Fremdwort war.
So war es auch in unserm Dorf, das damals noch sehr klein, es passten grade mal sechs Häuser rein. Von Kindesbeinen war man sich vertraut, in Freud und Leid man aufeinander baut. Die Häuser aus Fachwerk und aus Lehm, sie waren zweckmäßig und bequem. Im Winter warm, im Sommer kühl das gab ein  naturnahes Lebensgefühl.
Natur gab’s bei uns pur - ohne Verschnitt, man lebte mit ihr auf Schritt und Tritt. Wildkräuter wuchsen, und Brennnesseln auch, statt grüner Rasen wuchs Kappes und Lauch. Heut' tut man sich wieder langsam besinnen, will das Ursprüngliche zurück gewinnen, schafft „Feuchtbiotope“, der Umwelt zum Wohl, die gab’s damals auch - wir nannten sie „Kräddepohl“.
Da ratterten keine Traktoren durchs Feld, mit Pferden und Kühen wurde der Acker bestellt. Das ging soweit alles in gemächlichem Trab und niemanden wurde die Zeit dabei knapp. Der Kaffee, der wurde ins Feld gebracht,  das haben wir Kinder oft gemacht. Mit manch´ leckeren Sachen der Tisch heut´ gedeckt, doch wie damals im Feld hat’s mir niemals geschmeckt.

On wenn dä Hännesjes Willi trof dann dän  Beckersch Jupp, wurd iersch es möt Rauhen de Piefe jestop. Nu jeng et an´t planen möt vill Bedacht, on för dat Peed hat mer en ehnem dann och es en Paus jemacht. War die Arbeit getan, dann spannte man aus, und begab sich auf den Weg nach Haus. War der Durst gar zu mächtig, so wurde zuletzt, am Schweizersch Huus en Emer Wasser jepötzt. Den Pötz vor dem Haus, den gab's überall, hier pützte man Wasser für Haus und Stall. S´ ist müßig, wenn man’s mit heute vergleicht, seine kühle Köstlichkeit bleibt unerreicht.
Der Garten und die Feldarbeit bestimmten den Rhythmus der Jahreszeit. Die meisten Stunden man dort verbracht, denn alles wurde mit der Hand gemacht. Wenn es Abend wurde, damals im Mai, am Piddesch Krütz waren alle dabei. Mit kräftiger Stimme betete Justin vor, ich habe noch heut´ seine Stimme im Ohr.
Und warum sollte ich es hier verschweigen, wir nannten auch ein Freibad unser Eigen. Von Schilfrohr umkränzt, nicht wie heute so fein, doch biologisch sauber und chemisch rein. War uns Kindern die Sommerhitze zuviel, dann war der Brandweiher unser Ziel. Von Badeanzug keine Spur, da tat’s die Unterhose nur.
Wenn die Abende lang bei der Winterzeit, die Wege und Pfade tiefverschneit, da machte man halt das Beste draus', man traf sich zum „nopern“ im Nachbarshaus. Ging man durch's Dorf in jenen Tagen, hörte man überall die Dreschflegel schlagen. um das Korn dann zu lösen von Spreu und von Grannen, mußte man´s nachher in der Wannmühle wannen. In meiner Kindheit Wintertagen gab´s reichlich Schnee in allen Lagen. Und war die Schule endlich aus, dann zogen wir die Schlitten raus. Am Schweizersch-Berg und in der Gasse, da tobten wir uns aus zum Spasse. Kam der Söntgerath´s Willi mit dem „Lenkbar“ dann, war das daß Größte für uns, was man sich denken kann.
Wenn´s Schwein geschlachtet, war es bald soweit, und es begann die schöne Weinachtszeit. Et Krusen Sofie war der Nikolaus, mit Stab und Mitra kam sie dann in jedes Haus. Großartig hat sie das gemacht, wir Kinder hatten sie nie im Verdacht. So viele Jahre sind vergangen unterdessen, jedoch bleibt sie für mich stets unvergessen.
Ach ja, von unsern Alten ließ sich viel erzählen, et Wöllems Marichen taten wir Kinder oft quälen. Mit toten Mäusen sie zu necken, das brachte bekanntlich den größten Schrecken. Für den Mattes Signal zum Sturm im Wasserglas, für uns Kinder allemal ein Heidenspaß. Hier von Streit zu reden, das wäre vermessen, denn am andern Tag war alles vergessen. Denn so war es damals hier bei uns Brauch, man sagt sich die Meinung - und das war es dann auch. Wer ´nen längeren Streit versuchte vom Zaune zu brechen, tat sich meistens in´s eigene Fleisch damit stechen.
Als dann Ende der 40er Jahr das erste Wohlfarther Erntefest war, gab es nur eins für denn Jupp on denn Kruus: „Us Offels jet och en Erntewagen erus“! Gemeinsam traf man sich zur Abendstund´, und werkten los in froher Rund´. Der Kruse Willi mit Bedacht, den Feinschnitt mit der Schere macht. Vierspännig zogen wir durchs Land, Oberholz war für erste Qualität bekannt. Die andern konnten das kaum fassen, selbst Löbach musste vor Neid erblassen. Nur wenige sind heut´ noch da von der alten Sorte, die alten Zeiten erlebten in unserem Orte. Doch ihr andern - falls ihr neugierig geworden seid, fragt immer, gern sind sie zur Auskunft bereit. Ich habe versucht, mit diesen Bildern, aus unserer Vergangenheit etwas zu schildern. Wollt' Anstöße geben - Erinnerungen wecken, das alles ließ sich nur bruchstückhaft decken. Heut´ propagiert man die Nostalgie, kramt nach den alten Dingen wie nie. Das ist sehr bezeichnend - ich wag´ es zu sagen, denn wir Menschen spüren ein Unbehagen. Allmählich dämmert uns wieder der wahre Wert, nachdem mit Asphalt und Beton wir die Umwelt zerstört. Wir müssen es lernen und wieder verstehn, auf alten Wegen neu zu gehn!  Doch nun laßt uns zusammen fröhlich sein, lasst Friede herrschen in euren Reih’n. Auf dass einer den anderen besser versteht, es grüßt euch Ecki, euer Dorfpoet.

4. Schulzeit und Krieg

Unsere Schule stand - und steht bis heute im so genannten „Suudbösch“(sumpfiger Busch), einem, von kleinen Bächen und Rinnsalen durchzogenen Wiesengrund, umgeben von Wald und niederem Unterholz. Sie ist wohl Mitte des vorigen Jahrhunderts entstanden. Aus dieser Zeit stammen übrigens fast alle alten Schulen im Umkreis. Sofern sie noch in ihrer ursprünglichen Substanz erhalten sind, erkennt man sie gut an ihrer Form und dem verwendeten Baumaterial. Die älteren Bauwerke dieser Art bestanden aus Grauwacke, wie man sie in den hiesigen Steinbrüchen vorfindet. Später errichtete man sie aus gebranntem Ziegelstein. Die Schulen bestanden aus einem Erdgeschoß und einem oberen Stockwerk. Unser Schulkomplex hatte dagegen zwei Gebäude mit je einem Obergeschoß.

Der ältere Teilbereich bestand aus Grauwacke. Hier wohnten unsere beiden Lehrer mit ihren Familien. An der nördlichen Giebelseite quer zum Wohnhaus hatte man aus gebrannten Lehmziegeln das Schulgebäude mit dem unteren und dem oberen Klassenraum errichtet. Dieses Gebäude wird wohl in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wie viele andere auch, entstanden sein. Für den Grund zum Bau all dieser Schulen muss wohl ein Erlass der kaiserlichen Regierung Pate gestanden haben. Der Kaiser wollte damals dem, besonders in den ländlichen Gebieten noch weit verbreiteten Analphabetentum ein baldiges Ende setzen, was ihm ja auch mehr oder weniger gelungen ist, (sonst würde ich diese Zeilen wohl hier nicht schreiben können).

Unsere Schule also trug die Bezeichnung „Volksschule“. Die so genannte „Unterklasse“, bestehend aus den ersten vier Schuljahrgängen, ist der heutigen Grundschule vergleichbar. Die „Oberklasse“ demzufolge der heutigen Hauptschule. Hier wurden die Schuljahrgänge fünf bis acht unterrichtet. In Much gab es dann noch die „Mittelschule“, identisch mit der Realschule heute. Die nächstgelegene „Oberschule“, - jetzt nennt man sie Gymnasium oder Kolleg, befand sich in Siegburg.

Um eine von diesen „höheren“ Schulen besuchen zu können, gehörte nicht nur Befähigung dazu sonder auch das nötige Kleingeld. Denn bei den weiterführenden Schulen mussten die Eltern an Schulgeld, Büchern und Lehrmaterial einen Anteil mit tragen. Für das erste Kriterium hätte es bei mir zur Not wohl gereicht. Aber es haperte am Geld. Als mein Vetter Paul-Günter damals zur Mittelschule nach Much überwechselte, wäre ich gerne mitgezogen. Neben dem Geldmangel hatten meine Eltern aber wohl auch kein allzu großes Interesse an der ganzen Sache. (Und was für Gefahren „demm Jong“ dabei drohen werden), wird meine Oma wohl mit ziemlicher Sicherheit in die Debatte geworfen haben.

So habe ich also, nicht zu meinem Leidwesen, wie man jetzt vielleicht denken könnte, vom ersten bis zum letzten Schultage die Schule „Oberhausen“ besucht. Es war genau die Zeit vom 18. August 1942 bis 15.März 1951. Das war gut ein halbes Jahr länger als vorgesehen, und war bedingt durch die Kriegszeit. Wir hatten ja im letzten Kriegsjahr mehrere Monate lang keine Schule besuchen können. Deshalb wurde bei uns nach Ende der regulären Schulzeit ein halbes Jahr angehängt.

Die Bezeichnung Schule „Oberhausen“ resultiert daraus, weil sich nachweislich das erste Schulzimmer in unserer Gegend über dem damaligen Kuhstall von Wilhelm Steimel zu   Oberhausen befand. Die spätere Bezeichnung  Schule „Birrenbachshöhe“ habe ich nie richtig nachvollziehen können.

Im Verlauf der letzten 50 Jahre seit meiner Schulentlassung hat sich im alten Suudbösch vieles geändert. In den 60er Jahren wurde ein neues zweigeschossiges Haus errichtet und in das alte Schulgebäude integriert. Heute ist der ganze Schulkomplex im Besitz der Maschinenfabrik Wagner. Man hat hier den Verwaltungstrakt mit zahlreichen Büroräumen eingerichtet.

Von der Straße Wohlfarth - Birrenbachshöhe kommend, führt ein breiter asphaltierter Weg zur alten Schule und weiter bis zur Ortschaft Oberhausen. Ein gleicher Weg zieht sich den Berg hoch zur Ortschaft Birrenbachshöhe. Von alledem konnte damals natürlich keine Rede sein. Ein Teil des Waldes ist inzwischen gerodet worden, die steilen Böschungen wurden begradigt und planiert. Der tiefe sumpfige Siefen in Richtung Oberhausen ist trockengelegt. So entstanden neues Ackerland und Weideflächen.

Während meiner Schulzeit gab es den Weg aus Richtung Groß-Oberholz. (Jetzt Birrenbachshöhe). Er besaß die Eigenschaften der hiesigen Dorfwege. Für Pferdefuhrwerke bestens geeignet. Zur Not ließ er sich auch mit dem Auto befahren, aber davon gab es ja nur wenige, und die verirrten sich bestimmt nicht im „Suudbösch“. Den steilen Berg hinauf nach Birrenbachshöhe verlief ein unbefestigter Feldweg der sich nach heftigen Regengüssen in einen Sturzbach verwandelte.

Zur Ortschaft Oberhausen gab es einen schmalen Fußweg, (en Pättchen). Wenn die Bauern im Frühjahr dort ihren Acker bestellten, kam es auch schon mal vor, dass dieser Fußweg,  aus Gemächlichkeit oder aus Produktivitätsgründen, zugepflügt wurde. Man musste sich dann wohl oder übel ein neues „Pättchen“ trampeln.

Aus Richtung Oberholz gab es ebenfalls nur einen Fußpfad. Er begann am unteren Ende vom „Schweizers Berg“, führte dann durch die Felder hinunter über einen kleinen Bach, dann durch ein Waldgelände zur Schule. Auf halber Höhe unseres Schulweges lag ein kleines Wäldchen, welches manchmal eine besondere Rolle spielte. Aber darauf komme ich später noch zurück. Führte der Bach Hochwasser, was besonders nach der Schneeschmelze im Frühjahr öfters vorkam, mussten wir einen ziemlichen Umweg machen. (Verspätung inbegriffen). Eine Brücke gab es ja nicht. Normalerweise sprangen wir nach einem kräftigen Anlauf über das Bachbett. Einige von uns warfen bei dieser Aktion ihren Schulranzen voraus, damit sie es beim springen leichter hatten. Unseren Schulweg benutzten meistens auch die Mitschüler aus der Ortschaft Feld. Sie hatten übrigens so ziemlich den weitesten Anmarsch zur Schule.

Es stellt sich natürlich die berechtigte Frage: Wie konnte man denn nur damals auf die Idee kommen, gerade hier in diesem unwegsamen und morastigen Gelände eine Schule zu bauen. Die Antwort liegt auf der Hand, wenn man eine Landkarte zu Rate zieht. Ihr Standort liegt nämlich ziemlich genau im Schnittpunkt aller Ortschaften ihres „Einzugsbereiches.“ Es waren dies die Orte: Oberholz, Wohlfarth, Hohn, Höhnchen, Reinshagen, Birrenbachshöhe, Löbach, Derscheid, Tüschenbonnen, Köbach, Oberhausen und Feld. Zieht man einen Kreis um die genannten Dörfer, so liegt die Schule fast genau in der Mitte. Lediglich Derscheid und Tüschenbonnen „tanzen etwas aus der Reihe“. Um allen einigermaßen gerecht zu werden, und um allen Schulkindern einen einigermaßen gleichlangen Schulweg zu ermöglichen, hatte man höchstwahrscheinlich diesen Standort ausgewählt.

Der Schulweg aus Feld betrug z.B. (mit allen eingeplanten, und oft auch unvermeidlichen „Zwischenstop’s“ - fast eine halbe Stunde. Wir Oberholzer hatten es dagegen besser. Über den vorher beschriebenen Feldweg erreichten wir die Schule in gut 5 Minuten. Bei vorhin erwähntem Hochwasser musste ein Umweg über Oberhausen oder die Landstraße in Kauf genommen werden. Dabei war natürlich klar, dass wir die Schule mit einiger Verspätung erreichten, was von Seiten des Lehrers wiederum mit eine saftige „Verwarnung“ geahndet wurde. Der Schulweg gehörte für uns zu einem wichtigen Bestandteil des Schullebens. Er wurde uns niemals als lästig, zeitaufwendig oder gar als anstrengend empfunden. Gab es hier doch ungeahnte Möglichkeiten der Zerstreuung. Wie bedauernswert sind dagegen unsere heutigen Schulkinder. Sie werden in einen Schulbus gepfercht, müssen dort ruhig auf ihren Plätzen verharren, haben keinerlei Möglichkeiten, ihrem angeborenen Bewegungsdrang zu folgen oder aufgestaute Aggressionen abzubauen. Den Wechsel der Jahreszeiten „hautnah“ mitzuerleben, bleibt ihnen auch weitgehend vorenthalten.

Sicher, sie sind wind- und wettergeschützt und erreichen oft, nicht wie wir damals,  Schule oder Elternhaus patschnass oder „weiß getüncht“ von den anhaftenden Flocken eines Schneesturmes. Aber was entgeht diesen Kindern nicht alles? Wir kannten damals ja kein Gefährt, welches uns bequem und trockenen Fußes zur Schule befördert hätte. Aber was haben wir auf unserem Schulweg nicht alles unternommen und erlebt. Manchmal auch sehr zum Missvergnügen unserer Eltern, die dann mit dem Mittagessen auf uns warten mussten. Der mildeste Ausdruck ihres Tadels war noch die Frage: „ Wo habt ihr denn heute wieder herum „getrönzelt“? (getrödelt).

Die Schulutensilien beförderten wir im „Tornister“ - dem Schulranzen. Den trugen wir umgeschnallt an Lederriemen auf dem Rücken. Das war praktisch und auch bestens für eine gerade Körperhaltung geeignet. In den ersten Jahren war die Schiefertafel obligatorisch. Trotz ihres Holzrahmens war sie von Natur aus sehr zerbrechlich. Meine Tafel hatte zeitlebens einen dünnen Riss in der Diagonale. Sie hatte wohl vor meiner Zeit einem Vetter von mir lange Jahre treue Dienste geleistet. Eine neue Tafel war teuer und in den Kriegsjahren sowieso schwer zu bekommen. Seitlich am Tafelrahmen war eine Kordel befestigt. An dieser Kordel hing der berühmte Tafellappen. Er war meistens gehäkelt, mit einem bunten Rand versehen und er hatte die ungefähre Größe eines herkömmlichen Topflappens. Ob es nun Mode war oder ob man damit den Trockenvorgang beschleunigen wollte, jedenfalls war es üblich, den Tafellappen an der Kordel seitlich außerhalb des Ranzens herunter baumeln zu lassen. Die Griffel aus Schiefermaterial wurden in der Griffeldose aufbewahrt. Der Deckel ließ sich auf- und zuschieben. Dann war da noch die Schwammdose mit einliegendem Schwamm zum Tafelreinigen. Die Schwammdose war immer mit phantasievollen Bildern geschmückt.

Die Anzahl der Bücher und Hefte war im Gegensatz zu heute recht überschaubar. Da gab es das Lesebuch mit vielen herrlichen Geschichten, Gedichten und Bildern, und das von mir wenig geliebte Rechenbuch. Später kamen dann noch ein paar andere Bücher hinzu: Erdkunde, Geschichte und natürlich die Schulbibel und der Katechismus. Einmal in der Woche kam unser Herr Pastor Schiffer zum Religionsunterricht in die Schule. Doch davon später mehr. Natürlich fehlte auch nicht das Pausenbrot, dick in Pergament- und Zeitungspapier eingewickelt. Da die Schiefertafel wie gesagt, ziemlich schnell in die Brüche gehen konnte, wurde der Ranzen bei „kriegerischen Auseinandersetzungen“, falls man ihn gerade auf dem Buckel hatte, abgenommen. Wenn also jemand bei solch einer Gefahr drohenden Situation seinen Ranzen von seinem Rücken streifte, ließ sich unschwer erkennen, dass es nun ernst wurde.

Wenn Meinungsverschiedenheiten mit der Faust ausgetragen wurden, habe ich mich immer zurückgehalten, weniger aus Feigheit als mehr um die Sorge, mein Körper oder meine Kleidung könnten irgendwelche Blessuren davontragen, was wiederum ein größeres Donnerwetter meines Vaters zur Folge gehabt hätte. Ich trachtete meistens danach, den Streit erst gar nicht aufkommen zu lassen. Wenn er aber unvermeidlich war, versuchte ich ihn mit allen Mitteln der Überredungskunst frühzeitig zu schlichten. So wurde ich dann auch prompt, als wir in der Religionsstunde über die „Acht Seligkeiten“ sprachen,  mit dem Zusatz: „der Friedfertige“ oder „der Sanftmütige“ bezeichnet, wovon ich aber auch nicht gerade begeistert war.

Die Kinder „unten aus dem Hof“, es waren ja nicht viele, benutzten als Schulweg meistens einen schmalen Pfad, der sich vom Hause Fedder durch die Talwiesen bis zum „Schollbösch“ (Schulwald) hinzog. Dort trafen wir uns dann vielfach und gingen das letzte Stück gemeinsam. Im Schulbusch, nahe unseres Weges an einem Abhang, gab es eine kleine Quelle. Das Wasser sprudelte direkt aus der Erde. Dort wurde auf dem Heimweg regelmäßig ein kühler Trank genommen, gleichgültig ob wir nun Durst hatten oder nicht. Das gehörte einfach dazu.

Am Morgen nach dem Frühstück stand ich dann gewöhnlich marschbereit an unserer Haustür und erwartete meine Schulkameraden aus Feld, die - wenn sie bei mir angelangt waren - schon einen ziemlichen Trampel hinter sich hatten. Da war zum Beispiel der Strunden Herbert. Wir beide haben übrigens vom ersten bis zum letzten Schultag nebeneinander gesessen. (Es gab ja noch jene alten zweisitzigen Schulbänke, die man jetzt nur noch in diversen Heimatmuseen bestaunen kann). Herbert war immer ein „Ass“ im Rechnen, wogegen ich mehr „der edlen Schreibkunst“ zugewandt war. Wir konnten uns also prima ergänzen, und taten es dann oft auch so ausgiebig, dass es der Lehrer nachher merkte. Er kannte ja natürlich unsere Stärken und Schwächen.

Weiter waren da die Lückeraths Jungen. Der Peter, der Herbert, der August und der Willi. Die anderen - es gab noch den Rudi und den Josef, die Maria, die Gertrud und die Monika - waren jünger und zu meiner Zeit noch nicht im Schulalter. Die Lückeraths waren eine Großfamilie. Eine so zahllreiche Kinderschar war auch damals schon eine Rarität. Die Lückeraths Kinder waren meine bevorzugten Spielkameraden. Oft war ich bei ihnen zu Hause und wir haben vieles gemeinsam unternommen. Zum Beispiel die schon erwähnte Fußwanderung nach Schloß Homburg. Die Mutter starb vor einigen Jahren im Alter von über 90 Jahren. Auch im hohen Alter ließ sie sich noch jeden Sonntag zum Gottesdienst in unserer Pfarrkirche nach Kreuzkapelle fahren. Mit ihrer glockenhellen Stimme sang sie jedes Kirchenlied mit. Als Briefträger hatte ich oft Gelegenheit, ein wenig mit ihr zu plaudern, was ich immer gerne tat, denn sie war eine hoch intelligente Frau und wenn sie ihr Recht vertrat, scheut sie  keine auch noch so hohe Behörde und Instanz. Von ihrer großen Lebenserfahrung und der daraus resultierenden Lebensweisheit könnte heute noch so mancher profitieren.

Der Lückeraths Herbert hatte,  wie auch ich übrigens, Talent zum malen. Er hat diese Begabung später zu seinem Beruf gemacht. Es lag also auf der Hand, dass wir beide wir beide in der Schule stark konkurrierten. Natürlich waren wir die einzigen, welche im Fach zeichnen und werken eine Eins bekamen. Während ich mehr mit Bleistift und Buntstiften experimentierte, machte Herbert schon in Aquarell und auch schon etwas in Öl. Auf dem Schulweg hatte Herbert die Eigenart, plötzlich stehen zu bleiben und etwas zu betrachten. Ich habe aber nie herausbekommen, um was es sich da nun konkret handelte. Wir anderen waren schon ein gutes Stück weiter, da spurtete der Herbert genau so plötzlich an uns vorbei, lief ein Stück voraus und das Ganze begann von vorne.

Dann war da noch der Horst Steimel. Er stellte insofern für uns eine Besonderheit dar, als dass er in unserer Schule der einzige „Evangelische“ war. Damit hatte aber keiner von uns Probleme, im Gegenteil: Oft wurde er von uns beneidet. Wenn wir beim Pastor Religion, oder beim Lehrer Bibelunterricht hatten, bekam Horst eine Freistunde und durfte hinaus auf den Schulhof. Das war zur Sommerzeit schön und gut, wenn auch vielleicht etwas langweilig, so allein auf dem großen Schulhof die Zeit totzuschlagen. Aber im Winter war es doch oft recht unangenehm. Dann blieb Horst auch schon mal in der Klasse sitzen, was seiner evangelischen Seele aber wohl kaum geschadet hat.

Da sich die nächste evangelische Kirche damals in Seelscheid befand, war an einen Gottesdienstbesuch am Sonntag für den Horst kaum zu denken, während wir „Katholiken“ am Sonntagmorgen zur Messe und am Sonntagnachmittag zur Andacht gingen. Natürlich alles zu Fuß. Die Messe war obligatorisch und gehörte zum Sonntag. Da gab es keine Diskussion. Aber die Andacht mit der dazu gehörenden „Christenlehre“ war oft,  besonders an einem schönen Sommer-Sonntag-Nachmittag recht lästig für uns Kinder. Mitten aus dem Spiel wurde man oft herausgerissen. Hatte man aber einmal die Andacht „geschwänzt“, riskierte man einiges. Ausgerechnet am darauf folgenden Montag hatten wir bei unserem Pastor Schiffer Religionsunterricht. Bevor er mit dem Unterricht überhaupt anfing, stellte er seine unvermeidlichen beiden Hauptfragen: „Wer war am Sonntag nicht in der hl. Messe?“ - „Wer war am Sonntag nicht in der Andacht?“. In der Messe waren so gut wie alle. Aber bei der Andacht gab es immer wieder ein paar „verlorene Schafe“, die unser Pastor sich dann vorknöpfte, wobei er den Missetäter mit seinen bohrenden Fragen einkreiste. Waren die Entschuldigungen nicht zufriedenstellend für ihn, oder wurden sie sogar aufmüpfig vorgebracht, handelte man sich auch schon mal eine schallende Ohrfeige ein. Die Ohrfeigen unseres Pastors waren berüchtigt für ihre Schlagkraft. Seine Finger wurden gerne mit prall gefüllten Bratwürsten verglichen - und sie sahen auch fast so aus. Im Übrigen war er aber ein äußerst umgänglicher und sympathischer Mensch.  Ich kann mit Fug und Recht von mir behaupten, dass mein fest gefügter, christlicher Glaube in hohem Maße auf jene „Samenkörner“ zurückzuführen ist, die Pastor Schiffer in meine kindliche Seele gestreut hat. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein.

Mir alledem hatte Horst also nichts zu tun. Trotzdem war er einer von uns. Als nach dem Ende des Krieges für bedürftige Kinder die Schulspeisung eingeführt wurde, gehörte Horst auch zu den Glücklichen, denn seine Eltern besaßen keine Landwirtschaft – waren also keine „Selbstversorger“ wie es sich nannte. Den Kakao, den Horst im mitgebrachten „Henkelmann“ nach Hause transportierte, mochte er nie so richtig, und wir durften diese Köstlichkeit dann auf dem Heimweg reihum austrinken. -

Ehe ich nun mit meinen Erinnerungen aus der Schulzeit fortfahre, muss ich aber noch einiges über unseren damaligen Pastor Schiffer berichten. Leopold Schiffer wurde am 13. März 1890 in Düsseldorf-Herdt geboren. Er war vom 9. Dezember 1934 bis zum 30. November 1962 (bis zu seiner Pensionierung) Pfarrer von „St. Johannes Baptist“ Kreuzkapelle. Er starb am 18. Oktober 1974 an seinem Geburtsort. Dort hatten er und seine Schwester die Jahre ihres Ruhestandes verbracht.

Er hat mich getauft und er hat ebenfalls meine Frau Rita und mich im Jahre 1960 als Brautpaar zusammengeführt. Er war ein Kind seiner Zeit und ein durch und durch frommer Mann, der seinen Beruf sehr ernst nahm. Diese Kriterien kamen dann auch oft, und zum Leidwesen seiner Zuhörer bei seinen Sonntagspredigten zum Tragen. Er hatte nämlich die Angewohnheit, ein Predigt-Thema mindestens zweimal, wenn nicht gar dreimal zu behandeln. Dadurch wurde die Predigt natürlich langatmig und auf die Dauer auch uninteressant. Einmal, auf die Art seines Predigtstiles angesprochen, meinte Pfarrer Schiffer ganz naiv: „Man muss es den guten Leuten doch ein paar mal sagen, bis sie es richtig begreifen“. Das hört sich nun vielleicht ziemlich arrogant an, so, als wollte unser Pastor damit den „Akademiker“ herauskehren und hätte die in ihrer Bildung etwas zurückgebliebene Landbevölkerung gering geschätzt. Doch damit hätte man ihm allemal bitter Unrecht getan. Ihm ging es in erster Linie darum, das Wort Gottes seiner Zuhörerschaft möglichst authentisch und begreifbar nahe zu bringen. Sehr bezeichnend für die Korrektheit und Ernsthaftigkeit, mit der er seinen Beruf als Priester ausübte, zeigt folgende kleine Story, über die ich oft in den vergangenen Jahren geschmunzelt habe. Sie wurde mir von Heinz Straßfeld übermittelt, der unserem Pastor viele Jahre als Küster und Organist zur Seite stand. Die beiden bildeten ein unverwechselbares Team. Man könnte es fast mit dem militär-strategischen Ausspruch, (ich glaube, er stammt vom alten Blücher) bezeichnen, - „getrennt marschieren, vereint schlagen“. Die Geschichte aber geht so:

In der Nacht zum 1. Mai wird vor der Altenberger Madonna  im „Bergischen Dom zu Altenberg eine Gebetsnacht gehalten. Nach alter Tradition wird dann in der Morgenfrühe das „Altenberger Licht“ entzündet. Von dort aus nimmt es in einer Stafette seinen Weg zu den einzelnen Pfarreien. Dieser Brauch wurde in den 20er Jahren von katholischen Jungmännern begründet, als Altenberg zum Zentrum der katholischen Jugend Deutschlands wurde. Sie stifteten Opferkerzen, die das ganze Jahr über vor der Altenberger Mutter-Gottesstatue brannten. Dies trug bei der Jugend mit zu dem Bewusstsein bei, in Altenberg ein gemeinsames Zentrum, eine geistige Mitte zu haben - und dies besonders in der Zeit des Nationalsozialismus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Idee auf, von Altenberg aus eine Friedesstafette auszusenden. Im ersten Jahr wurde das Licht als Zeichen des Friedens mit dem Fahrrad von Pfarrei zu Pfarrei weitergegeben und so bis zu den Grenzen der Bundesrepublik gebracht, wo es ausländischen Jugendlichen überreicht wurde. So sollten aus Feinden wieder Freunde werden. Die Lichtstafette wurde nach und nach zu einem festen Brauch und kündete von Zusammengehörigkeitsgefühl und Unterwegssein der katholischen Jugend. -

Es war in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Altenberger Licht hatte wieder in feierlicher Form in unserer Pfarrkirche seinen Einzug gehalten. Dort brannte es nun am Tabernakel, wohl behüte in er Flamme des Ewigen Lichtes. Es war ein schöner Frühlingsmorgen im Mai. Heinz Straßfeld, hatte soeben das Gotteshaus betreten, um die Kirche für den sonntäglichen Gottesdienst herzurichten. Sein Blick fiel routinemäßig auf das Ewige Licht - es war zu seinem großen Schrecken erloschen. Was tun? Zur Lösung dieses Problems hätte es unter normalen Umständen zweifelsohne eines recht einfachen Mittels bedurft. Diese Situation war aber von prekärer Art - handelte es sich hier doch um die Flamme des Altenberger Lichts. Pflichtbewusst eilte unser junger Küster also ins Pastorat, um seinem Dienstherren zu berichten.

Als Pfarrer Schiffer die Schreckensmeldung vernommen hatte, strich dieser sich ganz aufgeregt übers Stoppelhaar. Dann hatte er einen Entschluss gefasst. „Heinrich“, befahl er,  (er sagte immer Heinrich zu ihm) „nimm die Verseh-Laterne, schwing dich auf dein Fahrrad, und fahre nach Marienfeld. Dort bittest du den Herrn Pastor Lankes, er möge dir erlauben, aus seiner Kirche die Flamme des Altenberger Lichtes holen zu dürfen“. Gesagt, getan. Unser Küster radelte also, in der einen Hand die Versehlaterne tragend, in Richtung Marienfeld. Unterwegs beschlichen ihn allerdings leise Zweifel, ob man die Sache nicht etwas vereinfachen könnte. Aber rasch wies er solch böse Gedanken mit Entschiedenheit von sich. Bald darauf klopfte er an die Pforte des Marienfelder Pfarrhauses und trug, noch ganz außer Atem, seine Bitte vor. Pfarrer Lankes schaute den Bittsteller tief und nachdenklich an. Mild lächelnd meinte er sodann: „Jung, habt ihr denn in Kreuzkapelle keine Streichhölzer mehr?“ Unser armer Küster muss hier nun einen ziemlich verdatterten Eindruck gemacht haben. Gleichwohl wurde seiner Bitte schließlich wunschgemäß entsprochen. Mit Verseh-Laterne, welche jetzt die neu entfachte Flamme des Altenberger Lichtes hütete, aber auch mit zwiespältigen Gefühlen im Herzen radelte unser Küster wieder zurück nach Kreuzkapelle, wo  Pfarrer Schiffer nun mit großer Erleichterung das „Original“ wieder in Empfang nahm.

Pastor Schiffer war ein einfacher, volkstümlicher Priester, stets mit einem offenen Ohr für alle Belange seiner ihm anvertrauten Gemeinde. Einmal habe ich nach Ende einer Gruppenstunde mit ein paar anderen Jungen geholfen, ein paar Möbelstücke in sein Schlafzimmer zu transportieren, als er uns darum bat. Ich war damals richtig erstaunt, ja schockiert über die spartanische Einfachheit seines Zimmers. Ein einfaches Bett. An der Wand ein großes Kruzifix, davor ein einfacher Betschemel. Ein kleiner Tisch mit einem Stuhl und ein schlichter Kleiderschrank. Ich jedenfalls hatte mir das Schlafzimmer eines Pastors doch etwas luxuriöser vorgestellt.

Der Haushalt wurde von seiner Schwester Maria betreut. Das Pastorshaus, (die Pastorat), wie es üblicherweise genannt wurde, war ein „Haus der offenen Tür“. Niemals kam jemand ungelegen. War zum Beispiel gerade Essenszeit, so war es selbstverständlich, dass gefragt wurde, ob man einen Happen mitessen wollte. Und die Maria konnte gut kochen! Wir Kinder nannten sie immer „Et Pastursch Koch“.

Solche Kriterien sprachen sich natürlich auch in Tippelbrüder-Kreisen schnell herum. So habe ich damals oft erlebt, dass so ein „Wandergeselle“ bei Maria in der Küche saß und eine Mahlzeit einnahm, wenn ich gerade etwas im Pfarrhaus zu erledigen hatte. Für Briefträger und andere Dienstleistende hatte Schiffer immer eine Zigarre vorrätig. Die hatte er hier und da selber geschenkt bekommen. Er verwahrte sie in einer speziellen Zigarrendose auf. Mein späterer Kollege Paul Müller, damals der zuständige Briefträger von Kreuzkapelle, und oft auch „Nutznießer“ dieser Zigarrendose, betitelte diese mit dem Ausdruck: „Für Purschten on Breefträjer“ - (Für Handwerksburschen und Briefträger). Immerhin besaßen diese Zigarren eine gewisse Qualität, denn sie waren ja ursprünglich für den Herrn Pastor bestimmt.

Nach Neujahr begann Pastor Schiffer seine Rundreise durch seinen Sprengel. Er besuchte dann jede Familie, unterhielt sich mit ihnen über ihre Sorgen und Nöte, aß bei irgendwem zu Mittag, bekam seinen Nachmittags-Kaffee und wieder anderswo sein Abendbrot. Jede Familie war stolz darauf, wenn sie am anderen Tag erzählen konnte: „Bei uns hat gestern der Pastor gegessen!“ Natürlich machte Schiffer alles zu Fuß. Er nahm sich täglich ein paar Ortschaften vor. Meistens ergab es sich, dass er am Ende eines solchen Rundganges sein Abendbrot bei uns einnahm. Er hatte hier und da im Laufe des Tages wohl auch schon ein paar Schnäpschen gegen die Kälte zu sich genommen. („Man kann es den guten Leuten doch nicht immer abschlagen.“) Mein Vater begleitete ihn anschließend nach Kreuzkapelle, denn es war ja schon dunkel und oft lag Schnee und Eis auf den Wegen. So behielt damals der Pfarrer ständig Kontakt zu seiner Gemeinde. Heute ist so etwas leider undenkbar geworden.

Pastor Schiffer besaß einen Bildprojektor, für uns Kinder damals eine Attraktion besonderer Art. Dieser Bildwerfer hatte aber wenig mit einem der heutigen Diaprojektoren gemein. Die Bilder befanden sich auf einem mehr oder weniger langen Zelluloidfilm in Schwarz-Weiß. Dieser Film, der sich auf einer Spule befand, wurde nun mit der Hand Bild für Bild an der Lichtquelle vorbei gedreht und mittels verschiedener Vergrößerungslinsen auf eine Leinwand projiziert. Unser Pastor besaß eine große Anzahl von Filme aller möglichen Richtungen und Interessensgebieten. Religiöse und weltliche Themen waren in breiter Auswahl vorhanden. Ständig trachtet unser Pastor danach, seine Sammlung zu vergrößern. Beim Kommunion- oder beim Firmunterricht, bei irgendwelchen Gruppenstunden oder anderen Zusammenkünften, ständig lagen wir dem Pastor in den Ohren, uns doch wieder ein paar Bilder zu zeigen. Er ließ sich dann auch immer wieder von uns „breit schlagen“.

An der Rückwand des Pfarrsälchens hing ganz oben eine breite zusammengerollte Leinwand. Diese wurde vorsichtig nach unten aufgerollt. Die Projektionsfläche durften wir auf gar keinen Fall mit den Fingern berühren, - sie war mit einer silbermetall schimmernden Schicht versehen. Darauf achtete Pastor Schiffer immer ganz besonders. Dann betrachteten wir die Bilder und lauschten andächtig den erklärenden Worten unseres Pastors. Für uns war das damals immer ein sehr interessantes Erlebnis, denn ein Kino kannten wir ja nicht.

Das Pfarrsälchen war ein Erweiterungsbau des Pfarrhauses und es befand sich an der östlichen Seite. Man erreichte das Sälchen über einen Außentreppe oder durch das Pfarrhaus. Im Sälchen befand sich die Pfarr- oder „Boromäus-Bücherei“ wie sie meistens genannt wurde. (Nach dem Namen des Hl. Karl Boromäus).

Viele kleinere Veranstaltungen unserer Kirchengemeinde fanden hier statt. Am 29. Mai 1928 hat man mit dem Bau begonnen. Wie aus der Pfarrchronik ersichtlich ist, wurde der gesamte Bau weitgehend durch pfarreigene Kräfte in Eigenleistung errichtet. Mein Großvater hat hier übrigens als Zimmermann mitgewirkt. Im Pfarrsälchen befand sich auch ein Klavier. Ich glaube, es gehörte Pastor Schiffer, der es der Pfarrgemeinde, speziell dem Kirchenchor zur Verfügung gestellt hatte. Der Kirchenchor hielt hier auch seine wöchentlichen Proben ab. Unser Pastor setzte sich auch öfters an dieses Klavier und begleitete unseren Gesang. Er erwähnte immer wieder gern, dass er das „absolute Gehör“ besäße, - das heißt, er konnte jeden beliebigen Ton sofort nach seinem Gehör bestimmen. Ob es nun wirklich so war oder ob er sich das nur eingebildet hat, - ich habe es nie erfahren. Sicher war jedenfalls, dass er sehr musikalisch war.

In den letzten Kriegsjahren, als der Strom von Flüchtlinge, Evakuierten und Ausgebombten immer größer wurde, belegte man auch das Pfarrsälchen. Eine Familie Dackweiler aus Brand bei Aachen fand hier Zuflucht. Alle Aktivitäten, wenn sie überhaupt noch stattfanden, und nicht schon längst von den Nazis verboten worden waren, mussten anderswo abgehalten bzw. ganz eingestellt werden. Das war für die Schiffers eine ziemliche Umstellung Auf einmal wohnten fremde Leute in ihrem, sonst so beschaulichen Pfarrhaus - aber man arrangierte sich.

Nach seiner Pensionierung ist Pastor Schiffer mit seiner Schwester, wie erwähnt, nach Düsseldorf-Herdt gezogen. Für mich bleibt er im Gedächtnis als der Inbegriff eines Priesters, der es verstanden hat, mit einfachen Worten und einfachem Wesen seiner Gemeinde das Wort Gottes zu vermitteln. Oft ein wenig belächelt und manchmal kritisiert, ist es uns erst nach seinem Weggang, (wie vielfach im Leben) so richtig bewusst geworden, was wir an ihm und durch ihn hatten. Doch zurück zur Schule. -

Wenn ich über unseren damaligen Schulweg nachdenke, fällt mir immer wieder jener Wintermorgen des Jahres 1942 / 43 ein. Seit unserer Einschulung am 18.August 1942 waren erst ein paar Monate vergangen, und wir waren noch richtige „I-Dötzchen“. In der Nacht hatte es gut einen halben Meter geschneit. Nach Ansicht meiner Eltern, besonders  natürlich meiner Oma! - war für mich an einen Schulbesuch wohl kaum zu denken. Ich protestierte heftig und hätte mich gern auf den Weg gemacht. Schließlich kam man zu einem Kompromiss: Sollte aus Feld jemand den Weg bis zu uns hierher schaffen, dann durfte ich mitgehen. Die Wartezeit verstrich und ich begann langsam zu zweifeln. Plötzlich stapfte es an unserer Haustür und der Strunden Herbert stand da im knietiefen Schnee. Schnell hatte ich mich für den Marsch präpariert und wir beide sind dann durch den Pulverschnee zur Schule gepflügt.

Ach ja, auf halber Höhe zur Talsohle stand jenes kleine Wäldchen, welches ich schon an anderer Stelle erwähnt habe. Es wurde in den 50er Jahren abgeholzt, gerodet und planiert. Dieses Wäldchen war uns an einem heißen Sommertag ein willkommener Rastplatz, wenn wir des Mittags nach Schulschluss den steilen Hang hinaufzogen. Dort ließen wir dann erst einmal unsere Ranzen vom Buckel gleiten und machten es uns unter den schattigen Bäumen bequem. Hier wurden dann auch schon mal gemeinsam die kniffligsten Hausaufgaben besprochen.

Als in den letzten Kriegsjahren die Angriffe von feindlichen Jabo’s (Jagdbomber) immer heftiger wurde, gestaltete sich unser Schulweg zu einem riskanten Unternehmen. Die Tiefflieger schossen in der Endphase des unseligen Krieges mit ihren Bordkanonen auf alles was sich bewegte. Ganz gleich, ob es sich dabei um Zivilpersonen oder militärische Einrichtungen handelte. Damit hatte Göbbels seinen „totalen Krieg“, den er vollmundig im Berliner Sportpalast heraufbeschworen hatte, während ihm seine verbohrten Parteigenossen begeistert zujubelten.

Wenn wir also nach Schulschluss den schützenden Waldrand erreicht hatten, und das noch vor uns liegende freie Gelände duchqueren mussten, peilten wir erst einmal die Lage. Nachdem kein Motorengeräusch am Himmel zu vernehmen war, spurteten wir den Hang hinauf und nahmen dann erst einmal Deckung in besagten Wäldchen. Die zweite Etappe unseres Nachhauseweges verlief genau so. Einmal konnten wir von dieser Stelle aus beobachten, wie ein feindliches Flugzeug etwas fallen ließ. Es überschlug sich mehrmals in der Luft und besaß eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit einer großen Bombe. Wie duckten uns tief und hielten uns ob des zu erwartenden Explosionsknalles die Ohren zu - aber nichts geschah. Eilig rannten wir dann nach Hause. Am anderen Tage pirschten wir uns vorsichtig an diesen Gegenstand heran, der nahe an unserem Schulweg auf dem Acker lag. Wie wir feststellen konnten, handelte es sich um einen leeren Flugzeug-Benzintank, der beim Aufprall in seiner ganzen Länge von fast 2 Metern seitlich aufgerissen war, und den wir nun ausgiebig und gefahrlos bestaunen konnten.

Ich vergesse auch nicht jenen Tag, an dem ich mich mit meiner Mutter in unserem Garten aufhielt. Wir hatten wohl schon einige hoch kreisende Tiefflieger bemerkt, aber wegen ihrer Höhe kaum beachtet. Im Übrigen gab es ja rund um das Gartengelände genug Bäume und Büsche, die uns, wie wir glaubten, ihren Blicken entzog. - Aber das war ein verhängnisvoller Irrtum. Plötzlich raste ein Flugzeug im Tiefflug über uns hinweg. Wir beide ließen uns unter den nahen Fliederstrauch fallen und schon hörten wir das Rattern der Bordkanonen. Ich glaubte damals, in unserer unmittelbaren Nähe die Einschläge der Projektile vernommen zu haben - ich kann mich aber auch bei dem ausgestandenen Schrecken getäuscht haben.

In meinen ersten Schuljahren war bei uns von Kriegshandlungen noch so gut wie nichts zu spüren. Es ist auch nie eine Bombe in der Nähe unserer Schule gefallen. Sie lag ja auch ziemlich versteckt. Trotzdem wurden wir alle von unseren Lehrern in den Schulkeller befohlen, wenn es in der Luft brenzlig aussah. Ich war übrigens der Einzige, der dann seinen Schulranzen mit hinunter in den Keller nahm, sehr zum Spott und Hohn meiner Mitschüler. Selbst mit ihrem durchaus einleuchtenden Argument, dass, wenn uns wirklich eine Bombe voll erwischen täte, nicht nur oben unsere Schulranzen, sondern auch wir unten im Keller dran glauben müssten, ließ mich nicht davon abhalten, das gute Stück samt Inhalt mit in den Schulkeller zu nehmen um dort zusammen mit den anderen zwischen Brikett und allerlei Gerümpel das Ende der Bedrohung abzuwarten.

Unsere beiden Lehrer hießen Theodor Berhausen und Ferdinant Saueressig. Berhausen betreute die Unterklasse (1.-4. Schuljahr). Er war ein Urkölner. Lehrer Saueressig war für die Oberklasse (5.-8. Schuljahr) zuständig. Die Berhausens hatten eine Tochter namens Leopoldine und einen Sohn mit Namen Heinz, der in meinem Alter war. Wir waren oft zusammen und wir beide waren gute Freunde. Im Sommer verbrachten wir oft manchen Nachmittag bei mir zu Haus. Heinz brachte dann meistens sein kleines Zwei-Mann-Zelt mit, welches wir aufschlugen und Indianer spielten. Wir beide waren große Verehrer von Karl May. Heinz besaß die gängigsten Bände dieses beliebten Volksschriftstellers, und er hat sie mir nach und nach alle zum Lesen ausgeliehen, leider nicht immer in der richtigen Reihenfolge - aber das wussten wir damals noch nicht. Die fünf Orinentbücher, welche bekanntlich mit dem Band „Durch die Wüste“ beginnen und mit dem Buch „Der Schut“ enden, sowie die drei „Winnetou“ Bände habe ich mehrfach „verschlungen“. Stundenlang saßen Heinz und ich dann oft im Zelt und wir unterhielten uns über Winnetou und Old Shatterhand, über Kara Ben Nemsi und seinen drolligen Weggefährten  Hadschi Halef Omar, dessen ellenlanger Name wir natürlich im Schlaf aufsagen konnten - das war für uns Ehrensache! Unser geheimes Losungswort, dass nur wir beide kannten, stammte aus dem Band „In den Schluchten des Balkan“. Es lautete: „Bir Syrdasch“ - oder so ähnlich, und es bedeutete soviel wie „ein Vertrauter“.

Heinz hatte eine unkomplizierte Art die ich sehr mochte. Er konnte sich schnell für eine neue Idee begeistern und war dann auch sofort Feuer und Flamme. Einmal hatte er einen Riesen-Windvogel - einen „Drachen“ gebaut. Das Ding hatte völlig überdurchschnittliche Ausmaße und wurde damals von allen Schulkameraden ob seiner Größe bewundert. Man war allerdings auch sehr skeptisch, wie der Vogel überhaupt in die Luft zu bekommen sei. Schließlich kam der Tag des „Jungfernfluges“. Nachdem wir ihn mit „vereinten Kräften“ gegen den Wind einige Meter in die Luft gezogen hatten, brach das gute Stück mittendurch. Heinz hatte die Statik falsch berechnet. Die Latten waren viel zu dünn und auch nicht ausreichend durch Verstrebungen usw. verstärkt und abgesichert. Heinz war sehr enttäuscht. Er hat daraufhin später nie wieder einen Drachen gebaut. Heinz Berhausen ist später mit seinem Motorrad tödlich verunglückt. -

Lehrer Saueressig war ein Mann mit außergewöhnlichen pädagogischen Fähigkeiten, vor dessen Persönlichkeit ich bis heute tiefsten Respekt empfinde. Er war als Lehrer seiner Zeit weit voraus. Seine Autorität brauchte er nicht „mit dem Knüppel in der Hand“ zu dokumentieren. Wenn ich mal wieder die Hausaufgaben oder irgendeine Klassenarbeit mehr oder weniger „dahingeschludert“ hatte - sei es aus Zeitmangel oder Unlust - und Lehrer Saueressig dann das Ergebnis meines geistigen Unvermögens betrachtet hatte, konnte er mich mit einem langen, wortlosen Blick ansehen, der mehr bewirkte als eine noch so saftige Tracht Prügel. Bei so einem Blick mochte ich am liebsten in den Erdboden versinken und ich nahm mir in diesem Augenblick fest vor, den Lehrer das nächste Mal nicht mehr zu enttäuschen. - Leider blieb es dann aber meistens bei dem löblichen Vorsatz.

Lehrer Saueressig hat uns im letzten Schuljahr sozusagen „als richtige Menschen“ behandelt. Das klingt jetzt wohl etwas dramatisch und bedarf wohl einiger Erläuterungen: Unsere Kinder- und Jugendzeit war geprägt von Kriterien wie Disziplin, Gehorsam gegen Eltern und Vorgesetzte, Unterordnung und Obrigkeitsdenken. Lehrer und Pastor waren Respektspersonen, deren Anordnungen wir kommentarlos Folge zu leisten hatten. Während des Unterrichtes redete man nur, wenn man dazu aufgefordert wurde. Dazu stand man auf und stellte sich neben die Bank. Jedes Flüstern untereinander wurde vom Lehrer streng geahndet. War dem Störenfried nicht verbal beizukommen, wurde er für eine Zeit lang hinter die große Tafel gestellt, oder noch schlimmer, vor die Tür gesetzt. Bei „ganz schlimmen Vergehen“ gab es natürlich die Prügelstrafe mit der Hand oder mit dem Stock. Mit dem Stock war Lehrer Berhausen ein wahrer Meister. Vielfach packte er den Delinquenten am Kragen, zerrte ihn aus der Bank und schleppte ihn an’s Lehrerpult. Dort wurde der Unglückliche bäuchlings über die Pultkante gelegt. Mit der einen Hand wurde die Hose schön stramm nach oben gezogen und mit der anderen Hand, in der sich ein daumendicker Haselnussstock befand, wurde drauflos gedroschen. Wenn der so Bestrafte danach geknicktermaßen wieder seinem Platz zustrebte, ließen sich unschwer die verschiedenartigsten Mentalitäten feststellen. So heulten die einen zum Steinerweichen, wogegen eine andere Spezies mit verkniffenem Gesicht und zusammengebissenen Zähnen einher schritten. Heinz Dahlhäuser, der in allen Lebenslagen „hart im Nehmen“ war, brachte es dann sogar noch fertig, mit einem breiten Grinsen seine Verachtung über Begangenes auszudrücken, was ihm den Respekt der gesamten Klasse eintrug. Es kam natürlich auch vor, dass der berüchtigte Stock plötzlich verschwunden war. Aber es dauerte nur eine paar Tage, bis ein neuer, noch kräftigerer seinen Platz eingenommen hatte. Waren die Hände nicht mit schreiben beschäftigt, dann hatten sie zusammengefaltet auf dem Pult zu liegen. Saß man etwas nach vorne gebeugt und stützte sich dabei mit den Ellenbogen auf, dann hieß es sofort: „Sitz gerade“. Das Verhältnis Lehrer - Schüler war also sehr distanziert und wurde von furchteinflößendem Respekt bestimmt. Damit hatte man als Lehrer seine Klasse „voll im Griff“. Das Endprodukt einer so geprägten Schulzeit waren dann oft Menschen, die jedweder „Obrigkeit“ mit tiefen „Bücklingen“ ihren untertänigsten Gehorsam entgegenbrachten.

Da wir Deutsche, und nicht nur wir - die fatale Neigung besitzen, von einem Extrem ins andere zu fallen, sieht es heute in unserem Lande genau umgekehrt aus, was nun auch nicht gerade „das Gelbe vom Ei“ darstellt. Lehrer Saueressig hatte also in unserem Entlassungsschuljahr mit neuen pädagogischen Methoden versucht, uns zu selbständig denkenden und kreativ entscheidenden Menschen zu erziehen. Das war für uns natürlich zuerst einmal ein Schock. Unser Abschluss-Jahrgang bestand aus gut einem Dutzend Jugendlicher. Als erste Maßnahme unseres Lehrers erhielten wir richtige Tische und Stühle. Um diese Tische formierten wir uns nun in Gruppen zu Arbeitsgemeinschaften.

Das beinhaltete natürlich, dass wir nun plötzlich laut miteinander reden durften - ja mussten. Ohne das Zutun unseres Lehrers planten wir Projekte und arbeiteten sie selbstständig aus. An ein solches Projekt erinnere ich mich noch ganz genau, es handelte von den beiden Deutsch-Amerikanern Schurz und Kinkel, deren Leben wir von allen Seiten beleuchteten und in Wort und Bild darzustellen versuchten.

Dieses letzte halbe Schuljahr hat uns, so glaube ich, mehr gebracht als alle anderen vorher. Um es jedoch gleich vorweg zu nehmen, und ohne die Bemühungen und Leistungen unserer Lehrer schmälern zu wollen, kann ich hier und heute nur folgende Feststellung treffen: Alles, was ich damals in unserer Volksschule gelernt habe, war lesen und schreiben sowie das Kleine Einmaleins. Dazu noch bruchstückhaft noch etwas Geschichte - hauptsächlich die deutsche, und ein paar Namen von Hauptstädten, die damals relevant waren. Alles andere habe ich mir im späteren Leben selber angeeignet.

Man kann natürlich jetzt behaupten, da war damals wohl auch bei mir eine gute Portion Faulheit im Spiel. Mag sein! Aber wie soll ein junger Mensch bei solch einem „Schul-Betriebsklima“ von knochentrocken daher geleierten Jahreszahlen, vorhandenen Bodenschätzen, Niederschlagsmengen, Kriegen und Regentschaftszeiten diverser Kaiser und Könige profitieren können. Ich jedenfalls habe erst nach meiner Schulentlassung unsere schöne Welt mit ihren großen Schätzen an Wissen und philosophischem Denken für mich entdeckt und kann selbst heute noch meine Wissbegier kaum zügeln. Ich denke oft, das Leben eines Menschen ist eigentlich viel zu kurz, um alle die vielen interessanten und herrlichen Dinge in der Musik, in der Literatur und in der Kunst auch nur annähernd in sich aufzunehmen und zu verarbeiten.

Doch zurück zur Schule. Unser Schulhof war verhältnismäßig groß. Er war mit einem Belag aus Bergbau-Abraum versehen und er hatte einen Baumbestand von gut einem Dutzend alt-ehrwürdiger Linden. Ein paar Original-Exemplare befinden sich heute noch dort. Wenn die Lindenbäume im Frühsommer in voller Blüte standen, dufteten sie herrlich. Für mich war das - außerhalb des Kalenders - das sichere Zeichen für den baldigen Beginn der langen Sommerferien. Noch heute werde ich daran erinnert, wenn ich zufällig an einer blühenden Linde vorbeigehe und ich mir ihren aromatischen Duft durch die Nase ziehe.

Der Schulhof war durch eine imaginäre Grenzlinie in eine Jungen- und in eine Mädchenseite unterteilt. Sichtbares Zeichen dieser gedachten Linie war das Toilettenhäuschen, welches sich genau in deren Mitte befand. Wir nannten es übrigens „Seck-Kapellchen“. Diesen Ausdruck möge man mir verzeihen, ich muss ihn aber hier wiedergeben, denn kein Mensch wäre damals auf die Idee gekommen, Klosett oder gar Toilette zu sagen außer, man fragte den Lehrer während des Unterrichtes, ob es erlaubt sei, schnell einmal aufs „Kloo“ gehen zu dürfen.

Diese Toilettenanlage war der damaligen Zeit entsprechend einfach. Im Innern stank es - besonders in den heißen Monaten - ziemlich bestialisch. Verirrte sich einmal ein Junge bzw. ein Mädchen auf der falschen Seite des Schulhofes, z. B. beim Nachlaufen spielen usw. - gab es auf der Gegenseite ein lautes Geschrei, mit der deutlichen Absicht, den gerade aufsichtführenden Lehrer auf dieses „Verbrechen“ aufmerksam zu machen.

Wir Jungen spielten in der großen Pause meistens „Schlagball“. Das war eine sehr vereinfachte Form des bekannten amerikanischen Baseballspieles. Der Ball, (es war ein alter Tennisball) musste mit einem kräftigen Holzknüppel möglichst weit ins Gelände geschlagen werden. Sobald der Ball sich in der Luft befand, versuchte ein anderes Mitglied dieser Mannschaft, durch schnelles Laufen das „Mal“ zu erreichen. Die Gegner versuchten nun, möglichst frühzeitig in Ballbesitz zu kommen um dann den Läufer „abzuwerfen“.

Da sich mein sportlicher Ehrgeiz in Grenzen hielt – und hält, hatte ich die Aufgabe übernommen, die fälligen Punktezahl der beiden Mannschaften zu notieren. Später allerdings, als mir das zu langweilig wurde, und ich diesen Posten gern einem anderen Mitschüler überlassen hätte, fand sich kein Nachfolger und ich musste wohl oder übel selbst weitermachen.

Die Mädchen hatten ihre Ball- oder Abzählspiele. Sie standen aber auch oft in keinen Gruppen zusammen und erzählten sich geheimnisvolle Dinge, (es sah jedenfalls so aus), wobei sie immer wieder verstohlen den Jungen-Schulhof anpeilten.

Unterhalb des Schulhofes, Richtung Birrenbachshöhe,  befand sich ein ziemlich steiler Abhang, der in eine Wiese mündete. Diesen Abhang nannten wir aus unerfindlichen Gründen seit jeher „das Casino“. Befand sich jemand unbedachterweise nahe am Casinorand so war es ein beliebtes Spiel, ihn dort hinunter zu stoßen. Hatte sich dann der Unglückliche mit viel Mühe und Not wieder hoch gekrabbelt, ereilte ihn meistens dasselbe Schicksal - bis die anderen die Lust an der Sache verloren hatten.

Später wurde aber auch viel Fußball gespielt. Unser alter Fußball hatte auch schon bessere Tage gesehen und seine Lederhaut war recht dünn geworden. So kam es zu unserem Leidwesen oft genug vor, das er „platt“ war oder das sein „Innenleben“ an einer Stelle herausquoll. Dann brachten wir ihn wieder mal zum Schuhmachermeister Wilhelm Keppler nach Birrenbachshöhe, der das gute Stück kostenlos wieder für uns zusammenflickte. Eines Tages hatte Herbert die rettende Idee. Nachdem man im Hause Strunden mittels Butter und Speck (die damalige „Tausch-Währung“ nach Kriegsende), für einen ordentlichen Lappen Schweinsleder gesorgt hatte, machte Herbert sich an’s Werk. Zuerst musste er die einzelnen Lederstücke passgenau ausschneiden. Dann begann das mühevolle Zusammennähen mit Pechdraht, Geschick und viel Schweiß. So entstand ein neuer Fußball, der, nachdem er von uns allen gebührend bewundert worden war, auch den kräftigsten Fußtritten unserer Nagelschuhe standhielt.

Im Stundenplan gab es auch eine Schulstunde mit der Bezeichnung „Leibesübungen“. In der ersten Zeit versuchte Lehrer Saueressig mit uns einige turnerische gymnastische Auflockerungsübungen. Später gehörte diese Stunde aber vollständig dem Fußball, währenddessen die größeren Mädchen bei einer hiesigen Schneiderin einen Näh- und Flick-Kursus absolvierten. War die Pause zu Ende, dann klatschte unser Lehrer laut in seine Hände. Dieses Geräusch wurde komischerweise immer von uns vernommen, ganz egal, wie viel Krach gerade auf unserem Schulhof herrschte. Blitzschnell stellten wir uns dann vor der Treppe an der zweiflügeligen Eingangstür auf. Die Mädchen zuerst, die Jungen zuletzt. Und auf ging’s in wohlgeordnetem Schritt zu den einzelnen Klassenzimmern.

In jedem der beiden Klassenzimmer waren je vier Schuljahre untergebracht. Wir bekamen also vier Jahre lang praktisch denselben Unterrichtsstoff vorgesetzt und waren manchmal aktiv - meistens aber passiv am Unterricht beteiligt. Von einem effektiven, konzentrierten Lernen konnte hier schon mal von vorne herein keine Rede sein. Dadurch habe ich z. B. so manches Gedicht „der Großen“ ungewollt, und nicht zu meinem Schaden - mitgelernt. Nachdem der Lehrer den Klassenraum betreten hatte, erhoben wir uns von unseren Plätzen und stellten uns neben unsere Schulbank. Bis Kriegsende mussten wir sodann die Hand „zum Deutschen Gruß“ erheben und dazu die bekannte Grußformel sagen, die ich danach nie wieder in den Mund genommen habe und sie auch hier nicht wiedergeben werde.

Unsere Lehrer waren beide Mitglied in der NSDAP = (National-Sozialistische-Deutsche-Arbeiter-Partei) - die damals alles beherrschende Nazi-Partei. Sie waren „in der Partei“ - wie man es damals ausdrückte. Das war aber bei beiden wohl mehr berufsbedingt, denn ohne die Mitgliedschaft hätten sie, im Zuge der Gleichschaltung damals, wohl schwerlich den Lehrerberuf noch ausüben dürfen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, von den beiden jemals irgendwelche Nazi-Parolen gehört zu haben, bzw. dass sie während oder außerhalb des Unterrichts durch bestimmte Redewendungen ihre Sympathie für das Hitler-Regime zum Ausdruck gebracht hätten.

Allerdings hüteten sie sich auch davor, Kritik laut werden zu lassen, was wiederum menschlich verständlich ist, denn nicht jeder war damals zum Helden geboren. Einmal jedoch habe ich Lehrer Berhausen erlebt, wie er auf eine Aktion, die ihm wohl vom damaligen Mucher Bürgermeister und SA-Mitglied Hamecher diktiert worden war, mit Widerwillen und abfälligen Bemerkungen reagierte, sie aber dann gezwungenermaßen doch ausführen musste, wobei ich, wie sich später herausstellen sollte, sein aufgestauter Frust zu spüren bekam.

Diese Story habe ich ja bereits im vorigen Kapitel angekündigt: Im Steimels Saal zu Wohlfarth hatte damals eine Abteilung „SS“ (das waren waren Elite-Einheiten und glühende Verfechter des Nazi-Regims) - einquartiert. Nun wurden alle Eltern der Schulkinder aufgefordert, einen Kuchen zu backen. Diesen Kuchen hatten wie Kinder anderntags mit zur Schule zu bringen, und wir marschierten nun, - den Kuchen unter dem Arm, nach Wohlfarth, um ihn dort den SS-Leuten zu übergeben. Meine Mutter war zuerst ziemlich wütend über dieses Ansinnen. Auf mein intensives Bitten hin, und wohl auch, um irgendwelche Repressalien zu vermeiden, fügte sie sich schließlich. Ich erinnere mich noch gut, es war ein kleiner, rechteckiger Sandkuchen und sie hatte die kleinste Kuchenform genommen, die sie im Hause finden konnte. Auf dem Rückweg von Wohlfarth zur Schule, wir marschierten in Zweier-Reihen im Gänsemarsch, passierte es, dass der Hehs Paul, er wanderte hinter mir, so aus Spaß und Dollerei in mein Hinterteil trat. Das hatte Lehrer Berhausen aber nicht gesehen. Als ich mich aber umdrehte, um Paul mit gleicher Münze heimzuzahlen, wie man so sagt, das hatte er gesehen. Sofort ließ er halten und in seinem typisch kölschen Tonfall rief er: „ Eckehard, - (er sagte nie Eckhard) - komm emal eraus da!“ Dann packte er mich mit einem gekonnte, weil oft geübtem Griff am Kragen, legte mich über einen zufällig in der Nähe stehenden „Prellstein“ (Straßenbegrenzungs-Stein) und verabreichte mir mit seinem schweren Spatzierstock einen gehörige Tracht Prügel.

Später habe ich oft über dieses Ereignis  nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich für Lehrer Berhausen in diesem Augenblick so eine Art „Blitzableiter“ war, denn nie zuvor hatte ich, und habe auch später während meiner ganzen Schulzeit je wieder mit dem Stock eines Lehrers Bekanntschaft gemacht. Ich glaube sogar, diese „Strafaktion“ hat ihm in der Folgezeit richtig Leid getan, denn er hat mich danach wochenlang „wie ein rohes Ei“ behandelt. Den SS-Typen, die im Grunde an dem ganzen Schlamassel schuld waren, habe ich das aber nie vergessen!

Nach Kriegsende hatten unsere Lehrer durch ihre Partei-Mitgliedschaft allerdings erst einmal Schwierigkeiten und bekamen, bis zu ihrer „Entnazivizierung“ Berufsverbot. Ich bin überzeugt, die positiven Zeugenaussagen vieler namhafter und politisch unbescholtener Bürger aus unserer Gemeinde hat sie vor weiteren Repressalien bzw. einer Haftstrafe bewahrt.

Als Lehrer Saueressig zum Kriegsdienst eingezogen wurde, Lehrer Berhausen brauchte wegen einer Gehbehinderung nicht Soldat zu werden, bekamen wir es mit immer neuen Lehrpersonen zu tun. Von kontinuierlichem Vorwärtsschreiten im Unterrichtsstoff konnte da natürlich keine Rede mehr sein. Ein „Ersatzlehrer“ aus dieser Zeit, - er hieß mit Nachnamen Kiel, ist mir aber sehr in Erinnerung geblieben. Nicht allein deshalb, weil er mit uns einen sehr lockeren und kameradschaftlichen Umgang pflegte, sondern, weil er zu Beginn des Unterrichtes nach dem obligaten „Gruß“ immer einige Sätze aus dem christlichen Gedankengut vortrug, was damals natürlich streng verpönt war. Die Kreuze, welche damals wie heute in jedem Klassenraum hingen, waren durch die „braunen Horden“ ja schon längst entfernt worden. Dieser Lehrer Kiel hat auch während der Unterrichtsstunden immer wieder Themen zur Sprache gebracht, die, wie mein kindlicher Geist damals schon ziemlich klar registriert hat, niemals mit den Nazi-Parolen übereinstimmen konnten und was mir auch damals schon zu denken gab.

Lehrer Kiel ist nicht lange bei uns geblieben und es wurde so einiges gemunkelt. Wir Kinder, wie auch unsere Eltern hatten ja keine Ahnung, welch schreckliche Dinge damals mit Regime-Gegnern passierte. Sicher, es müssen jede Menge Gerüchte unter den Erwachsenen im Umlauf gewesen sein, aber niemand wagte, sie laut auszusprechen, um nicht vom gleichen Schicksal ereilt zu werden. Nach dem Krieg wurde dann der so genannte „Deutsche Gruß“ durch ein einfaches „Guten Morgen, Herr Lehrer“ ersetzt, worauf sich daran ein kurzes Gebet anschloss.

Die beiden Klassenräume im Erdgeschoss und im ersten Stock glichen sich aufs Haar. Links von uns, in Sitzrichtung, ließen die überdimensionalen Fenster genügend Licht einfallen. Allerdings wurde es nach rechts hin, dort wo die Schülerinnen und Schüler des 7. und 8. Schuljahres ihre Plätze hatten, etwas dunkler. Im Winter kam es dadurch manchmal vor, dass in der ersten Stunde das elektrische Licht in Form von zwei mickriger Glühbirnen eingeschaltet wurde. Das war aber die große Ausnahme. Ansonsten wurde Strom gespart.

Wir saßen zu je zwei Kindern in einer Doppelbank. Vor uns befand sich das leicht abgeschrägte Schreibpult, unter diesem war ein Fach für den Schulranzen. Am oberen Rand des Pultes war eine Vertiefung, in welche ein Tintenbehälter aus Porzellan eingelassen war. Dieser Behälter war immer mit Tinte gefüllt. Er wurde durch eine Blechklappe verschlossen. Man schrieb ja damals durchweg noch mit einem Federhalter an dessen unterem Ende eine Stahlfeder angebracht war. Erst später kamen die praktischen Tintenfüller ins Spiel.

Schreibpult und Sitzbank bildeten eine fest verbundene Einheit. Ihre Größe war in etwa den einzelnen Schuljahren angepasst. Es gab vier Reihen solcher Tisch- Bank-Kombinationen, für jedes Schuljahr eine Reihe. Meistens ergab es sich, dass alle Kinder eines bestimmten Jahrganges in einer Reihe Platz fanden. Natürlich saßen „Mädchen bei Mädchen“ und „Jungen bei Jungen“. Das war Gesetz und wurde strikt durchgehalten, selbst dann, wenn z. B. ein Mädchen und ein Junge allein in je einer Doppelbank sitzen musste, wobei sie, um Platz zu sparen, in so einem Fall doch gut hätten nebeneinander sitzen können.

Einmal allerdings war es unvermeidlich geworden, es gab keine andere Lösung: Ein Mädchen und ein Junge mussten sich wohl oder übel eine Bank teilen. Die Wahl fiel, wie konnte es anders sein, auf mich, da von mir ja, als „sanftmütig“ bekannt, kaum Protest zu erwarten war. Und so habe ich eine Zeit lang mit der Utsch Margret aus Birrenbachshöhe zusammen eine Schulbank gedrückt. Zuerst war mir das äußerst peinlich, später hätte es dann aber aus meiner Sicht ruhig so bleiben können.

Direkt vor diesen 4 Reihen stand das Pult des Lehrers. Links davon die große Schultafel. Sie stand auf einer Art Staffelei wie sie Maler beim malen ihrer Bilder benutzen,  natürlich größer. War die Rückseite der Tafel gefragt, dann mussten sie zwei kräftige Jungen umdrehen.

Hinter dem Lehrerpult stand der mächtige Ofen. Er wurde in den Wintermonaten mit Holz und Brikett oder Kohlen befeuert. Das Anfeuern besorgte Elisabeth Pick aus Groß-Oberholz. Bei groß und klein wurde sie „et Pecks Lisa“ genannt. Sie war unverheiratet und sie war auch im Leben unserer Kirchengemeinde aktiv. Unter anderem hat sie lange Jahre die damals sehr beliebte Missions-Zeitschrift „Stadt Gottes“ zu den einzelnen Familien gebracht. Die Stadt Gottes gehörte damals einfach in jedem Haushalt dazu. Jung und alt freuten sich jeden Monat auf das neue Exemplar. Hier standen herrliche Kurzgeschichten, Haushaltstipps und Kochrezepte. Natürlich wurden auch Glaubensdinge und Nachrichten aus den Missionen veröffentlicht.

Irgendwer, ich glaube, es war der Berhausens Heinz, hatte der Lisa den Beinamen: „Parplöh“ (Parapluie = Regenschirm) gegeben, denn, ob Sommer oder Winter, auch bei schönstem Sonnenschein, nie sah man die Lisa ohne Regenschirm. Wenn Lisa aber einmal krank war, was auch schon mal vorkam, oder wenn sie sich verschlafen hatte, blieb der Ofen naturgemäß kalt, was meistens erst knapp vor Unterrichtsbeginn vom Lehrer bemerkt wurde, denn es gab ja noch kein Telefon, womit Lisa den Lehrer hätte benachrichtigen können. Wir nahmen dann in Mänteln und Jacken am Unterricht teil, bis der verspätet in Aktion getretene Ofen endlich genug Wärme abgab.

Als das Brennmaterial in den letzten Kriegsjahren immer rarer wurde, musste jedes Kind morgens ein Brikett oder eine Holzscheite mit zur Schule bringen, denn der große Ofen war unersättlich und konnte schon eine Menge Heizmaterial verschlucken.

Der Unterricht begann Sommer wie Winter morgens um 8,00 Uhr und er endete um 13,00 Uhr, es sei denn, wir bekamen an einem heißen Sommertag hitzefrei. Dann durften wir eine Stunde früher nach Hause gehen. Um 10,00 Uhr war die große Pause und die dauerte eine viertel Stunde. Um 12,00 Uhr gab es nochmals eine kleine Pause von 5 Minuten. Jede Stunde war ein anderes Fach an der Reihe. Neben den Elementarfächern legten unsere Lehrer, besonders Lehrer Saueressig viel Gewicht auf das Erlernen von Gedichten und Balladen, von denen ich, - wenn auch oft leider nur bruchstückhaft - noch viele im Kopf habe. Bei passender Gelegenheit kommen sie mir immer wieder in den Sinn und ich rezitiere dann die einzelnen Strophen gerne so vor mich hin, wobei mir auch schon mal eine Träne ins Auge steigt, denn diese alte und doch ewig junge Lyrik ist oft so voll Poesie und Herzenswärme. Ach, hätte ich sie doch damals besser in mein Gedächtnis eingeprägt. Einige Mitschüler hatten ihr „Standard-Gedicht“ welches sie immer wieder, sozusagen als Auflockerung der Unterrichtsstunde aufsagen mussten. So war Anita Knorr für den „Schatzgräber“ von Goethe zuständig und Ilse Jasch, die fast profihaft rezitieren konnte, hatte „Der Knabe im Moor“ von Droste-Hülshoff im Repertoire. Ich bekam vom Lehrer den ehrenvollen Auftrag, wie konnte es anders sein - den „Getreuen Ekkehard“ von Goethe auswendig zu lernen, was ich auch mit Mühe und Not schaffte. Als ich mich dann aber vor die Klasse stellen musste, um das Werk vorzutragen, blieb ich schon bei der dritten oder vierten Strophe stecken, total vom Lampenfieber überwältigt. Der Lehrer erkannte mein Handikap und erlöste mich von dieser Strapaze,  ich brauchte es nie wieder vorzutragen.

Zum Beginn oder am Ende einer Schulstunde, besonders natürlich in der Musikstunde wurden Volks- und Wanderlieder gesungen und eingeübt. Lehrer Saueressig hatte ein besonderes Faible für die alten Wanderlieder. Diese Lieder gehören zum Kulturgut unseres Volkes. Viele jungen Leute rümpfen heute die Nase, wenn sie diese alten Melodien hören. Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass man diese Lieder in vielen Jahren noch singen wird, wenn die heutige Schlager- und Popmusik schon längst in Vergessenheit geraten ist. Ja, ich ahne irgendwann eine neue „Nostalgie-Welle“ voraus, in der diese alten Volkslieder von einer neuen Generation wieder entdeckt und gesungen werden.

Lehrer Nischan, - auch ein Ersatzlehrer und von kolerischer Natur, hatte in Sachen Musik ziemlich hochgestochene Ambitionen. So hatte er z.B. in wochenlanger, für Lehrer und Schüler nervenaufreibender Arbeit mit der gesamten Oberklasse den Chorsatz „Die Himmel rühmen“ von L.v.Beethoven eingeprobt. Wir haben dieses anspruchsvolle Stück, welches auch für „gestandene“ Männerchöre seine Schwierigkeiten besitzt, nach dem Martinszug im Saale Steimel in Wohlfarth den Eltern und den anderen Mitschülern zu Gehör gebracht.

Lehrer Nischan hatte uns angedroht, er würde jeden windelweich schlagen, den er beim Falschsingen erwischen täte. Diese Drohung muss bei uns wohl tiefgreifende Wirkung erzielt haben, denn der Vortrag klappte großartig. Für mich ist es bis heute immer noch ein Rätsel, wie der Mann das damals mit uns fertig gebracht hat, da wir doch über keinerlei Notenkenntnisse verfügten. Als ich dann später Mitglied im MGV Wohlfarth wurde, und wir dieses Stück in Probe nahmen, konnte ich es natürlich bereits „im Schlaf“ mitsingen.

Im Sommer 1946 muss es gewesen sein, als wir zum ersten Mal „auf große Fahrt“ gingen. Es war eine Tagestour nach Königswinter und hinauf zum Drachenfels. Es war übrigens das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Eisenbahn zu Gesicht bekam, bzw. mit ihr fahren durfte. Zuerst ging es aber im Fußmarsch nach Felderhoferbrücke, (heute Bröleck) zur Bahnstation des Brölbähnchens - einer Schmalspurbahn . Man nannte sie auch scherzhaft den „feurigen Elias“. Witzbolde hatten einmal an eine Waggontür geschrieben: „Blumenpflücken während der Fahrt verboten“ Sie war halt nicht die Schnellste. Wir wurden aus Platzgründen in einem leeren Viehwaggon untergebracht. Der hatte natürlich keine Fenster und so bekamen wir bis Hennef nichts von der Welt zu sehen. In Hennef an der Sieg, wie es sich nannte, stiegen wir dann in einen „richtigen“ Zug, der uns bis zu unserem Ziel nach Königswinter brachte.

Nachdem wir zum berühmten Drachenfels hinaufgeklettert waren und die dortigen Sehenswürdigkeiten in Augenschein genommen hatten, - einschließlich des grässlichen, in Stein gemeißelten riesigen Drachen, machten wir es uns nach dem Abstieg am Rhein gemütlich, packten unsere Rucksäcke aus und aßen die, von unseren Eltern sorgsam eingepackten Futteralien. Ich erinnere mich noch ziemlich deutlich daran, dass ich nebst einem Stoß gut belegter Butterbrote auch ein paar gekochte Eier und ein großes Glas Kartoffelsalat in meinem Rucksack vorfand. („Dä Jong moß doch satt werden“ wird meine Oma gesagt haben). Den Kartoffelsalat habe ich dann zu meinem großen Bedauern und zur allgemeinen Erheiterung meiner Schulkameraden in den Rhein gekippt. Er war nämlich in der vorherrschenden Sommerhitze inzwischen sauer geworden. Wie und wann wir unsere Rückreise angetreten haben, ist mir leider entfallen.

Lehrer Saueressig war ein sportbegeisterter Mann, der viel von Bewegung an der frischen Luft hielt. So schickte er uns auch dann in der Pause auf den Schulhof, wenn das Wetter nicht gerade nach unserem Geschmack war, z.B. wenn es regnete und wir uns gerne in der Klasse die Zeit vertrieben hätten. Er machte auch des Öfteren mit uns einen Waldlauf, bei dem ich regelmäßig aus der Puste geriet und auch regelmäßig ein heftiges Seitenstechen bekam. Wenn der Lehrer das bemerkte, durfte ich pausieren und wartete dann, bis die anderen ihre Runde gedreht hatten.

Wir unternahmen auch oft Wanderungen in die nähere Umgebung. So war jedes Jahr einmal ein Besuch des „Schwedenkreuz“ fällig. Das Schwedenkreuz stammt aus der Zeit des 30jährigen Krieges und es steht ziemlich versteckt am waldigen Abhang des „Köhscheid“, eines Waldgebietes auf der gegenüberliegenden Seite der Ortschaft Köbach. Das Material des Kreuzes ist aus hiesiger Grauwacke und es wirkt etwas klobig. Es ist ca. 50 x 50 cm in seiner Höhe und Breite und es ragt ungefähr 70 cm aus dem schräg abfallenden Waldboden. Man sagt, es sei früher höher gewesen. Vielleicht ist es im Laufe der Jahrhunderte immer tiefer im Waldboden versunken. Auf seiner Vorderseite sind die beiden Buchstaben „A D“ und die Jahreszahl „1637“ eingemeißelt. Übrigens gibt es in der Nähe des Schwedenkreuzes bis heute noch einige riesige Ameisenhügel mit einem Radius von mehreren Metern. Es sind die bei uns sehr selten gewordenen großen roten Wald-Ameisen, die dort nun schon seit meiner Kindheit ihr Domizil errichtet haben. Willi Tüschenbönner erzählte mir, als er damals noch als Jagdhüter sein Revier durchstreifte, und ihn ein Schnupfen befallen hatte, habe er sein Taschentuch in so einen Ameisenhaufen gesteckt. Am anderen Tage habe das Tuch, welches inzwischen tüchtig mit Ameisensäure durchtränkt worden war, wieder hervorgeholt und sich damit seine Triefnase geschneuzt. Und sein Schnupfen war weg!

Doch zurück zum Schwedenkreuz. Es ist wohl eines der wenigen Zeugnisse aus der Zeit des 30jährigen Krieges, welches wir in unserer Heimat besitzen, und es ranken sich etliche Geschichten um seine Entstehung. Die wohl glaubwürdigste will ich hier wiedergeben. Wilhelm Balensiefer aus Köbach und Wilhelm Steimel aus Oberhausen haben sie mir beide, unabhängig voneinander, aber ziemlich gleich lautend erzählt, und sie geht folgendermaßen:

Zwischen der Ortschaft Köbach und den gegenüberliegenden Waldhängen des „Köscheid“ ziehen sich saftige Wiesengründe durch das Tal, welches von einem kleinen Bach durchflossen wird. Hier in diesem Wiesengelände waren also im Sommer des Jahres 1637 einige Bauern aus Köbach bei der Heuernte. Da die Zeiten unruhig waren und man jederzeit mit plündernden und marodierenden Landsknechten rechen musste, wurden die mitgebrachten Vorderlader-Gewehre immer griffbereit gehalten. Plötzlich muss wohl eine Bewegung in den Baumwipfeln des nahen Waldes ihre Aufmerksamkeit erregt haben. Bei näherem Hinsehen entdeckten sie auch tatsächlich einen Mann, welcher durch seine bunte Gewandung unschwer als Soldat zu erkennen war. Dieser war auf einen Baum geklettert und beobachtete von dort aus die Umgebung. Die Leute aus Köbach hegten sofort den Verdacht, dass es sich hier nur um jemand handeln konnte, der in feindlicher Absicht das Dorf auskundschaften wollte um es dann später mit seiner Truppe zu überfallen. Ohne lange zu überlegen, wurde auf ihn geschossen worauf der Mann tödlich getroffen, vom Baum herunterfiel. Nun eilte man zu der Stelle und stellte mit großem Entsetzen fest, dass es sich bei dem Getöteten um einen jungen Mann aus Köbach handelte, der wohl des aufgezwungenen Kriegsdienstes überdrüssig geworden, in seinen Heimat zurückgekehrt war. Um zu sehen, ob „die Luft rein war“ von Soldaten des eigenen Heeres wie auch derer des Feindes, war er auf einen Baum geklettert. Er hatte dabei wohl nicht damit gerechnet, dass ihn die eigenen Freude und Nachbarn für einen feindlichen Soldaten halten würden. Die Dorfbewohner errichteten an dieser Stelle ein Kreuz, welches bis heute an den tragischen Unglücksfall erinnert.

Ich finde die Geschichte deshalb glaubwürdig, weil man dieses Kreuz wohl kaum beim Tode eines feindlichen Schweden errichtet hätte. Es muss  wohl etwas sehr gravierendes geschehen sein, dass man sich damals die Mühe gemacht hat, an diesem unzugänglichen Berghang ein steinernes Kreuz zu errichten. Das es mit dem 30jährigen Krieg zu tun haben muss, geht aus der Bezeichnung „Schwedenkreuz“ hervor, welches es bis zum heutigen Tage trägt. Doch zurück zur Schule.

In den Sommermonaten machte Lehrer Saueressig während der Turnstunde oft eine ausgedehnte Wanderung mit uns ins nahe Waldgelände. Beim marschieren erklangen dann die alten Fahrtenlieder, die wir in der Musikstunde gelernt hatten. Unser Lehrer nahm einen solchen Ausflug ins Grüne meist zum Anlass, uns die heimische Natur und ihre Gegebenheiten etwas näher zu bringen. Da wurden die Namen der einzelnen Gräser genannt. Wir lernten die verschiedenen Bäume an der Form ihren Blätter und an Wuchs des Stammes erkennen und bestimmen. Vogelarten und Tiere aus Wald und Feld brachte uns der Lehrer nahe und ließ sie von uns beobachten. Das war Unterricht nach meinem Geschmack. Ich habe vieles aus jenen Stunden für mein späteres Leben mitgenommen. Manchmal gab es für die Jungen ein Geländespiel, landläufig mit „Räuber und Schanditz“ bezeichnet. (Räuber und Gendarm). Das verlief nach ziemlich einfachen Regeln, machte uns allen aber immer Riesenspaß. Die zahlenmäßig größere Gruppe stellten die „Räuber“ dar, und die hatten sich im Gelände zu „verkrümeln“. Der anderen, wesentlich kleinere Gruppe, den „Gendarmen“, wurden nun die schwierige Aufgabe zuteil, die sich versteckt haltenden oder umher schleichenden „Räuber“ wieder einzufangen. Das war oft richtig spannend. Manchmal kam es aber auch vor, das sich so ein „Räuber“ noch lange nach Schulschluss im Walde herumtrieb, weil er „im Eifer des Gefechtes“ das Ende des Spieles nicht mitbekommen hatte, und wobei sich seine Kameraden schon längst auf dem Heimweg befanden.

 Die Sommermonate in meiner Kindheit dauerten ewig lange, jedenfalls kam uns das damals so vor. Am schönsten waren natürlich die Sommerferien. Da wurden schon viele Wochen vorher eifrig Pläne geschmiedet, welche Dinge man in diesen herrlichen schulfreien Wochen gemeinsam zu unternehmen gedächte. Natürlich blieb man in den Ferien zu Hause. In den Urlaub zu fahren, wie es ja heute gang und gebe ist, war damals bei uns völlig unbekannt. Ab und zu kam es aber vor das wir Kinder ein paar Tage oder die eine oder andere Woche bei Verwandten in der Nähe oder in der Stadt verbrachten. Ich für meinen Teil blieb aber liebe in heimischen Gefilden. Das lag nicht zuletzt an meiner angeborenen Schüchternheit. Ich tat mich damals ziemlich schwer in fremder Umgebung und wenn es auch bei Tante und Onkel war, die ich von vielen Besuchen her bestens kannte, und wovon, wie bereits erwähnt, eine reiche Auswahl vorhanden war. Umgekehrt war ich aber immer hocherfreut, wenn jemand aus meiner großen Vettern- und Cousinenschar ein paar Ferienwochen bei uns verbrachte, was eigentlich alljährlich so üblich war. Ich hatte dann einen Spielgefährten ganz für mich allein, was damals nicht ganz unwesentlich war, wenn man sich die strengen Aufsichtsmethoden meiner Oma, wie eingangs beschrieben, ins Gedächtnis zurückruft.

Die Sommermonate waren damals durchweg sonnig, trocken und heiß. Ab und zu gab es mal ein kräftiges Gewitter, danach strahlte aber meistens nach kurzer Zeit die Sonne wieder. So konnten wir uns den ganzen Tag draußen vergnügen, wenn nicht gerade - was natürlich des Öfteren vorkam - helfen in der Landwirtschaft angesagt war. Bevorzugtes Spielgelände war der nahe Wald - der „Rokenbusch“. Hier errichteten wir, meistens schon bei Ferienanfang aus alten Brettern, Strauchwerk und Laub eine Hütte (unseren Zweitwohnsitz) in der wir dann manche Stunden verbrachten. Sie wurde immer wieder vergrößert (modernisiert) und ausgebessert, was besonders nach einem kräftigen Gewitterregen vonnöten war.

Als dann nach Kriegsende die Indianer- und Cowboy-Romantik aus Amerika bei uns ihren Einzug hielt, die ersten Wildwestfilme in den Kinos liefen und wir Jungen mit heißen Ohren die Hefte von „Thom Mix“, „Thom Prox“ und „Billy Jenkins“ verschlangen, wurde unser Domizil im Wald zu einem Indianerlager umfunktioniert. Aus Vaters altem Hutbestand suchten wir uns die passenden Stücke heraus und bearbeiteten sie so lange, bis sie eine gewisse Ähnlichkeit mit den Cowboyhüten unserer Helden hatten. In mühevollster Kleinarbeit wurde aus einem Stück Holz ein Wildwest-Cold zurecht geschnitzt, der an einem Gürtel hing. So ausstaffiert, durchstreiften wir den Wald (die Prärie) wobei es hi und da „zwangsläufig“ zu einer handfesten Schießerei kam indem man mit dem Colt auf den Gegner zielte und durch ein laut gerufenes „Peng“ zu erkennen gab, dass man auf ihn geschossen hatte. Dieser hatte selbstverständlich daraufhin sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenzubrechen. Als nach dem Tode meiner Mutter die Frau Bohlen mit ihrem Sohn Erwin bei uns einzog, um uns den Haushalt zu führen, hatte ich in Erwin einen neuen Spielgefährten. Zu uns stieß dann noch Karl-Heinz Siebertz aus dem Nachbarort Oberhausen, der mangels eines dortigen Spielgefährten froh war, bei uns Anschluss zu finden. Wir drei bildeten bald ein unzertrennliches Team, wobei ich als der ältere natürlicherweise das Kommando führte. Leider war meine freie Zeit damals ziemlich knapp bemessen, denn nach Schulschluss und Erledigen der Hausaufgaben musste ich mit zunehmendem Alter meinem Vater im Stall und auf dem Feld zur Hand gehen. Trotzdem verbrachten wir drei so manche Stunde zusammen im Gelände, währenddessen bei Karl-Heinz eine ausgeprägte Beobachtungsgabe zum Vorschein kam. Auf unseren Streifzügen konnte er einen Hasen, ein Reh oder einen bestimmten Vogel schon auf große Entfernung und im dichtesten Unterholz ausmachen und erkennen, wobei der Erwin und ich ahnungslos vorbei getappt wären. Karl-Heinz war ein guter Spielkamerad und wir verstanden uns prächtig. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es jemals zu größeren Streitereien zwischen uns gekommen wäre. Wenn Karl-Heinz sich dann am Abend auf den Heimweg machte, und die Dunkelheit schon hereingebrochen war, habe ich ihn immer noch ein stückwegs begleitet. Dabei redeten wir über den vergangenen Tag und machten auch bereits Pläne für den folgenden. Aber auch der längste Sommer geht einmal zu Ende und mit ihm die großen Ferien.

Im Herbst gab es sozusagen als „Nachschlag“ eine Woche „Kartoffelferien“. Sie waren hauptsächlich dazu gedacht, unseren Eltern, wenn gewünscht und erforderlich auch den Nachbaren im Dorf bei der Kartoffelernte zu helfen. Anfang Dezember wurde es gewöhnlich frostig kalt und so um die Mitte des Monats begann es oft auch schon zu schneien. Die Schneedecke hielt meistens bis Anfang März. Ein halber Meter Schnee war ganz normal. Man wusste das, rechnete damit und hatte sich dafür eingerichtet. Die haltbar gemachten Lebensmittel waren im Keller untergebracht. Im Schuppen lag der Holzvorrat und ein paar Zentner Brikett. Und so konnte es getrost Winter werden.

Der Schulweg war nach dem ersten Schneefall anstrengend. Es dauerte ein paar Tage, bis man einen schmalen Pfad ausgetreten hatte. Man hatte „Bahn gemacht“. Trotzdem war der Winter für uns Kinder ein sehr willkommener Gast. Brachte er uns doch mit Schnee und Eis unzählige neue Möglichkeiten der Zerstreuung. Zuerst wurde natürlich der obligate Schneemann gebaut. Man konnte ihn damals fast vor jedem Haus bewundern und man wetteiferte natürlich darum, wer das größte und schönste Exemplar zustande gebrachte hatte. Manchmal tat man sich auch zusammen und baute eine „Riesen-Dorfschneemann“. Auf dem Schulhof durfte der weiße Mann selbstverständlich auch nicht fehlen. Die ganze Pause über wurde an ihm gewerkelt. Oft musste die Arbeit am nächsten Tag fortgesetzt werden. Schneeballschlachten gehörten zum täglichen Bedarf. Sehr beliebt war es auch, auf heimtückische Art und Weise aus dem Hinterhalt den Mädchen-Schulhof mit Schneebällen zu bombardieren. Durch lautes Kreischen machte man dort den Lehrer auf unsere Untaten aufmerksam worauf dieser mit strengen Worten dann das ganze Unternehmen stoppte. Manchmal wurden die beiden letzten Schulstunden umfunktioniert. Stattdessen war Schlittenfahren angesagt. Das war tags zuvor von unserem Lehrer verkündet worden und so hatte jeder seinen Schlitten mit zur Schule gebracht. Der steil abfallende Schulweg aus Richtung Birrenbachshöhe eignete sich vorzüglich für eine rasante Abfahrt. Der nachfolgende Wiederaufstieg gestaltete sich dementsprechend mühevoll. Das nahm man aber gern in Kauf.

Im Rokenbusch gibt es bis heute noch einige alte Lehmkuhlen, die damals entstanden sind als man dort nach dem reichlich vorhandenen Lehm grub um ihn beim Bau der Fachwerkhäuser zu verwenden. Ab dem Spätherbst füllten sich diese Kuhlen damals wie heute mit Regenwasser. Nach der ersten Frostperiode verwandelten sie sich in eine spiegelglatte Eisfläche. Nach einem kräftigen Anlauf schlitterten wir mit unseren Nagelschuhen über das Eis. Schlittschuhe waren eine Rarität für uns. Kam man bei so einer Rutschpartie zu Fall, was öfter vorkam, denn es ragten überall dürre Äste und Baumstümpfe aus der Eisfläche, konnte das ungemein wehtun, denn Eis gibt ja bekanntlich nicht nach. So machten wir nach Schulschluss an den Wintertagen oft noch einen kleinen Abstecher zu den Lehmkuhlen um „Bahn zu hauen“, wie wir das nannten.

Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien wurde es dann in unserem Klassenzimmer richtig feierlich. Wir sangen Weihnachtslieder und es wurden Gedichte vorgetragen. Sehr beliebt war auch das Vorlesen von Märchen. Wochenlang vorher war ein Krippenspiel einstudiert worden welches nun zur Aufführung gelangte. Ich erinnere mich noch gut an eine solche Aufführung in unserer Oberklasse. Die Kinder der Unterklasse waren ebenfalls zu uns heraufgekommen um sich das Geschehen mit anzusehen. Mit einiger Phantasie konnte man sich in unseren beiden großen, ineinander geschobenen Schultafeln den Stall von Bethlehem vorstellen. Ganz gegensätzlich zu meinem angeborenen gutmütigen Naturell hatte ich den hartherzigen Hauswirt zu spielen, der das Heilige Paar in der Person von Herbert Strunden und Margret Utsch mit schroffen Worten abzuweisen hatte, was mir total gegen den Strich ging, ich aber laut „Drehbuch“ nun einmal ausführen musste. Dann wurden wir in die Weihnachtsferien entlassen und es begann für uns die geheimnisvolle Zeit. Die meisten von uns „glaubten“ ja noch an das Christkind, wenn auch hier und da schon die ersten Zweifel im Entstehen waren. Der Krieg war noch weit entfernt und für uns Kinder nur durch allerlei Kriegspielzeug und einschlägige Bilderbücher gegenwärtig. Auf dem Gabentisch waren daher auch überwiegend Panzer, Kanonen, Flugzeuge und Zinnsoldaten vertreten. Auch ich besaß von dieser Spezies ein reichhaltiges Sortiment. Das Prachtstück meiner Sammlung war außer der obligaten Ritterburg eine „Me109“ aus Blech. Man konnte das kleine Flugzeug in seine Einzelteile auseinander nehmen und wieder zusammenbauen.

Während im strengen Winter 1942/43 im fernen Stalingrad mehr als eine Million russische, rumänische, italienische, ungarische, österreichische und deutsche Soldaten fielen, erfroren und verhungerten und von den 260.000 Eingeschlossenen der 6. Armee des Generalfeldmarschal Paulus 91.000 in Gefangenschaft gerieten, aus der später nur noch 6000 in die Heimat zurückkehrten, hatten wir Kinder von alle dem natürlich keine, oder nur eine sehr geringe Ahnung. Stalingrad war der Anfang vom Ende der Nazi-Herrschaft und des Krieges, der aber fast noch drei schreckliche Jahre dauern sollte. Als dann die feindlichen Bombenflugzeuge auch über der Landbevölkerung ihre tödliche Last abzuwerfen begannen und die ersten Flüchtlingstreks aus den Ostgebieten unsere Heimat erreichten, war auch für uns Kinder der Krieg zur bitteren Wirklichkeit geworden.

Eines Morgens im Spätherbst 1944 blickten wir auf unserem Schulhof in neue Gesichter. Es waren die ersten Flüchtlingskinder, die wir zu Gesicht bekamen und sie wurden dementsprechend in gebührender Weise von uns bestaunt. Viele von ihnen kamen barfuss daher. Offenbar waren sie das gewohnt, denn das Laufen mit ihren nackten Füßen auf dem rauen Boden unseres Schulhofes machte ihnen scheinbar wenig aus, wobei uns schon vom Zuschauen die Füße schmerzten. Fremdartig klang auch ihre Sprache für unsere Ohren und wenn wir, wie üblich, platt mit ihnen redeten, verstanden sie kaum ein Wort. Alle Neuankömmlinge fanden aber irgendwie Platz in unseren Klassenräumen und bald gehörten sie zu uns als ob wir uns schon einen Lebtag gekannt hätten. Ich kann mich in keiner Weise daran erinnern, dass wir jemals Unterschiede zwischen ihnen und uns gemacht hätte, weder beim Unterricht noch beim spielen. Wir Kinder waren da wohl unkomplizierter als viele Erwachsene. Im Übrigen stellten die neuen Schulkameraden eine natürliche Bereicherung in unserem ansonsten doch etwas eintönigen Dasein dar. Sie kamen aus West- und Ostpreußen, später dann auch aus den Gebieten von Pommern und Schlesien. Das waren Landschaften, die wir nur vage aus dem Unterricht kannten. Sie hätten genauso gut auf einem anderen Stern liegen können. Plötzlich hatte unsere kleine, überschaubare Welt ganz neue Dimensionen bekommen. Die meisten von ihnen waren mit ihren Müttern geflohen. Der Vater befand sich im Krieg, in Gefangenschaft oder vielleicht sogar tot. Was diese Frauen mit ihren halbwüchsigen Kindern auf der langen Flucht, zum Teil in den strengen Wintermonaten durchgemacht hatten, muss unbeschreiblich gewesen sein.

Ich sehe noch den kleinen „Erusch“ vor mir. Eigentlich hieß er Ernst. Wir nannten ihn „Marianka“, nach einem damals geläufigen Schlager, den Erusch oft und gern, und sehr melodisch vor sich her sang. Barfuss, ein wenig zerzaust, in abgeschabten und mehrfach geflickten Klamotten war er für uns ein Phänomen schlechthin. So schoss er mit seiner „Fletsch“ (Schleuder) nach Lust und Laune jeden Spatz vom Baum. Seine bevorzugtesten Ziele waren die Porzellan-Isolatoren hoch an den Telefonmasten, die er reihenweise „abknallte“. Die besagte „Fletsch“ bestand aus einer kleinen Astgabel, an der zwei Gummistreifen befestigt waren, die wiederum parallel zu einem Lederstück führten. In diese Lederstück legte man einen Kieselstein, zog den Gummi stramm und schleuderte den Kiesel ins Ziel. Der Gummi bestand aus Einmachringen, wie man sie zum Abdichten der Weckgläser verwendet. Profis besaßen dagegen Gummistreifen die aus echten Autoschläuchen geschnitten waren. Sie hatten einen hohen Preis und man bekam sie nur durch Beziehungen unter der Hand. Der Besitz einer solchen „Waffe“ war natürlich strengstens verboten und unser Lehrer konfiszierte sie rücksichtslos, wenn er einer solchen habhaft werden konnte, natürlich mit der dazugehörigen Strafe in Form einer saftigen Tracht Prügel. Aber das schreckte wenig ab, man baute halt wieder eine neue.

Auch unsere Dorf bekam Flüchtlingsfamilien zugeteilt. Bei den Söntgeraths zog eine Mutter mit ihren beiden Kindern, einem Jungen und einem Mädchen ein. Ihre Heimat war Pommern. Axel, so hieß der Sohn befand sich in meinem Alter und er wurde bald mein Spielkamerad. Dann zog noch eine Mutter mit ihren vier Kinder in das baufällige Haus oberhalb Beckers ein. Sie waren aus Ostpreußen geflüchtet. Der älteste Sohn Hans war geistig etwas zurückgeblieben. Auf der Flucht waren ihm an beiden Füßen die Zehen erfroren und sie mussten amputiert werden. Irgendwann hat er wohl den Weg herauf zu uns gefunden und natürlich versorgte ihn dann meine Oma immer mit ein paar gut belegten Butterbroten, die Hans dann mit Heißhunger verzehrte. Später kam er dann regelmäßig zu uns, wobei er stets einen großen Bogen durch die Felder einschlug, um seinen Geschwistern nicht den Ort seiner Sättigung zu verraten. Wie er uns erzählte, nahmen diese ihm sofort alles essbare ab, was er von den mitleidigen Dorfbewohnern erhielt. Später gab ihm meine Mutter ab und zu einen Korb Nahrungsmittel für seine Familie mit auf den Heimweg.

Im Gegensatz zu dieser, in äußerster Armut lebenden Familie gehörten wir ja mit unseren beiden Milchkühen, unserem Garten und unserem Stück Land zu den Begüterten. Ich weiß nicht, wie viele hungrige Mäuler meine Oma in jener Zeit mit ihren „legendären“ Butterbroten gestopft hat. Noch heute sehe ich die beiden Flüchtlingsmädchen Brunhilde und Liselotte, sie hatten mit ihrer Mutter Unterkunft im Nachbarort Oberhausen gefunden, an unserem Küchenfenster stehen und meine Oma reichte ihnen ein paar frisch geschmierte Butterbrote heraus. Das ereignete sich ein paar mal die Woche, wahrscheinlich sprach sich so etwas herum.

Der Strom von Flüchtlingen aus den Ostgebieten und den fliegergeschädigten Obdachlosen aus den Großstädten hielt an und wurde stärker. Wer noch ein Zimmer oder eine Kammer zur Verfügung stellen konnte, nahm eine Flüchtlingsfamilie bei sich auf. Eine für heutige Verhältnisse unvorstellbare Solidarität kam zum tragen. Das wenige, das man selber noch besaß, wurde mit denen geteilt, die alles verloren hatten. Die immer mehr um sich greifende egoistische Lebensweise, die ich auf vielerlei Wegen immer wieder auf dass heftigste bekämpfe und anprangere, hatte damals noch keinen Einfluss gewonnen. Im dörflichen Leben war man ja von jeher aufeinander angewiesen, und so fiel es den meisten nicht schwer, Solidarität zu üben und zu teilen.

Im Sommer 1941 wurde auch mein Vater zur Wehrmacht eingezogen. Er hatte Glück, denn er kam - wohl wegen seines Alters - nicht an die Front. Man kommandierte ihn nach Schwelm in Westfalen. Dort befand sich ein Kriegsgefangenenlager und er wurde zur Bewachung von französischen Kriegsgefangenen eingeteilt. Natürlich wurde zwischen Bewachern und Gefangenen auf strengste Distanz geachtet, und der private und persönliche Kontakt war dem Wachpersonal nachdrücklich verboten worden. Natürlich hielt sich mein Vater nicht an diese Vorschrift, was für jeden, der ihn kannte, nicht verwunderlich war. So war er bei den Franzosen auch bald sehr beliebt. Diese erhielten aus ihrer Heimat oft Pakete mit Lebensmittel und allerlei Leckereien. Deren Inhalt wurde ihnen aber erst nach peinlich genauer Kontrolle übergeben. Mein Vater hat später mehrfach erzählt, wie sehr er sich geschämt habe, wenn er einen liebevoll gebackenen Kuchen oder eine Tafel Schokolade rücksichtslos mit seinem Messer zerteilen musste um nach verbotenen Dingen Ausschau zu halten. Als die Gefangenen mitbekommen hatten, das er einen Sohn zu Hause hatte, bekam er oft Schokolade und Süßigkeiten zugesteckt, die er alsdann verbotenerweise per Feldpost zu uns nach Hause schickte. Ich erinnere mich noch gut an jene köstliche Tafel Blockschokolade, die mir so herrlich geschmeckt hat und die es in dieser Qualität bei uns schon lange nicht mehr zu kaufen gab. Besonders in Frankreich erfährt die Hl. Theresia von Lisieux (1873-1897) große Verehrung. So schenkte ein französischer Kriegsgefangener meinem Vater eine kleine Bernsteinkapsel. Sie enthält neben dem Bild der Heiligen einen in Gold gefassten kleinen Holzsplitter aus ihrem Sterbezimmer. Ich besitze dieses Kleinod noch heute und es gehört zu meinen wertvollsten Erinnerungsstücken an die damaligen Zeit. Außerdem hat mich das kurze Leben der heiligen Theresia vom Kinde Jesu, wie sie sich nach Eintritt in den Karmel von Lisieux nannte, seither immer wieder fasziniert und ich bin inzwischen ein großer Verehrer dieser großen Heiligen geworden. Vielleicht hat das diese kleine Bernsteinkapsel daran bewirkt!

Wie mein Vater es fertig gebracht hat, trotz aller Verbote so gute Kontakte mit den Gefangenen zu unterhalten, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Wahrscheinlich lag es an seiner unkomplizierten, menschlichen Art, mit denen er seinen Mitmenschen begegnete und mit denen er sich über alle Schranken, politischer oder gesellschaftlicher Art - auch in den späteren Jahren - hinwegsetzte. In gewisser Weise war mein Vater ein Träumer, einer von der Sorte, welche die Bäume als das betrachten, was sie sind und die es nicht interessiert, was man aus ihnen herstellen kann. Er hatte sich sein eigenes Weltbild zu Recht gezimmert, wobei er zwangsläufig immer wieder mit konventionellen Ansichten und Methoden seiner Mitmenschen auf Kollisionskurs geriet. Hätte sich sein Wunsch, Musik zu studieren, erfüllt, so wäre er bestimmt glücklicher geworden, obschon das Leben eines Musikers - damals wie heute - vom rein materialistisch-finanziellen Standpunkt aus betrachtet, eher auf schwankendem Boden steht. Aber damit hatte mein Vater sowieso wenig am Hute. Hätte man ihn wählen lassen zwischen einem lukrativen Geschäft mit hohem Gewinnanteil und seiner Geige oder Gitarre, er hätte seine geliebte Geige genommen, sie sich unter ’s Kinn geklemmt, ein Lied gespielt und das Geschäft sausen lassen. Da bin ich mir bis heute ganz sicher.

Doch zurück nach Schwelm. Hier lernte mein Vater bald eine musikbegeisterte Familie kennen. Die junge Frau - sie hieß Olga -, spielte Klavier. Es befand sich auch eine Geige im Haus und so musizierte mein Vater nach Dienstschluss abends oft gemeinsam mit ihnen zusammen im Kreise der Familienmitglieder. Olga hat uns später ein paar Mal besucht. Bei dieser Gelegenheit brachte sie mir ein kleines Instrument mit. Es war ein Mittelding zwischen einer Blockflöte und einer Klarinette. Jedenfalls spielte ich bald richtige Lieder darauf. So hatte es mein Vater eigentlich recht gut angetroffen, doch das Schicksal schlägt bekanntlich oft unvermutet eine Richtung ein, die wir freiwillig so niemals akzeptieren würden. Im Rückblick erweist sich jedoch der eingeschlagene Kurs meistens als logisch und richtig.

Ein Geschwür am Zwölffingerdarm hatte meinem Vater schon lange zu schaffen gemacht. Hier in Schwelm nun geschah es, das dieses Geschwür aufbrach, so dass sich der gesamte Mageninhalt in die Bauchhöhle ergoss. Er hatte Glück im Unglück, denn man brachte ihn rasch in ’s nahe Krankenhaus. Wäre ihm das zu Hause passiert, dann wäre er wohl mit ziemlicher Sicherheit qualvoll gestorben. Aber es war auch so dramatisch genug. Ich vergesse nie den Abend, als meine Mutter weinend am Tisch saß und meine Oma sie zu trösten versuchte. Sie hatte meinen Vater im Krankenhaus besucht und es stand wohl nicht sehr gut um ihn. Schließlich wurde er aber wieder gesund und im Frühjahr 1942, nach seiner Genesung, wurde er als „wehrmachtsunfähig“ entlassen. Nach Hause zurückgekehrt, wurde er dann jedoch „kriegsverpflichtet“, das heißt, ab sofort hatte er in einem Rüstungsbetrieb zu arbeiten. Es gab in Allner bei Hennef eine kleine Fabrik, in der man kriegswichtige Dinge herstellte. Hier meldete sich mein Vater und er hat dort bis gegen Ende des Krieges gearbeitet. Dort im Betrieb wurde er als „kranker Mann“ behandelt - wie er später oft mit verschmitztem Lächeln erzählte. Man besorgte ihm einen Stuhl, wogegen die anderen ihre Arbeit stehend verrichten mussten. Zu Hause aß er gerne unser körniges Schwarzbrot. Im Betrieb nahm er dagegen fleißig Weißbrot und Milchsuppe zu sich, um hier nicht aufzufallen. Einmal zitierte man ihn zu einer Kontroll-Untersuchung nach Siegburg. Als er dem dortigen Stabsarzt dann jedoch mit Leichenbittermine von seinen Übeln berichtet habe - so erzählte mein Vater später - hätte dieser mit lauter Stimme gebrüllt: „Weiter wehrmachtsunfähig!“ Aus den Erzählungen meines Vaters hörte man unschwer heraus, dass er sich in Allner sehr wohl gefühlt haben muss. Schließlich wurde dadurch die Haushaltskasse ja auch um einiges aufgebessert. Doch nun zurück zu meiner Geschichte.

Der Krieg rückte immer näher. Von den schrecklichen Fliegerangriffen, wie sie nun auf die Städte tagtäglich und pausenlos niedergingen, blieben wir weitgehend verschont. Hier und da verirrte sich einmal eine Bombe in unser Gelände ohne merklichen Schaden anzurichten. Ich vergesse nie jenen Wintertag. Es lag tiefer Schnee. Meine Mutter und ich standen vor unserer Haustür um die feindlichen Bomber zu beobachten. Diese hatten ihre tödliche Last bereits über Köln oder Bonn abgeworfen und sie befanden sich nun auf ihrem Rückflug nach England, wie wir aus der eingeschlagenen Flugrichtung ersehen konnten. Sie waren deshalb auch für uns völlig ungefährlich - wie wir irrtümlicherweise annahmen. Plötzlich erschütterte die Luft eine gewaltige Explosion und ich sehe es noch heute vor mir, wie im vor uns liegenden Rokenbusch dicke Eichenstämme wie Streichhölzer durch die Luft purzelten und riesige Erdfontänen in den Himmel schossen. Dann erreichte uns die Druckwelle und schleuderte meine Mutter und mich bis zur rückwärtigen Wand. Als wir und anderntags zur Abwurfstelle im Wald begaben, entdeckten wir drei bis vier große Bombenkrater. Sie sind - inzwischen mit Wasser gefüllt - heute noch erkennbar. Warum die Flieger ihre restlichen Bomben damals ausgerechnet über diesem unbewohnten Waldgebiet abgeworfen haben, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Hätte der Abwurf sich nur um ein paar Sekunden verzögert, wäre halb Birrenbachshöhe in Schutt und Asche versunken. Wahrscheinlich war ein Feindflugzeug durch einen Flak-Treffer beschädigt worden und es hatte nun durch einen „Notabwurf“ den Rest seiner Bomben fallen gelassen.

Normalerweise wurde unser Raum nur von feindlichen Fliegerverbänden in großer Höhe überflogen. Dicht gezielte Bombenabwürfe auf großräumigen Flächen, wie in den Städten, erfolgten hier nicht. Es war ja auch kein lohnendes Ziel vorhanden, das es zu vernichten galt. Trotzdem war natürlich die Furcht vor Bomben stets bei uns vorhanden. Abends, wenn die Lichter angingen, wurden zuallererst die Fensterläden geschlossen, wobei mein Vater meistens noch einen Rundgang um ’s Haus machte, um zu kontrollieren, ob auch ja kein verräterischer Lichtschimmer nach draußen fiel. Es gab da auch dickes, schwarzes Papier zu kaufen, so genanntes „Verdunklungspapier“, mit denen man die Fenster ohne Außenläden von innen abdunkeln konnte.

Nach Einbruch der Dunkelheit stand ich mit meinen Eltern oft hinter unserem Haus an unserem Garten. Von dort aus hatte man eine gute Fernsicht in westlicher Richtung. Hier konnte man das Spiel der Scheinwerfer beobachten. Die hellen Streifen ihrer Lichter tasteten wie überlange Finger den Nachthimmel nach feindlichen Flugzeugen ab. Oft beobachteten wir auch die so genannten „Christbäume“ am nächtlichen Himmel. Sie schwebten in dichten Knäueln langsam zur Erde und sie hatten für den Betrachter das Aussehen eines, mit bunten Kugeln geschmückten Weihnachtsbaumes. Für die Einwohner von Köln und Umgebung waren sie dagegen weniger romantisch. Diese „Christbäume“ waren farbige Magnesiumkerzen, welche von so genannten „Pfadfindern“ abgeworfen wurden und an kleinen Fallschirmchen zu Boden schwebten. Sie markierten so den nachfolgenden Bomberverbänden die einzelnen Abwurfstellen für deren tödliche Last.

Der 28. Dezember 1944 war wohl der schwärzeste Tag in der Geschichte der Stadt Siegburg. In einem Großangriff, der nur 5 Minuten dauerte, (genau von 13,05 - 13,10 Uhr) fielen 360 Sprengbomben und viele Phosphor-Brandbomben. Es gab 74 Tote und 250 Verletzte. Am 29.12.1944 ereilte Troisdorf ein ähnliches Schicksal. Vorher hatte man die Einwohner durch Flugblätter gewarnt und in zusätzliche Angst und Schrecken versetzt. Ich erinnere mich noch an ein solches Flugblatt, auf welchem der Marktplatz von Siegburg mit der Abtei auf dem Michelsberg abgebildet war - und ich habe mich damals gewundert, woher die Engländer oder Amerikaner eine solche deutliche Aufnahme der Stadt her bekommen hatten. Es stand darauf zu lesen: „Siegburg unter den Linden, wir werden dich doch finden!“ Natürlich war es streng verboten, ein solches Flugblatt zu lesen oder gar weiterzugeben. Fand man ein solches, hatte man es sofort zu vernichten oder bei den zuständigen Behörden abzuliefern. Für uns Kinder hatte es natürlich seinen besonderen Reiz, dieses vom Himmel gefallene, und oft mit interessanten Bildern bedruckte Papier aufzuheben und zu sammeln. Jeder von uns besaß einen ziemlichen Packen davon. Ebenfalls sammelten wir auch so genanntes „Lametta“. Das waren Staniolstreifen, die von den feindlichen Fliegern abgeworfen wurden, um die deutschen Radarstationen zu irritieren. Einmal stand ich vor unserer Stalltür, als mir ein solcher Staniol-Knäuel langsam vom Himmel, direkt vor die Füße schwebte.

Während an der Front und in den Städten die Menschen litten und starben, erlebten wir Kinder damals den Krieg eher als eine Art Abenteuer. Das bekamen wir ja auch überall auf ganz raffinierte Art und Weise vorgegaukelt. Ich besaß z. B. große bunte Bilderbücher, in denen man die Heldentaten unserer Wehrmacht glorifizierte. Die feindlichen Soldaten hatten stets abstoßende Gesichter und sie waren natürlich auch immer die Unterlegenen. Kriegsspielzeug trug ebenfalls dazu bei, uns als zukünftige Soldaten die kommenden Dinge und den Krieg „schmackhaft“ zu machen. Viele Jungen meines Alters besaßen damals auch eine komplette Soldatenausrüstung, bei der eigentlich nur noch das Gewehr fehlte. Angefangen mit der Feldflasche über den Brotbeutel, das Koppel, die Patronentasche, das Seitengewehr (kurzes Bajonett, es wurde für den „Nahkampf“ am Gewehrlauf befestigt - „aufgepflanzt“), die Gasmaske, der Stahlhelm bis hin zu diversen Patronen wie Leuchtspur-Munition und ganzen Magazinen mit Gewehrmunition. Wir brachen die spitzen Projektile mit einer Zange aus der Patronenhülse und schütteten das darin enthaltene Schießpulver aus. Das wurde dann aus sicherer Entfernung angezündet und es gab eine kräftige Stichflamme. Mir der Patronenhülse verfuhr man anschließend folgendermaßen: Man spannte sie in einen Schraubstock und dann wurde mittels Hammer und Nagel auf die Zündkappe geschlagen. Dabei entstand ein kurzer, scharfer Knall. Die überaus große Gefährlichkeit unserer Aktivitäten war uns dabei wohl kaum bewusst. Immer wieder kam es dabei auch hier und da zu Unfällen. Unsere Eltern und Lehrer durften von unserem Tun natürlich überhaupt nichts wissen, wir wären sonst - und zu Recht - hart bestraft worden.

Natürlich besaßen wir auch jede Menge Orden und Ehrenzeichen. Sie wurden fleißig gesammelt und getauscht. Jeder Orden hatte da bei uns seinen bestimmten Wert. Alle diese Dinge fanden wir, besonders in den letzten Kriegstagen, zuhauf in den nahen Wäldern. Sie waren dort von den hier lagernden oder durchziehenden Soldaten liegengelassen oder einfach weggeworfen worden. Hatten wir Wehrmachtsangehörige im Quartier, blieb auch schon mal das eine oder andere Teil liegen oder wurden schlichtweg vergessen. Manchmal halfen auch ein paar Bitten und wir Kinder bekamen die erwünschten Dinge - natürlich keine gefährlichen Gegenstände oder gar Munition. So erinnere ich mich noch sehr gut, einmal eine „MP“ (eine Maschinenpistole) besessen zu haben. Gott sei Dank fehlte die passende Munition. Wer weiß, was ich sonst damit für Unheil angerichtet hätte. Ich habe sie später für andere Dinge des militärischen Bereiches „eingehandelt“, die für mich wohl von größerem Interesse waren.

Eines Tages wurde ein komplett bestückter Sanitätskoffer in unserem Hause deponiert, mit der Versicherung, in später abzuholen, wozu es aber nie gekommen ist. Meine Eltern haben also die große, weiße Blechkiste mit dem aufgemalten roten Kreuz treu und brav aufbewahrt, bis ich mich dann eines Tages neugierig über deren Inhalt hermachte. Außer Verbandszeug und Mullbinden, Fläschchen und Tuben gab es auch einige medizinische Gerätschaften wie Stethoskop, Fiebermesser, Spritzen und Metallschienen, wie man sie bei Knochenbrüchen verwendet. Eines Abends saß ein Soldat bei uns am Tisch, der - wie sich später herausstellte -, Sanitätsarzt war und dem es an allen medizinischen Hilfsmitteln fehlte. Als dieser nun den Inhalt des Blechkoffers sah, den ich unbedarfterweise als Spielzeug benutzte, machte er große Augen. Ich erinnere mich noch gut, dass meine Eltern mich richtig darum gebeten haben, dem Soldaten diese Sachen zu überlassen, was ich damals sehr ungern getan habe. Warum sie mir das Ganze nicht einfach weggenommen haben, und mich erst noch fragten - was eigentlich nicht die Art war - ist mir bis heute schleierhaft geblieben. Der Arzt war jedenfalls hocherfreut und es ist mir noch in guter Erinnerung, dass er sich tausendmal bei uns bedankte, als er weiter zog.

Bevor eine Soldateneinheit, welche sich entweder auf dem Vormarsch - meistens jedoch auf dem Rückzug befand,  in einem Dorf für ein paar Tage Unterkunft beanspruchte, wurden so genannte „Quartiermacher“ vorausgeschickt, die zu erkundigen hatten, wie viele Unterbringungsmöglichkeiten jeweils vorhanden waren. So erinnere ich mich, dass eines Abends zwei Soldaten in schwarzer Uniform bei uns am Tisch saßen. Das berüchtigte „Totenkopf-Emblem“ an ihrer Uniform ließ sie unschwer als „SS-Leute“ erkennen und ich spürte damals als Kind ziemlich gut diese gespannte, furcht durchsetzte und gedrückte Atmosphäre in unserer Stube. Meine Eltern behandelten die beiden wie „rohe Eier“. Jedes Wort wurde „auf die Goldwaage“ gelegt und wir hatten wohl auch Angst, dass meine Oma wieder einmal ihre mehr als negative Meinung über die Nazis zum besten geben würde, was aber Gott sei Dank nicht geschah. Mit Bangen erwarteten wir nun in den nächsten Tagen die angekündigte SS-Abteilung, die aber zur großen Erleichterung meiner Eltern nie angekommen ist.

Es kam der Sommer 1944. Ich erinnere mich noch gut an jenen sonnigen Sonntagnachmittag. Die Andacht in unserer Pfarrkirche St. Johannes in Kreuzkapelle war zu Ende und wir Kinder befanden uns nun auf dem Heimweg. Plötzlich klang dröhnender Motorenlärm von der Straße her an unsere Ohren und eine lange, ziemlich bunt gewürfelte Kolonne der verschiedensten Militärfahrzeuge kroch langsam, aus dem Wahnbachtal kommend, die Straße von Kreuzkapelle hoch. Wegen des akuten Benzinmangels, der inzwischen allenthalben herrschte, waren die meisten Fahrzeuge aneinander gekoppelt. An der Spitze zog der schwere „Büssing“, welcher später lange Zeit für uns Oberholzer Kinder eine zentrale Rolle spielen sollte. Als weitere Zugmaschinen fungierten zwei Raupenschlepper. Wie wir später erfuhren, wurden sie im Soldatenjargon einfach „RSO“ (Raupenschepper Ost) genannt. Für die Entstehung dieses Namens gab es, wie wir später von den Soldaten erfuhren, zwei Versionen: Entweder stammte der Ausdruck von ihrem Einsatz an der winterlichen, unwegsamen Ostfront oder, was wohl zutreffender war, sie waren als Beutegut der russischen Armee von der deutschen Wehrmacht für gut befunden und im Reich nachgebaut worden. Es waren Kettenfahrzeuge und sie ähnelten einem kleinen Panzer. Sie fuhren mit Rohöl (wie man den Diesel-Treibstoff damals nannte) Dieser war noch in kleinen Mengen vorhanden wogegen das Benzin längst schon zur Mangelware geworden war.

Zu Hause angekommen, bemerkten wir sogleich im nahen Rockenbusch das Getöse und den Motorenlärm. Natürlich begaben wir uns sofort an den Ort des Geschehens und stellten mit Begeisterung fest, dass die Kolonne im Begriff stand, sich hier häuslich niederzulassen. Das war es ja nun, worauf wir Jungen eigentlich die ganze Zeit gewartet hatten - endlich „Krieg zum Anfassen“ direkt vor unserer Haustür. Unsere Eltern waren da weniger begeistert, denn sie dachten realistischer und sie machten sich berechtigterweise große Sorgen über eventuelle feindliche Fliegerangriffe, falls diese das Waldlager entdecken sollten.

Doch die Soldaten sorgten schon um ihrer eigenen Sicherheit willen für ausreichende Tarnung ihrer Fahrzeuge gegen Feindeinsicht aus der Luft. Alle Fahrzeuge und Geräte wurden mit Tarnnetzen überspannt und unter dichtem Laubwerk versteckt. Zur Abteilung gehörte auch eine „Vierlings-Flak“ und sie diente, wie der Name schon sagt, der Flugabwehr (Flak = Flugabwehrkanone). Dieses Geschütz besaß vier Rohre, aus denen gleichzeitig geschossen werden konnte. Meines Wissens ist die Kanone bei uns aber nie zum Einsatz gekommen. Der Chef der Truppe stand im Range eines Schirrmeisters. Ich glaube, so betitelte man den befehlshabenden Offizier einer Kfz-Abteilung. Ich persönlich bezog den Ausdruck auf den stets spiegelblank geputzten Schirm seiner Dienstmütze. Aber auch sonst steckte dieser Mann in einer tadellosen Uniform, was unserer Bilderbuch geprägten kindlichen Phantasie vom Aussehen eines richtigen deutschen Soldaten durchaus entsprach, wogegen der übrige Haufen einen eher etwas lotterhaften und heruntergekommenen Eindruck auf uns machte. Die deutsche Wehrmacht war halt in Auflösung begriffen und jeder sah mehr oder weniger, wo er blieb.

Die Truppe nahm nun in den umliegenden Ortschaften Quartier. Bei uns zogen auch zwei Soldaten ein und sie machten es sich in unserem bekannten „Fremdenzimmer“ bequem. Verpflegung erhielten die beiden wie alle anderen aus ihrer Feldküche. Das war natürlich bei uns kein Thema, denn sie gehörten nach ein paar Tagen zur Familie und aßen mit uns zusammen dasjenige, was auf den Tisch kam. Den „Fraß“ aus der Feldküche - und ich bezeichne ihn bewusst als solchen -, bekam unser Schwein, dass sich seinerseits hocherfreut über die willkommene Abwechslung im Speiseplan genüsslich darüber hermachte und dabei bestimmt ein paar Kilo zugenommen hat. Das Feldküchenessen bestand hauptsächlich aus dicken, pappig zusammen geklumpten Nudeln, und das täglich - wochenlang! Ich sehe sie heute noch vor mir: diese vielen Behältnisse in unserem Stall, angefüllt mit dieser unaussprechlichen, weißen Pampe. Neugierig habe ich einmal davon gekostet, dann aber sehr schnell die Finger davon gelassen, obwohl mir ansonsten alles Essbare auswärtiger Kochkunst durchaus willkommen war. Unsere neuen Mitbewohner brachten dann später auch noch die verschmähten Portionen ihrer Kameraden mit, und unser Schwein freute sich. Den Namen des einen Soldaten habe ich noch behalten, er hieß Bodo, einen für uns fremdartig klingenden Namen, weshalb ihn meine Oma wohl auch immer „Boto“ nannte.

Für uns Kinder gab es natürlich ab sofort nur noch ein Thema. Nach Schule und Hausaufgaben ging es zu den Soldaten in den Rockenbusch. Die Feldarbeit war weitgehend zum Erliegen gekommen, da die ständige Gefahr von Jabos (Jagdbomber) immer größer wurde. Die feindlichen Tiefflieger waren ja ab dem Spätsommer 1944 „alleinige Herrscher“ in unserem Luftraum. Die deutsche Lufthoheit, von welcher der „Dicke Hermann“ (Feldmarschall Hermann Göring) immer geprahlt hatte, war total zusammengebrochen. Unsere Flugzeuge entweder zerstört durch feindliche Jäger und Bomben oder unsere Jäger waren wegen Benzinmangel nicht mehr startfähig. Und so kreisten die feindlichen  Jabos eigentlich ständig irgendwo in der Luft und man musste immer auf der Hut sein, denn sie tauchten plötzlich im Tiefflug am Horizont auf und schossen dann auf alles, was sich bewegte - oder auch nicht bewegte. Im Winter 1944 wurde deshalb auch der Schulunterricht ganz eingestellt weil der Schulweg zu gefährlich geworden war. Der Lehrer besuchte nun die einzelnen Gehöfte, trommelte die Kinder in einem Haus zusammen und gab ihnen für die nächsten Tage Hausaufgaben auf. Dass wir dabei nicht besonders viel gelernt haben, sei nur am Rande erwähnt.

Hier muss ich eine Begebenheit erzählen, die mein Vater später immer wieder bei Bekannten und Nachbarn zum Besten gab und die unterschiedlichsten Reaktionen, vom verständnislosen Kopfschütteln bis hin zum „Vogelzeigen“ hervorrief. Trotz Bitten und Warnungen seitens meiner Mutter hatte mein Vater eines Tages unsere beiden Kühe vor den Pflug gespannt, war mit ihnen ins Feld, zur „Hongsecht“ - einem weitflächigen Ackergelände in Richtung Birrenbachshöhe gezogen und hatte dort seelenruhig begonnen, unser abgeerntetes Kartoffelstück umzupflügen. Plötzlich waren ein paar Tiefflieger aufgetaucht. Anstatt nun fluchtartig das Gelände zu verlassen oder doch wenigstens Deckung in einer Ackerfurche zu suchen, pflügte mein Vater gemächlich weiter. Die Jabos hatten dann tatsächlich das Gelände ein paar Mal überflogen und waren schließlich genau so blitzartig, wie sie gekommen waren, wieder am Horizont verschwunden. Dazu der trockene Kommentar meines Vaters: „Die sahen doch, dass ich ein kleiner Kuhbauer war, der mit dem ganzen Krieg nichts zu tun hatte“. Vielleicht hat die feindliche Flugzeugbesatzung oben am Himmel tatsächlich so gedacht - (vielleicht war aber weiter oben noch jemand, der noch weiter gedacht hat!)

Wir steckten also den gesamten Rest des Tages bei den Soldaten im Wald. Die hatten nichts dagegen, wie wir schnell herausfanden. Schließlich wurden sie ja von unseren Eltern im Dorf auch gut versorgt. Zum Teil beachteten sie uns auch gar nicht, weil sie wohl genug andere Sorgen hatten. Manchmal, je nach Lust und Laune erklärten sie uns aber auch die einzelnen Geräte. So ließen sie uns die Vierlings-Flak bestaunen und wir durften auch schon mal im Führerhaus eines ihrer Fahrzeuge Platz nehmen. Einmal, so erinnere ich mich noch gut, als ich wieder einmal auf meinem Lieblingsplatz im großen „Büssing“ saß, explodierte direkt vor dem Wagen mit einem lauten Knall ein zylinderförmiger Behälter. Er sah aus wie eine etwas zu lang geratene Konservendose. Aus dem aufgeplatzten Inneren quoll dicker Rauch. Sofort dachte ich an Gas. Ich hielt die Luft an, solange es ging, dann fasste ich meinen ganzen Mut zusammen, riss die Tür auf, sprang zu Boden und rannte - immer noch mit angehaltenem Atem - mit langen Schritten davon. Endlich dann, in sicherer Entfernung, wagte ich wieder Luft zu holen. Wie sich später herausstellte, hatte sich ein Soldat einen Jux erlaubt und eine Nebelgranate gezündet. Diese diente nur zur Qualmerzeugung um bei einem Angriff den feindlichen Truppen die Sicht zu nehmen. Jedenfalls steckte mir der Schreck damals noch tagelang in den Gliedern.

Die Abteilung war wohl nach der alliierten Invasion in der Normandie von der Westfront nach hier zurückverlegt worden und erwartete nun einen neuen Einsatzbefehl, der auch nach diesen Wochen des Ausruhens kam. Traurig verabschiedeten sich „unsere“ Soldaten von uns allen, wobei auch einige Tränen flossen. Was mag wohl aus ihnen geworden sein. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.

Ein gutes Dutzend Fahrzeuge, darunter auch „unseren Büssing“ ließen sie, wohl aus Treibstoffmangel im Rockenbusch zurück. Nun hatten wir Kinder das Reich für uns allein und wir begannen natürlich erst einmal alles aufzusammeln was da so liegen geblieben war. Dann knöpften wir und die großen LKWs vor. Mir Hammer, Zange und Schraubenzieher rückten wir ihnen zu Leibe, bauten die Armaturen aus und schraubten allerlei Materialien ab, für die wir eigentlich überhaupt keine Verwendung hatten.

Mein Vater dachte da wesentlich praktischer. In tagelanger Arbeit schraubte er fein säuberlich alle Bretter der großen Ladefläche vom Büssing ab und wir beide transportierten diese nach Hause. Auch die gut gepolsterten Sitzbänke wanderten denselben Weg. Mit den Brettern hat mein Vater dann später die sehr in Mitleidenschaft gezogene Westseite unseres Hauses neu verkleidet. Beim späteren Umbau habe ich diese Bretter dann abgenommen - sie waren immer noch „wie neu“ (dank der guten graugrünen Wehrmachtsfarbe, mit denen sie getränkt waren). Ich habe damit den zum Hause hin weisenden unteren Teil des Stalles (der jetzigen Werkstatt) verkleidet. Inzwischen wurden sie mehrmals gestrichen und man stelle sich vor, diese dicken, gehobelten Bretter zeigen heute noch nach nunmehr 60 Jahren keinerlei Verwitterungserscheinungen.

Aber auch unsere Nachbarn und Leute aus den umliegenden Orten waren nicht untätig. Als erstes waren nach und nach die begehrten, Gummi bereiften Räder verschwunden. Man entdeckte sie später unter so manchem Pferdefuhrwerk wieder. Als nach Kriegsende der Schrotthandel Hochkonjunktur hatte, hörte man oft von morgens bis abends im Wald  hämmern und klopfen. So ist mit der Zeit der ganze Wagenpark verschwunden. Aber das hat doch einige Zeit gedauert. Ich glaube, Anfang der 50er Jahre traf man hier und da noch immer auf einige Wrackteile.

Die Amerikaner erreichten am 7. März 1945 die rechte Rheinseite. An diesem historischen Tag überquerten sie erstmals bei Remagen den Rhein. Die bis dahin unzerstörte Brücke brach dann einige Tage später - wahrscheinlich wegen der starken Beanspruchung - sang- und klanglos in sich zusammen und versank teilweise im Rhein. Das bedeutete für die nachrückenden amerikanischen Truppen allerdings keinen größeren Aufenthalt, denn bald hatten ihre Pioniere eine Behelfsbrücke errichtet.

Der so genannte „Ruhrkessel“ zog sich immer mehr zusammen. Wir waren zu der Zeit weitgehend auf die Nachrichten im „Westdeutschen Beobachter“ angewiesen, der natürlich gleichgeschaltet, nur solche Meldungen verbreitete, die das Volk wissen sollte und durfte. Auf unserem guten, alten „Volksempfänger“ bekam man dagegen merkwürdig klar und deutlich „Radio London“ herein - bekannt durch die charakteristischen vier Paukenschläge. Natürlich war das Abhören des Feindsenders äußerst streng verboten und wer dabei erwischt wurde, kam unweigerlich in Haft. Das war damals gleichbedeutend mit KZ. Unser Radio stand, wie bereits erwähnt, auf einem kleinen Podest, welches in Augenhöhe an der Stubenwand befestigt war. Mein Vater stülpte nun am späten Abend eine dicke Decke über sich und das Radio, drehte den Regler auf kaum noch hörbare Lautstärke und lauschte dann stehenden Fußes den Nachrichten aus London. Solche Mitteilungen wurden später hinter vorgehaltener Hand zwischen vertrauenswürdigen Personen und guten Nachbarn ausgetauscht. Dabei instruierte man uns Kinder ständig, sich nur ja nicht in der Schule oder beim spielen zu verplappern. Meistens hörte mein Vater jedoch erst dann, wenn ich mich zu Bett begeben hatte, wobei ich ihn jedoch ein paar Mal in dieser merkwürdigen Vermummung erwischt habe.

Am 7. April 1945 überquerte das 303. Regiment der 97. amerikanischen Infanterie-Division bei Eitorf die Sieg. Die Amerikaner entwickelten bei ihrem Vormarsch eine besondere Strategie, welches meinen Vater zu der etwas abfälligen Bemerkung veranlasste: „Die Amis, das sind doch alles „Schlips-Soldaten“. Sie meiden den offenen Kampf. Erst wenn sie mit ihrer Artillerie alles zusammengeschossen haben und ganz sicher sind, keinen Widerstand mehr anzutreffen, gehen sie vor.“ Vom Standpunkt der Amerikaner aus war diese Vorgehensweise allerdings ganz logisch, denn an Munitionsnachschub und Geschützen fehlte es ihnen anscheinend in keiner Weise.

Nun bekamen wir diese Taktik allerdings auch am eigenen Leib zu spüren. Am Ostersonntag, es war der 8. April 1945 geschah noch nichts aber eine gespannte Unruhe war überall zu erkennen. Die noch verbliebenen Männer wurden aus den einzelnen Dörfern zusammengezogen. Sie mussten an strategisch wichtigen Straßen so genannte „Panzersperren“ errichten. Die Straßenkreuzung in Wohlfarth zum Beispiel wurde nach allen vier Richtungen verbarrikadiert. Dazu hob man quer über die Straße einen tiefen Schacht aus und stellte schwere Fichtenstämme dicht an dicht palisadenartig in mehreren Reihen senkrecht hinein. Diese Stämme ragten ca. 3-4 Meter aus dem Boden. Um den eventuellen Durchzug deutscher Truppen zu gewährleisten, wurde eine Öffnung gelassen, die später dann geschlossen werden sollte. Das Ganze wirkte ziemlich lächerlich, wenn man bedenkt, dass die anrückenden Panzer nur einen Bogen durch die angrenzenden Felder und Wiesen zu schlagen brauchten um diese Hindernisse ad Absurdum zu führen. Ein paar Panzergranaten hätten wohl auch genügt, um alles zu zerfetzen. Diese Aktionen gehörten wohl zu den üblichen Durchhalte-Parolen jener letzten Kriegstage, von den restlich verbliebenen Parteibonzen befohlen, ehe diese das Weite suchten um ihre kostbare Haut zu retten was vielen sogar eine Zeitlang gelungen ist - einigen sogar ganz.

Doch zurück zu jenen Apriltagen. Mein Vater hatte vorgesorgt. Mit viel handwerklichem Geschick hatte er es fertig gebracht, unseren kleinen Kellerraum irgendwie wohnlich einzurichten. Unter Verwendung der bereits erwähnten Polsterbänke aus den liegengebliebenen Wehrmachtsfahrzeugen und verschiedener Matratzen hatte er ein paar ganz passable Behelfsbetten zusammen gezimmert. Es wurden außerdem Speise- und Getränkevorräte in den Keller deponiert. Für die notwendige Beleuchtung sorgte unsere alte „universelle“ Petroleumlampe.

Die Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag verbrachten wir im Keller aber es blieb verhältnismäßig ruhig. Auch der Dienstag begann zunächst noch ruhig - abgesehen vom ständigen Kanonendonner, den wir aus der Ferne hin und wieder vernahmen. Am Spätnachmittag setzte dann verstärkter Artilleriebeschuss ein und die Einschläge lagen schon beängstigend nahe. Wie wir später erfuhren, hatten die Amerikaner, aus dem Bröltal kommend, zwischen den Ortschaften Löbach und Birrenbachshöhe Stellung bezogen und belegten uns von dort aus mit ihren 10,5 cm Granaten. Wahrscheinlich hatten sie dabei die nahe Straßenkreuzung bei Wohlfarth im Auge, die für sie wohl von einiger strategischer Bedeutung war. Indem sie diese Straßenverbindungen unter Artilleriefeuer nahmen, ließen sich so eventuelle Aufmarsch- und Rückzugsoperationen deutscher Truppen recht wirkungsvoll stören.

Leider bekamen wir davon aber mehr ab als die Wohlfarther Straßenkreuzung. Nur ein paar Geschosse krepierten mitten auf der Kreuzung ohne großen Schaden anzurichten. Bei uns lagen dagegen die Einschläge dichter und näher. Nach jeder Beschussphase legten die Amis - und darauf konnte man sich halbwegs verlassen, eine Feuerpause ein. In diesen Pausen hörten wir stets ein kleines Flugzeug kreisen, welches sicher als Beobachter losgeschickt wurde. In diesen ruhigen Momenten stieg mein Vater die Kellertreppe hoch um nachzusehen, ob noch alle Gebäude standen. In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal richtige Todesangst erfahren.

Im Keller befanden sich außer meinen Eltern und meiner Oma auch Onkel und Tante Jagusch aus Essen, die dort ihr schönes, großes Haus und ihren gesamten Besitz durch Fliegerbomben verloren hatten und nun schon seit Weihnachten bei uns lebten. Während oben die Granaten heulend angeflogen kamen und krachend detonierten, beteten wir hier unten im Keller den Rosenkranz. An Schlaf war natürlich überhaupt nicht zu denken. Eine alte Landser-Weisheit, die wir Kinder bei den Soldaten aufgeschnappt hatten, besagte, dass eine heulende Granate vorbei fliegt oder doch wenigstens in einiger Entfernung vom Horcher explodierte. Ob das nun wahr ist oder nicht, jedenfalls klammerte ich mich in jener Nacht an diese Darstellung. Am frühen Morgen ließ uns eine schwere Detonation, gefolgt von krachendem und berstendem Getöse zusammenfahren. Mein Vater sagte: „Jetzt ist der Stall und die Scheune weg und vielleicht brennt es oben“. Mit Furcht und Bangen erwarteten wir nun die nächste Feuerpause. Als es soweit war klettert mein Vater vorsichtig nach oben und wir harrten gespannt auf seine Rückkehr.

Als er dann nach ewig-langer Zeit endlich erschien, berichtete er uns, was er in der anbrechenden Dämmerung oben wahrgenommen hatte: Die halbe Scheune sei weg, so erzählte er aufgeregt, einschließlich des Scheunendaches. Aber die Kühe ständen - wie durch ein Wunder, unversehrt nebenan im Stall und sie befänden sich, so als ob nichts geschehen wäre, seelenruhig beim Widerkäuen.

Plötzlich hatte der Beschuss ein Ende gefunden und es trat eine fast unwirkliche Stille ein. Draußen brach der Morgen an, und wir wagten uns vorsichtig nach oben. Nun konnten wir in der fortschreitenden Morgendämmerung das ganze Ausmaß der Zerstörung betrachten. Wie wir schnell rekonstruierten, war eine Granate schräg über unseren linken Hausgiebel hinweg gefegt und genau vor dem Scheunentor explodiert. Durch die Gewalt der Splittereinwirkung war das große Scheunentor in seinem unteren Teil halbkreisförmig vollständig zerfetzt. Auf dem Scheunendach befand sich kaum noch ein heiler Dachziegel. Die Balken waren gespickt mit scharfkantigen Metallsplittern. (Einige lassen sich bei näherem Hinschauen heute noch entdecken). Aber die Scheune stand noch an ihrem Platz. Dem direkt rechts der Scheune angebauten Stall war nicht viel passiert. Lediglich das massive Hinterteil der Granate - es befindet sich noch heute in meinem Besitz - hatte die zum Hause weisende Stalltür an ihrem oberen Rand durchschlagen, war über unsere beiden Kühe hinweg geflogen, gegen einen Deckenbalken geprallt und dann zu Boden gefallen. Dort hat mein Vater später den schweren Metallbrocken in der Streu hinter den Kühen aufgefunden. Diese Geschichte hat er später wieder und wieder erzählt und er konnte sich gar nicht genug darüber auslassen, welche Freude er damals empfunden hatte, als er sah, dass unseren Tieren überhaupt nichts geschehen war.

Zahlreiche Einschläge entdeckten wir auf den umliegenden Weiden und im nahen Wald. Doch die übrigen Häuser und Stallungen unseres Dorfes wie auch in den meisten umliegenden Ortschaften blieben von Treffern verschont. Lediglich ein stattlicher Birnbaum, der sich am unteren Dorfweg befand, erhielt einen Volltreffer. Er gehörte der Familie Tüschenbönner, die ihn ob seiner schmackhaften Birnen lange bejammert hat, wogegen unsere kaputte Scheune mehr so nebenbei Erwähnung fand. Es ist eben alles relativ. Hätte diese Granate nur etwas weniger Schwung gehabt - sprich: wäre ihre Flugbahn nur um etwas kürzer gewesen, wäre sie zweifellos als Volltreffer mitten in unserem Haus gelandet und wer weiß, wie es uns dann in unserem kleinen Kartoffelkeller ergangen wäre!

Der 11. April 1945 war ein herrlicher, warmer Frühlingstag. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. Ich erinnere mich noch gut an jene historischen Stunden. Meine Oma und die „Esse-Tante“ saßen vor unserem Haus und genossen die warme Morgensonne. Mein Vater und Onkel Jagusch, (er besaß vor dem tragischen Luftangriff in Essen ein großes Dachdeckergeschäft) - war also bestens für die anstehenden Dachreparaturen prädestiniert -, waren schon voll mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Ich hatte schon eine Handvoll von diesen bizarren Granatsplittern eingesammelt und stand nun vor unserer Haustür um sie zu betrachten. Als ich zufällig aufblickte, sah ich zu meinem großen Schrecken, wie aus dem Boden gewachsen, zwei amerikanische Soldaten mit ihrem Gewehr im Anschlag vor mir stehen. So schnell ich konnte, verschwand ich um die Hausecke um meinem Vater, der sich gerade auf dem Remisendach befand, von diesem Ereignis zu berichten. Als der meine hastig hervorgebrachte Botschaft vernommen hatte, meinte er trocken: „Wenn die Amis von mir was wollen, sollen sie hierher kommen. Dann können sie sich auch gleich ansehen, was sie angerichtet haben!“ Es war ihm nicht der Mühe wert, vom Dach herunter zu steigen. Auf den Gedanken, dass diese ihn gleich hätten mitnehmen können, was durchaus üblich war und auch in einigen Nachbardörfern passierte, ist wohl in all dem Durcheinander niemand von uns gekommen.

Ich laufe also wieder zurück und luge vorsichtig um die Hausecke. Dort bekomme ich gerade noch mit, wie die Tante - natürlich in bestem Hochdeutsch - den beiden Amerikanern ziemlich resolut und wortreich erklärte, dass sich in unserem Haus weder Waffen befinden noch deutsche Soldaten versteckt halten. Dieser Wortschwall aus dem Munde der älteren Dame, von dem sie wahrscheinlich kein einziges Wort verstanden haben, muss die beiden Amerikaner wohl ziemlich perplex gemacht haben, denn sie zogen bald daraufhin wortlos weiter.

Meine Mutter hatte kurz zuvor als Zeichen unserer „Kapitulation“ ein weißes Leinentuch - ein so genanntes „Käsetuch“ neben der Haustür im Rosenstrauch drapiert. In ihrer Aufregung hatte sie nämlich nichts Passendes gefunden. Später befestigte mein Vater ein weißes Bettlaken an einer langen Bohnenstange und steckte diese weiße Fahne durchs Dachfenster. Ich glaube, dort hat sie noch wochenlange gehangen. Dieses äußere Zeichen der Kapitulation nahmen die Amerikaner übrigens sehr ernst, wie wir später erfuhren. Die Familie Kraus - unsere Nachbarn -, hatten einfach vergessen, die weiße Fahne zu hissen. Sofort war eine Abteilung Amerikaner vor deren Haus in Stellung gegangen und nahmen Anstalten, das Haus zu stürmen. Als die Amis dann besagtes Tuch wehen sahen, welches in aller Eile hinaus gehalten wurde, zogen sie weiter.

Für uns war der Krieg mit seinem Schrecken endgültig vorbei. Die Amerikaner bezogen nun mit ihrer Geschütz-Batterie Stellung am Waldrand hundert Meter hinter der Ortschaft Wohlfarth in Richtung Neunkirchen. Der Ort ist bis heute geläufig unter dem Namen „Am Lutzen-Bonnen“. Hier befand sich damals ein Brunnen, der selbst in einem sehr trockenen Sommer, wenn unsere Hausbrunnen schon alle versiegt waren, noch Wasser spendete. Den Namen hat er wohl von seinem Erbauer. Aber das alles war natürlich für die Amerikaner uninteressant. Vielmehr gab die hier beginnende Schlucht eine natürliche und effektive Deckung ab. Von hier aus beschossen sie nun das Dorf und die Umgebung von Much, ebenso den weiter in nördlicher Richtung liegende Heckberg, auf welchem sich noch einige deutsche Truppen verschanzt hatten. Erst als der Beschuss nach zwei Tagen aufhörte, war für die Wohlfarther der Krieg auch zu Ende. Bis dahin hatten die nämlich noch in ihren Kellern gehockt und gezittert, weil sie sich nicht sicher waren, ob die über sie hinweg heulenden Geschosse ihnen galten. Das alles erfuhren wir aber erst viel später.

Die Amerikaner sind noch einige Zeit in ihrer Stellung geblieben und sie richteten sich dort, wie wir später feststellen konnten, ziemlich häuslich ein. Uns ließen sie dabei aber in Ruhe nur manchmal durchquerten sie mit ihren geländegängigen Jeeps unser Dorf. Unser Haus ist übrigens nie von einem amerikanischen Soldaten betreten worden, obwohl ich, sozusagen als Willkommensgruß, mit dem Griffel auf meine Schul-Schiefertafel einen schönen großen Stern gemalt hatte, wie sie die amerikanischen Fahrzeuge als Hoheitszeichen trugen. Die Tafel hatte ich gut sichtbar in unserer Küche postiert.

Nach dem Abzug der Amerikaner waren wir Kinder natürlich bei den Ersten, die neugierig aber mit äußerster Vorsicht die verlassene Stellung inspizierten. Als erstes fiel der riesige Berg von säuberlich aufgestapelten Artillerie-Geschoßhülsen ins Auge. Ein paar davon nahmen wir mit nach Hause, hauptsächlich deshalb, weil sie einen gongartigen Ton von sich gaben, wenn man ihnen einen Schlag versetzte. Karl Tillmann aus Senschenhöhe dachte da weit praktischer. Kopfschüttelnd beobachteten wir, wie dieser mit seinem Pferdefuhrwerk ankam, den ganzen Haufen leerer Kartuschen auflud und mit ihnen nach Hause fuhr. Als später der Schrotthandel aufblühte, wurden für dieses „Buntmetall“ horrende Summen gezahlt. Irgendwann habe ich meine letzte Kartusche einem vorbeiziehenden „Eisenkrämer“ verhökert, was mich bis heute noch ärgert. Ich staunte nicht schlecht, als er mir dafür ein paar Mark bot - nach der Währungsreform eine Menge Geld. Wahrscheinlich hat er mich dabei aber noch gründlich übers Ohr gehauen.

Aber es fanden sich in dieser verlassenen Stellung noch weit mehr nützliche Sachen. Da waren zum Beispiel diese stabil gezimmerten Holzkisten, in welchen die Geschosse transportiert wurden. Je 4 Artillerie-Granaten fanden in so einer Kiste Platz. Je zwei dieser Geschosse waren außerdem in langen, teergetränkten Papprohren untergebracht. Diese Kisten und die Papprohre holten wir uns zusammen mit unseren Nachbarn nach Hause. Mit den Brettern dieser Munitionskisten hat mein Vater dann den größten Teil unserer zerschossenen Scheune  und Remise repariert. Schließlich, so sagte er, sei es ja sein gutes Recht, mit dem Brettermaterial aus den amerikanischen Armeebeständen die Gebäude wieder instand zu setzen, welche diese uns zerdeppert hatten. Die teergetränkten Papprohre wurden auf handlange Stücke zerschnitten und sie ergaben ein vorzügliches und äußerst heizkräftiges Brennmaterial mit welchem meine Eltern lange Zeit unsere (vorher beschriebene) Kuhle geheizt haben.

Weiter hatten die Amerikaner den von ihnen verlegten Telefon-Leitungsdraht einfach zurück gelassen. Es war ihnen wohl zu umständlich, ihn wieder einzurollen und mitzunehmen. Dieser Draht zog sich kilometerweit durch die Straßengräben. Wir rollten ihn zusammen und transportierten ihn ebenfalls nach Hause. Fortan stellte dieser „amerikanische“ oder „schwarze Draht“, wie er seither genannt wurde, ein universelles Hilfsmittel für alle möglichen Reparaturen dar. Ob es eine defekte Stromleitung war oder ob ein Kartoffelsack zugebunden wurde, der Draht musste einfach für alles herhalten, denn es gab ja sonst nichts in der Art. Dieser Draht war viele Jahre hinaus bei uns allgegenwärtig.

Wir Kinder fanden in der verlassenen Stellung außer leeren Konservendosen mit schönen, bunten Bildern von Früchten, (die wir damals noch gar nicht kannten), amerikanischen Magazinen und allerlei Krimskrams auch schon mal ein Stück Schokolade oder eine Packung Würfelzucker. Alles in allem erkannten wir langsam, dass sich hier eine neue Welt für uns auftat, von der wir bisher nicht die leiseste Ahnung hatten.

Das Leben begann sich langsam wieder zu normalisieren aber es dauerte doch noch eine ganze Weile, bis wir wieder elektrischen Strom zur Verfügung hatten und ich endlich meinen heiß geliebten Volksempfänger einstöpseln konnte, der den Krieg auch unbeschadet überstanden hatte. Endlich konnten wir auch wieder ohne Angst vor Tieffliegern zur Schule und zur Kirche gehen. Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht und zog damit endlich den Schlussstrich unter dieses entsetzliche Menschheitskapitel.

Hier muss ich aber eine Geschichte einflechten, die ich mein Lebtag nicht vergessen habe und bei der mir noch heute jede Szene so vor Augen steht, als ob sie gestern passiert sei. Es war Anfang Dezember 1945. Seit einem halben Jahr schwiegen die Waffen. Wir erwarteten das erste friedliche Weihnachtsfest seit sechs Jahren. Das Leben hatte sich zunehmend normalisiert. Obwohl unsere ländliche Gegend nicht in so hohem Maße unter dem Bombenterror zu leiden brauchte wie die Menschen in den Städten, war auch hier der Kriegsschrecken nicht spurlos vorübergegangen. Nun hieß es, zusammenrücken, denn der Strom von Flüchtlingen und Obdachlosen aus den Ostgebieten und aus den Großstädten hielt an. Wer noch ein Zimmer oder einen Kammer in seinem Hause zur Verfügung stellen konnte, nahm eine Flüchtlingsfamilie bei sich auf. Eine für heutige Verhältnisse unvorstellbare Solidarität kam zum tragen. Das wenige, das man selber noch besaß, wurde geteilt mit denen, die alles verloren hatten.

Die Militärregierung der Siegermächte hatten die zivile Verwaltung in ihre Hand genommen und somit Gesetz und Ordnung wieder hergestellt. Trotzdem waren die Zeiten noch sehr unruhig. Immer wieder machten umherstreunende Banden von sich reden. Es entstanden die wildesten Gerüchte. Man hörte von Gräueltaten - auch aus einigen Dörfern in unserer Gemeinde. Denn der Schutz des Gesetzes war noch nicht überall gewährleistet.

Diese umherziehenden Gruppen setzten sich zum großen Teil zusammen aus ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus Osteuropa. Nach Wiedererlangung ihrer Freiheit waren viele von ihnen nicht mehr gewillt oder in der Lage, in ihre Heimat zurückzukehren. Was man ihnen nicht freiwillig gab, nahmen sie sich mit Gewalt. Dabei kam es auch verschiedentlich zu Übergriffen und Racheakten gegenüber ihren früheren Unterdrückern. Nach Einbruch der Dunkelheit war es ratsam, Fenster und Türen gut zu verschließen. Wer draußen noch irgendeine Arbeit zu verrichten hatte, trug Sorge, sich nicht all zu weit von den schützenden Häusern zu entfernen.

Es war an einem solchen Abend in der Vorweihnachtszeit. Meine Eltern waren eben mit der Stallarbeit fertig geworden und wir schickten uns an, das Abendbrot zu essen, als plötzlich an unsere Haustür geklopft wurde. Mein Vater begab sich nach draußen um nachzuschauen. Neugierig gesellte ich mich zu ihm. Da stand in der Dunkelheit ein gutes halbes Dutzend Männer. In gebrochenem Deutsch baten sie um ein Quartier für die Nacht. Zögernd ließ mein Vater sie eintreten. Nachdem sie in unserer kleinen Wohnstube Platz genommen hatten, konnten wir sie im Scheine der Lampe näher betrachten. Sehr vertrauenerweckend sahen sie nicht aus. Das Leben auf der Landstraße hatte sie gezeichnet. Während meine Mutter das Abendbrot zubereitete, versucht mein Vater etwas über das Schicksal der Männer zu erfahren. Nach der einfachen, mit wenigen Mitteln zubereiteten, aber kräftigen Mahlzeit wurde beratschlagt, wie und wo man die Männer für die Nacht unterbringen könnte.

Im Hause selber war es - nicht zuletzt durch Tante und Onkel als neue Mitbewohner ziemlich eng geworden. Also blieb nur noch die Scheune. Im Scheunenanbau befand sich der Holzschuppen und ebenfalls lagerte hier das Heu als Wintervorrat für unsere beiden Kühe. Hier im Heu richteten nun meine Eltern mit allerlei Decken und alten Mänteln ein warmes und bequemes Nachtlager her. Unsere alte Petroleumlampe sorgte für die nötige Helligkeit. Kurz vor Schlafenszeit entschloss sich mein Vater zu einem „Kontrollgang“, wie er sich ausdrückte. Es ließ ihm nämlich keine Ruhe, ob unsere Gäste sich auch an die Abmachung gehalten hatten, wegen der großen Brandgefahr auf das Rauchen zu verzichten. Meine Mutter bat mich, mitzugehen. Im Beisein eines Kindes - so meinte sie, wäre mein Vater sicherer vor eventuellen Übergriffen.

Als wir den Holzschuppen betraten, bot sich uns im Scheine der Laterne ein Bild, welches ich bis heute nicht vergessen habe. Da hatte sich ein Teil der Männer unserer Sägen bemächtigt und sie schnitten nun die schweren Stämme, welche hier als Brennholz lagerten, in Ofenlänge durch. Die anderen spalteten die klobigen Klötze mit dem Beil zu handlichen Scheiten und stapelten sie auf. Das alles bereitete ihnen ein sichtliches Vergnügen, umso mehr, als sie nun unsere ungläubigen und erstaunten Blicke sahen. Sie erklärten, das sei nur ein kleiner Dank für die freundliche Aufnahme.

Am anderen Morgen, nach einem guten Frühstück - nicht ohne ein großes Butterbrotpaket, dass jeder von ihnen zum Abschied in die Hand gedrückt bekam, sind sie dann weiter gezogen, einer ungewissen Zukunft entgegen. Viele Jahre sind seitdem ins Land gegangen, doch immer wieder muss ich an jenen Dezemberabend denken, an dem die Angst, die Voreingenommenheit und das Misstrauen besiegt wurden durch ein wenig Menschenfreundlichkeit.

Das Geld verlor immer mehr an Wert und Kaufkraft. Es entstand die so genannte „Zigarettenwährung“. Der Schwarzhandel blühte auf. Tabak war rar und die Raucher schritten zur Selbsthilfe. In so manch einem Hausgarten gediehen nun zwischen Kartoffeln und Kohl prächtige und mannshohe Tabakpflanzen. Mein Vater hatte auch einige Exemplare angepflanzt. Es waren hohe Stauden geworden und sie hatten große Ähnlichkeit mit dem heutigen Futtermais. Die großflächigen Tabakblätter wurden vom dicken Stamm abgeschnitten und auf dem Speicher getrocknet. Mein Vater benetzte sie bei diesem Trockenvorgang immer wieder mit Zuckerwasser. Nach dem Trocknen wurden die Blätter zerrieben und nun konnte man das Kraut in der Pfeife rauchen. Das stank oft ganz gemein. Bis Anfang der 50er Jahre hing übrigens noch ein Beutel mit diesem „Selbsstzucht“ - wie er genannt wurde - auf unserem Speicher.

Überall herrschte der Hunger. Am schlimmsten davon betroffen waren die Menschen in den Städten. So begaben sich viele Stadtbewohner auf „Hamstertour“ hier aufs Land. Wertvolle Gegenstände wie Teppiche, Gemälde, Schmuck usw. wechselten für eine Speckseite oder einen Sack Kartoffeln ihren Besitzer. So manche Bauernstube wurde da mit einem echten Perserteppich oder einem wertvollen Ölgemälde bestückt und wirkte dort in der rustikalen Umgebung manchmal ziemlich exotisch und zweckentfremdet. So wurde die Not vieler Städter oft genug in schamloser Weise von der Landbevölkerung ausgenutzt. Allerdings war es für manchen Bauern auch eine Genugtuung, wenn so ein armer Tropf aus der Stadt, der vor noch nicht allzu langer Zeit über das Landleben im allgemeinen, und die Landbewohner im besonderen, die Nase gerümpft hatte, nun als Bittsteller vor seiner Tür stand.

Meine Eltern haben sich an dieser Art Tauschhandel nie beteiligt. Einerseits hatten sie wohl kaum Interesse an solche, für unsere Verhältnisse total unpassenden Prunkgegenständen. Andererseits lebten wir ja auch nicht gerade im Überfluss, obwohl unser Tisch gegenüber diesen Menschen doch verhältnismäßig reich gedeckt war. Als im Herbst 1945 die Kartoffeln im Feld zu reifen begannen, bekam so mancher Kartoffelacker nächtlichen Besuch. Mit Hacken und Schaufeln, sogar mit den bloßen Fingern grub man die begehrten Knollen aus der Furche. Das ging oft so weit, dass die Bauern nächtens ihren Acker bewachen mussten um noch etwas von der Ernte zu retten.

Die Suche nach Kartoffeln auf einem bereits abgeernteten Acker wurde von den meisten Landwirten dagegen geduldet. Hier erinnere ich mich noch gut, als mein Vater das abgeerntete Kartoffelstück auf der „Hongsecht“ mit unseren beiden „Zug-Kühen“ abeggte. Die Egge förderte noch eine ganze Menge Kartoffeln zu Tage, die beim Einsammeln übersehen worden waren. Hinter der Egge marschierten ein gutes Dutzend Hamsterer aus der Stadt, die begierig nach jeder Erdknolle griffen, sobald sie einer solchen ansichtig wurden. Mit überschwänglichen Dankesworten verabschiedeten sie sich von uns. Für mich war es unbegreiflich, dass man wegen ein paar Kartoffeln „so ein Spiel machte“, wogegen wir doch genug davon im Keller hatten. Im Übrigen war ich richtig froh über diese unerwartete Mithilfe, denn jetzt brauchte ich meinen Rücken ja nicht mehr so oft für das Einsammeln krumm zu machen.

Als es dann im Jahre 1948 zur längst fälligen Währungsreform kam, wurden wir alle mit 40 Deutsche Mark „Kopfgeld“ gleichgestellt. Über Nacht waren, wie durch Zauberhand, die Läden wieder angefüllt mit Waren. Auf einmal gab es wieder Dinge, die man jahrelang vermisst hatte. Die klugen Kaufleute hatten diese wohlweislich für den Tag „X“ zurückgehalten. (Wer wollte es ihnen auch verdenken). Bald war auch in den Städten der Hunger vergessen und so manch einer  mochte sich nicht mehr gerne daran erinnern, dereinst als Bittsteller vor einem Bauernhaus gestanden zu haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5. Der Beruf

Mit dem Ende des letzten Kapitels über Schulzeit und Krieg haben meine Kindheitserinnerungen praktisch ihren Abschluss gefunden. Während des Schreibens bemerkte ich jedoch alsbald, dass meine Aufzeichnungen, gewollt oder ungewollt - in immer stärkerem Maße den Charakter von Memoiren bekamen, was eigentlich nicht in meiner ursprünglichen Absicht lag.

Diesem neuen Gesichtspunkt Rechnung tragend, habe ich mich nun entschlossen, noch ein Kapitel hinzuzufügen, einerseits um das Bild meiner Person etwas mehr abzurunden, andererseits aber und vor allem, um dem interessierten Leser auch die 50er und 60er Jahre etwas näher zu bringen. Es war ja die Zeit des Wiederaufbruchs nach dem Ende des schrecklichen Krieges. Es war die Zeit der Trümmerlandschaften, des Aufbaues und der ersten zaghaften Gehversuche unserer jungen Demokratie.

Das Leben, besonders hier bei uns auf dem Lande, verlief in jenen Tagen und nach heutigen Vorstellungen recht einfach und primitiv. An allen Ecken und Enden wurde improvisiert. Überall herrschte Mangel. In den Städten war große Hungersnot. Trotzdem waren die Menschen froh, noch einmal davongekommen zu sein. Man half sich gegenseitig so gut es ging. Irgendwie war man glücklicher und zufriedener als heute. Aber bevor ich wieder einmal vom Thema abschweife, will ich lieber von vorne anfangen.

Unsere kleine Landwirtschaft kam für mich als Existenzgrundlage kaum in Frage. Erstens bezogen meine Eltern aus ihr ja selber weitgehend ihren Lebensunterhalt und zweitens hielt sich meine Begeisterung für den Bauernstand in Grenzen. Mit unseren beiden Kühen als Zugtiere die Felder zu bestellen, erweckte in mir horrorähnliche Visionen. Mit einem Pferd vor dem Ackergeschirr wäre die Sache für mich vielleicht doch noch etwas schmackhafter geworden, aber ein Pferd war aus Rentabilitätsgründen nicht tragbar. An einen Traktor schließlich war überhaupt nicht zu denken. Mit ca. 2 Hektar Wiesen- und Ackerfläche ließen sich nun mal keine großen Sprünge machen.

Also musste ich einen Beruf erlernen. Da ich zeichnerisch etwas begabt war und damals auch schon einige ganz passable Bilder zustande gebracht hatte, war die Richtung meiner Berufswahl eigentlich schon vorgegeben: Maler und Anstreicher - wie dieser Berufszweig sich nannte, wobei ich den „Anstreicher“ erst einmal bewusst ausklammerte, denn mit einem Farbtopf auf der Leiter zu stehen und eine Hauswand zu bepinseln, war für mich nun auch wieder nicht „das Gelbe vom Ei“. Mein Vater betitelte das Ganze auch etwas abfällig mit „Pinselquäler“.

Er tat sich daher auch nach anderen Möglichkeiten um und brachte eines Tages die Neuigkeit mit nach Hause, ich könnte sofort nach meiner Schulentlassung in der Werkstatt von Schreinermeister Peter Knipp in Much als Lehrling anfangen. Und er habe schon alles perfekt gemacht. Darüber war ich nun einerseits sehr erleichtert, denn Lehrstellen waren damals schon Mangelware und fielen einem nicht gerade in den Schoß. Andererseits hatte ich mit dem Schreinerberuf bis dato aber auch recht wenig am Hute. In meinem späteren Leben habe ich allerdings feststellen können, dass ich recht gut mit dem Werkstoff Holz umzugehen weiß. Manches Möbelstück ist inzwischen aus meinen Händen entstanden und es macht mir bis heute immer wieder große Freude, mit Hobel, Säge und Stechbeitel hantieren zu können. So hätte ich mit dem Schreinerberuf bestimmt eine gute Wahl getroffen - doch es sollte alles ganz anders kommen!

Wie ich bereits erwähnte, war nach dem Tode meiner Mutter im Herbst 1948 die Frau Bohlen mit ihrem, damals 4jährigen Sohn Erwin bei uns eingezogen. Sie führte uns fortan den Haushalt. Eines Tages hatte sie in Much ein paar Besorgungen zu machen. Als sie von dort zurückkam, erzählte sie uns, sie habe hier ganz zufällig (?) ihren früheren Chef vom Postamt Köln-Mühlheim getroffen. Sie hatte dort nämlich in den letzten Kriegsjahren als Briefzustellerin gearbeitet.

Im Verlaufe des Gespräches hatte sie auch beiläufig erwähnt, dass ich mich nach einer Lehrstelle umsah. Herr Buse, der inzwischen beim Postamt Siegburg eine neue Dienststelle angetreten hatte und nun auch in Much wohnte, machte ihr den Vorschlag, ich sollte es doch einmal bei der Post versuchen und mich dort als Lehrling - oder wie es sich damals nannte, als „Postjungbote“ bewerben.

Was sich für mich damals unter dem Begriff „Post“ darstellte, war ziemlich abstrakt und ich verband diese Institution in der Hauptsache mit unseren beiden Briefträgern, dem Oberhäusers Peter und dem Derscheids Hein (der inzwischen mein Nachbar geworden ist). Die beiden zogen im wöchentlichen Wechsel mit ihrem Fahrrad über die Dörfer und brachten Briefe und Pakete ins Haus. Gleichwohl kam es dann und wann einmal vor, dass man sich nach Felderhoferbrücke zur dortigen Poststelle bemühen musste, um ein Paket abzuholen, weil der Briefträger es wegen Platzmangel auf seinem Fahrrad nicht hatte transportieren können. Diesen Weg zur Post habe ich in den ersten Nachkriegsjahren des Öfteren machen müssen und das kam so:

Wie ich im ersten Kapitel bereits erwähnt habe, war ein Bruder meines Großvaters (väterlicherseits) mit Namen Johann Peter Müller in die USA ausgewandert. Im waldreichen Staat Oregon fand er in der Stadt Milwaukie (in der Nähe von Portland) Arbeit in einem großen Sägewerk. Dort lernte er seine Frau Anna, eine Luxemburgerin kenne, heiratete sie und gründete mit ihr eine Familie. Der Besitzer des Unternehmens verstarb kinderlos und er vererbte seinen gesamten Besitz meinem Großonkel, den er wohl im Laufe der Jahre sehr ins Herz geschlossen hatte. Johann Peter Müller muss ein großartiger Mensch gewesen sein der viel für die Armen und Bedürftigen in seiner Umgebung tat. Die Kunde seiner Mildtätigkeit wird dann wohl bis nach Rom gedrungen sein, denn er wurde vom damaligen Papst mit dem Gregorius-Orden I. Klasse ausgezeichnet. (Das ist ein hoher kirchlicher Verdienstorden. Er wurde 1831 gestiftet). Ein Photo von John Peter Miller, (wie er sich in Amerika später nannte), zeigt ihn in seiner prächtigen Ordens-Uniform. Das Bild befindet sich heute in meinem Besitz. Sein Gesicht strahlt auf diesem Foto soviel Güte und Herzenswärme aus, dass man daran unschwer seine Geisteshaltung erkennen kann. Als er starb, übernahmen seine Frau und seine Söhne den Betrieb.

Eines Tages, es war um die Vorweihnachtszeit des Jahres 1945, brachte uns der Briefträger die Nachricht, auf der Post läge ein großes und schweres Paket aus Amerika, welches er unmöglich hätte mitschleppen können. Wir sollten es deshalb dort abholen. Mit dieser Aufgabe betraut, radelte ich mit meinem Fahrrad zur Post nach Felderhoferbrücke, wuchtete dort das schwere Gepäckstück auf meinen „Drahtesel“ und trat sehr gespannt und aufgeregt den Heimweg an. Allerlei Überlegungen gingen mir damals durch den Kopf: Ein Paket aus Amerika – aus einem anderen Kontinent! Was für einen langen Weg hatte es hinter sich gebracht bis hierher zu uns nach Klein-Oberholz. Diese Tatsache allein war schon für mich absolut phänomenal.

Zu Hause angekommen, verfrachtete ich da wertvolle Teil vorsichtig auf unseren Küchentisch. Erstaunt lasen wir die Absenderangaben: Mrs. J. P. Miller, Miller Drive, Milwaukie, Oregon, USA, stand da zu lesen. (Ich habe diese Adresse noch heute im Kopf). Bis dato hatte ich so gut wie keine Ahnung von unseren Verwandten in Amerika. Vielleicht hatte mein Vater irgendwann einmal eine Andeutung in dieser Richtung gemacht, aber die hatte ich vermutlich nicht beachtet.

Vorsichtig wurde das Packpapier entfernt. Trotz des weiten Weges befand sich alles in tadellosem Zustand. Dann wurde der Inhalt sichtbar. Welche Köstlichkeiten! Schade, dass wir nicht der englischen Sprache mächtig waren und ein englisches Wörterbuch befand sich selbstredend natürlich auch nicht in unserem Hause. Aber die bunten Bilder auf den Konservendosen und auf den anderen Behältnissen redeten eine beredte Sprache über deren köstlichen Inhalt. Da gab es Dosen mit kalifornischen Pfirsichen, mit Ananas, Apfelsinen und anderen, für mich unbekannten Früchten. Kakao, Erdnussbutter und so weiter! Natürlich auch Zigaretten und Tabak. Lange wurde über die kleinen Täfelchen mit der Aufschrift „Chewing gum“ gerätselt. Plötzlich schwante mir, dass es sich hier wohl nur um den berühmten amerikanischen Kaugummi handeln konnte, von dem ich schon so viel gehört, aber noch nie etwas gesehen hatte. Der Clou des Ganzen aber war - neben anderen Textilien, eine rötlich-gelbbraune großkarierte echte amerikanische Holzfällerjacke, die mir sogar auf Anhieb passte. Ich habe sie etliche Winter getragen. Sie trotzte der größten Kälte und ich war mir vieler neidvoller Blicke sicher.

Später erfuhren wir, dass auch alle anderen Mitglieder der großen „Müller-Familie“ solche Amerika-Pakete erhalten hatten. Und es ging weiter! Regelmäßig machte ich mich mit meinem Fahrrad auf den Weg zur Post. Und jedesmal konnten wir es nicht fassen, dass eine für uns völlig fremde und unbekannte Frau im fernen Amerika so liebevoll an uns dachte. Nach jedem Paket - und darauf legte mein Vater den größten Wert, schrieb ich an Tante Anna, wie wir sie nun alle nannten, in meiner schönsten Schrift einen Dankesbrief. Bald antwortete sie uns - natürlich in deutscher Sprache. Aus ihren Briefen, von denen ich leider nur einen einzigen besitze (und den ich als eine große Kostbarkeit aufbewahre), ließ sich unschwer erkennen, dass sie eine gute, warmherzige und auch fromme Frau war. Sie war wohl ihrem Mann in diesen Charaktereigenschaften sehr ähnlich und ich finde es sehr bezeichnend, wenn sich mein Großonkel diese Frau damals als seine Lebensgefährtin ausgesucht hat.

Es muss doch für sie sehr mühevoll gewesen sein, unsere Anschriften im zerstörten und besetzten Deutschland herauszufinden. Ganz abgesehen vom Inhalt der Pakete. Man spürte hier die persönliche Hand, die alle Dinge liebevoll, und nach unseren speziellen Bedürfnissen ausgesucht und verpackt hatte. Später erhielten wir dann, im Auftrag unserer Tante, die bekannten „Care-Pakete“. Sie wurden durch Spenden amerikanischer Bürger finanziert, an viele bedürftige Menschen in unserem Lande verschickt und enthielten Grundnahrungsmittel und andere dringend erforderliche Ding, die vielen deutschen Landleuten damals geholfen haben, in dieser schlimme Nachkriegszeit zu überleben.

Eines Tages hörten wir aus dem Verwandtenkreis, dass unsere Tante verstorben war. Danach brach der Kontakt mit Amerika ab. Nur meine Tante Maria aus Wellerscheid (die Schwester meines Vaters) tauschte später noch jahrelang mit ihrer Cousine in den USA Briefe aus. Mit großer Dankbarkeit denke ich bis heute immer wieder an diese herzensgute Frau - unsere Tante Anna aus Amerika, die uns in schwerer Zeit mit ihren Paketen eine so große Freude bereitet hat.

Doch zurück zu meiner eigentlichen Geschichte. Wie gesagt, meine Kenntnisse über die Post als solche hielten sich bis dato in sehr engen Grenzen. Trotzdem verfasste ich auf Drängen meines Vaters und der Frau Bohlen ein Bewerbungsschreiben. Gleichwohl war ich dann aber doch ziemlich überrascht, als man mich bald darauf zu einer Eignungsprüfung nach Troisdorf bestellte.

Die Prüfungsfragen waren an sich einfach und auf das Wissen eines damaligen Volksschulabgängers zugeschnitten. Sie stellten für mich auch keine besonderen Schwierigkeiten dar - aber die leidigen Rechenaufgaben! Die Tatsache, dass ich mit den mathematischen Künsten seit Jahr und Tag „auf Kriegsfuß“ stand, schlug hier einmal wieder voll durch. Trotzdem versuchte ich mich - so gut es ging - durchzuwursteln, was aber wohl nicht hingelangt hatte, denn nach einigen Wochen erhielt ich ein Schreiben von der Post, in welchem man mich zu einer Nachprüfung im Fach „Rechnen“ zum Postamt Hennef / Sieg bestellte.

Diese Nachprüfung hatte man just am Tag meiner Schulentlassung anberaumt. Einer von mir gestellten Bitte um Terminverschiebung mit Angabe des Grundes wäre man mit Sicherheit nachgekommen, aber mein „obrigkeitsbewußtes Denken“ hielt mich davon ab. (Wenn von „oben her“ eine Anordnung erging, dann hatte man dieser ohne wenn und aber Folge zu leisten!)

So meldete ich mich also am vereinbarten Tage pünktlich beim zuständigen Postamt in Hennef und wurde in die obere Büro-Etage ins Zimmer von Post-Inspektor Klein geführt. Dem oblag damals die Betreuung der Lehrlinge, (sprich: Postjungboten). Es gab übrigens beim Postamt Hennef damals nur einen Postjungboten mit Namen Werner Böckem, der mir aber schon ein Lehrjahr voraus war. Nun gut, Herr Klein legte mir das Formular mit den Rechenaufgaben von und ich ging ans Werk. Ab und zu schaute er nach mir und als er bemerkte, dass ich so meine Schwierigkeiten hatte, versuchten wir es gemeinsam. Doch seine Rechenkünste schienen auch nicht weit her zu sein. Es war ja auch schon einige Zeit her, dass er die Schulbank gedrückt hatte. Er telefonierte nach unten, ob schon Briefträger von ihrer Tour zurück seien, und es möge dann doch mal jemand von den jüngeren zu ihm heraufkommen. Bald erschienen auch zwei von ihnen und nun, mit vereinten Kräften wurden die Rechenaufgaben gelöst - wobei ich mich - soweit meine Erinnerung nicht trügt, wohlweißlich zurückhielt und die anderen rechen ließ. Ich glaube, das Ganze war mehr oder weniger Formsache, mit dem Zweck, die zuständigen Herren bei der Oberpostdirektion (OPD) in Köln zufrieden zu stellen. Es ist mir sowieso bis heute schleierhaft geblieben, warum man gerade mich, bei meinen katastrophalen Rechenkünsten in die engere Wahl genommen hat. Schließlich wurden von den 55 Bewerbern bei der Eignungsprüfung in Troisdorf nur 15 Leute angenommen, zu denen auch ich gehörte.

Nun folgten aber erst einmal Wochen des Wartens. Schreinermeister Knipp, bei dem ich, wie erwähnt, eine Lehrstelle in Aussicht hatte, konnte man schließlich auch nicht länger hinhalten, da er sich ja um einen anderen Lehrling bemühen musste, wenn es bei mir nichts wurde. Also schrieb mein Vater einen Brief zum Hennefer Postamt mit der Bitte um eine baldige Zu- oder Absage. Doch die ließ weiter auf sich warten. Endlich kam der erwartete Bescheid. Man teilte mir mit, dass ich am 1. April 1951 meinen Dienst als Postjungbote der Deutschen Bundespost beim Postamt Hennef / Sieg antreten sollte.

Hennef war damals unser zuständiges Postamt und wir wurden von dort aus über die Poststelle Felderhoferbrücke (jetzt Bröleck) postalisch versorgt. Die Entfernung nach Hennef beträgt ca. 20 km wogegen es von hier aus zum damaligen Postamt in Much nur 5 km sind. Aber Behörden denken zuerst einmal bürokratisch und - vielleicht irgendwann auch einmal logisch. So war es nun mein Pech, dass mein Wohnort im Grenzbereich der beiden Ämter lag.

Der 1. April war ein Sonntag, also begann für mich „der Ernst des Lebens“ - wie man es mir schon monatelang vorher prophezeit hatte - (ich konnte es schon nicht mehr hören) - am Montag, den 2. April 1951. Eine direkte Verkehrsverbindung von hier nach Hennef gab es nicht. So musste ich zuerst per Fahrrad zur ca. 4 km entfernten Bahnstation in Felderhoferbrücke fahren. Dort angekommen, stieg ich in den „Feurigen Elias“ - einer kleinen Schmalspurbahn, die mehrmals am Tage zwischen Hennef und Waldbröl verkehrte. Witzbolde schrieben schon mal bezeichnenderweise an die Waggontür: „Blumenpflücken während der Fahrt verboten!“ Die Strecke wurde im Jahre 1861 in Betrieb genommen, zuerst nur zwischen Hennef und Ruppichteroth. Von Mitte 1862 bis April 1863 durch Pferdekraft. Seit dem 25. April 1863 mit dampfgetriebener Lokomotive. Doch das nur nebenbei. Die „Rhein-Sieg-Eisenbahn“, wie sie sich damals offiziell nannte, oder das „Brölbähnchen“, wie es im Volksmund hieß, wandte sich in entlang des Brölbaches in zahllosen Kurven durch das - stellenweise recht enge - Bröltal. Wenn das Bähnchen dann, nahe am Bachufer entlang, sich fauchend und qualmend in die Kurven legte, konnte es einem schon einmal etwas mulmig werden, aber es kam meines Wissens nie zu einem größeren Unglück auf der Strecke. Später wurden mehr und mehr Omnibusse eingesetzt und in den späten 50er Jahren kam der Schienenbetrieb ganz zum Erliegen. Und wieder war ein Stück liebevoller Romantik dahin.

Die Fahrt nach Hennef wurde mir auf die Dauer zu langweilig und ich vertrieb mir die Fahrzeit mit lesen. Den nötigen Lesestoff besorgte ich mir in unserer Pfarrbücherei - der sogenannten „Borromäus-Bücherei“ (benannt nach dem Hl. Karl Borromäus) - in der ich auch Sonntags nach der Messe beim Ausleihen half, und das kam so: Eines Tages sprach mich Heinrich Franken an - er betreute die Bücherei schon einige Jahre - und er fragte mich, ob ich ihm nicht Sonntagmorgens etwas zur Hand gehen könnte. Er hatte übrigens auch maßgeblich Anteil an meiner späteren Mitgliedschaft in der Blaskapelle und im Tambourcorps. Ihm habe ich in dieser Hinsicht sehr viel zu verdanken, doch davon später. Da ich schon lange „Kunde“ und eifriger Leser war, sagte ich sofort zu. Das war eigentlich der Anfang meiner vielfältigen ehrenamtlichen Tätigkeiten. Es sollten im Laufe der Jahre noch andere folgen. Ich habe es bis zum heutigen Tage nicht bereut, zum „Null-Tarif“ für andere und für die Gemeinschaft tätig zu sein. Ich betone es immer wieder: Ohne unsere „Ehrenamtlichen“ in Gesellschaft und Kirche wären wir sehr arm dran!

Die Arbeit in der Bücherei hatte für mich natürlich auch seine Vorteile. Bestimmte Bücher, so genannte „Renner“ waren für mich naturgemäß eher zur Hand, während andere noch auf der „Warteliste“ standen. Ferner oblag es Herrn Franken und mir, aus einem jährlich erscheinenden Buchkatalog im Rahmen eines bestimmten Etats neue Bücher für die Bücherei auszusuchen um den Bestand aufzufrischen und zu vergrößern. Natürlich war es mein Bestreben, das Lesematerial für meinen speziellen Geschmack, z. B. Jugend- und Aberteuerbücher angeschafft wurden, wogegen mein Partner die gängigen Heimatromane usw.  für die ältere Generation bevorzugte. Das war immer eine schwierige Sache, aus dem vorgegebenen, ziemlich eng bemessenen finanziellen Rahmen das bestmögliche herauszuholen. Der Buchbestand war damals sowieso schon hoffnungslos veraltert. Viele der vorhandenen Bücher stammten noch aus der Jahrhundertwende.

Für mich stellten aber alle diese Bücher wahre Schätze dar. Ein Buch zu kaufen, war für mich fast unerschwinglich, denn Bücher waren damals schon sehr teuer. Billige Taschenbücher, wie sie heute in einer riesiger Zahl und zu jedem Thema passend in den Kaufhäusern und Buchläden angeboten werden, waren damals völlig unbekannt. Als Mitglied im „Borromäus-Verein“ erhielt man jährlich ebenfalls einen Katalog, aus welchem man sich - je nach Preislage - zwei bis drei Bücher zu verbilligten Preisen aussuchen durfte, um so mit der Zeit eine eigene kleine Bibliothek zu begründen. Da habe ich dann oft Tage und Wochen im Katalog geblättert, denn bei den vielen, herrlichen Titeln war die Qual der Wahl natürlich groß.

Meistens kamen am Sonntagmorgen so 10 bis 12 Leute zum Ausleihen. Die Verwaltung verlief sehr umständlich. Alles wurde in Karteikarten notiert. Es gab je eine Karte für das Buch und eine für den Leser. Auf beiden wurden die entsprechenden Daten vermerkt. Wenn alles erledigt war und die eingegangenen Bücher wieder an Ort und Stelle einsortiert waren, begab ich mich - natürlich zu Fuß - mit einem dicken Stapel Bücher unter dem Arm, auf den Heimweg.

Meinen Vater versorgte ich übrigens auch mit Lesestoff. Er hatte - was mein totales Missfallen und Unverständnis hervorrief - eine merkwürdige Art, Bücher zu lesen. Das ging bei ihm im „Schnellverfahren“ wie ich es einmal nennen will. Er las die ersten Dutzend Seiten, dann sporadisch hier und da und die letzen Seiten ebenfalls. Auf diese Art und Weise hatte er die Handlung in groben Zügen begriffen, wie er mir erklärte. Wenn ihm ein Buch besonders gefiel, las er es aber auch schon mal richtig durch. Am liebsten las ich - und daran hat sich bis heute nichts geändert - abends vor dem Einschlafen im Bett. Da war ich ungestört. War die Story sehr spannend, z. B. bei einem Karl May-Buch, dann wurde es auch schon mal spät, was mir aber erst beim Klingeln des Weckers schmerzlich bewusst wurde. Doch nun wieder zurück zu meiner Geschichte.

Vom Bahnhof in Hennef waren es nur noch ein kurzer Fussmarsch bis zum Postamt an der Frankfurter Straße. Mit weichen Knien stand ich also an diesem Aprilmorgen vor meiner neuen Arbeitsstelle und überlegte gerade, durch welche Tür ich nun eintreten sollte. Just in dem Augenblick fuhren zwei Briefzusteller mit ihrem Fahrrad am hinteren Hoftor hinaus und ich hörte zufällig, wie der eine (es war Werner Böckem) zu seinem Kollegen sagte: „Mer han Tränen jelaach“ (Wir haben Tränen gelacht). Er erzählte wohl von einem Ereignis des vergangenen Sonntags. Als ich das hörte, dachte ich mit einer gewissen Erleichterung, so ernst kann die Sache also nicht sein, wenn die sich bei der Arbeit über lustige Dinge unterhalten.

Bis dato waren Menschen, die hinter den geheimnisvollen Mauern eines Postamtes ihren Dienst verrichteten, so eine Art „höhere Wesen“. Das Innere eines Postamtes war für Nichtbeschäftigte unerreichbar. Zeit meiner Tätigkeit bei der Post wurde immer und überall sehr streng darauf geachtet, dass sich keine Personen in Diensträumen aufhielten, die dort nichts zu suchen hatten. Das hatte seine guten Gründe denn es ging dabei um die strikte Wahrung des Brief- und Postgeheimnis. Dazu kam noch die so genannte „Amtsverschwiegenheit“, bei der sich jeder Bedienstete verpflichten musste, auch Stillschweigen über innerbetriebliche Angelegenheiten zu wahren.

So hat es mich im Laufe der Jahre schon mal „gejuckt“, wenn z. B. bei einem Thekengespräch die Rede auf eine bestimmte Person kam, über die ich durch meine Tätigkeit als Briefträger besser informiert war als meine Gesprächspartner. Aber nie ist ein Sterbenswort über meine Lippen gekommen. So werde - und muss ich auch hier bei meinem Bericht immer wieder Rücksicht auf diese Umstände nehmen.

Ich betrat also die „heiligen Hallen“ nun von der Rückseite - vom Posthof her über die Treppe der großen Laderampe und gelangte in die geräumige, saalartige Packkammer. Das ist die Umschlagstelle für Pakete und Päckchen. Sofort wurde ich von den Anwesenden mit ziemlichem Hallo begrüßt und mit den Worten: „Unsere neue Kraft“ vom einen zum anderen weitergereicht. Schließlich führte man mich zu den Büroräumen der oberen Etage ins vornehme Arbeitszimmer von Oberpostmeister See - dem Amtsvorsteher. Er begrüßte mich freundlich und gab mich dann in die Obhut von Heinrich Goedtner. Er arbeitete im so genannten „Amtszimmer“ und stellte so in etwa den Betriebsleiter für die unteren Diensträumen dar, welche die schon erwähnte Packkammer, den Briefein- und abgang, die Landpoststelle und den Schalterraum beinhaltete.

Ich hatte großes Glück, denn Herr Goedtner war eine Seele von Mensch und ich habe ihn bis heute in sehr guter Erinnerung. In der kurzen Zeit, die ich bei ihm im Amtszimmer verbrachte, hat er mir einige sehr gute und weise Ratschläge mit auf den Weg gegeben, die ich nie vergessen und oft beherzigt habe. Hier im Amtszimmer hatte ich irgendwelchen Papierkram zu erledigen, zeitaufwendige Dinge, die nicht viel Sachkenntnis erforderten, aber getan werden mussten - gerade richtig für einen Neuling wie ich. Ich erinnere mich, dass ich einmal zwei geschlagene Tage in alten, gelagerten Paketkarte nach einer bestimmten Karte suchen musste. Es ging wohl um die Nachforschung und dem Verbleib eines nicht angekommenen Paketes. Der Absendeort des Paketes ist mir bis heute noch geläufig: Gaggenau Kreis Murgtal 1. Die Karte wurde übrigens nicht gefunden.

Nach gut 4 Wochen war die geruhsame Zeit im Amtszimmer für mich vorbei und ich wechselte in die Packkammer. Diese Packkammer stellte in seinen Ausmaßen den größte Betriebsraum dar und er erstreckte sich über die gesamte südliche Gebäudeseite von der Vorderfront bis hin zum Posthof an der Rückseite. Hier befand sich das große Tor welches zur Rampe und auf den Hof führte. Oben links war zur zentralen Schalterhalle ein breites Fenster eingelassen. Dort lieferten die Postkunden ihre Pakete und Päckchen auf und die Selbsstabholer - das waren meistens die großen Firmen und Geschäfte - von denen es in Hennef eine ganze Menge gab, nahmen hier ihre lagernden Pakete in Empfang. Die meiste Zeit verbrachte ich an diesem Paketschalter und bediente die Leute. Natürlich unter der Anleitung und Aufsicht von Johann Engels und Richard Hübner - den beiden „Beherrschern“ der Packkammer. Die beiden wechselten ihren Dienst von Mittag zu Mittag.

Der Engels Hännes - wie er genannt wurde, wohnte im nördlichen „Vorort“, in Hennef / Warth. Er war ein sehr korrekter Mensch, dienstlich wie privat. Von ihm habe ich auch ein paar goldene Lebensregeln mitbekommen. Ich glaube, man ist in diesem Alter sehr lernfähig, für alles Neue aufgeschlossen und prägt sich viele Dinge und Erfahrungen so fest ein, dass sie nie mehr ganz aus dem Kopf verschwinden.

Sein Kollege Richard war Heimatvertriebener- ich glaube, er stammte aus Schlesien. Er ließ mir beim arbeiten mehr freie Hand als der Herr Engels. Das hatte seine Vor- und Nachteile. Manchmal hörte ich von dem einen oder anderen Kollegen - nicht im Beisein von Herrn Hübner natürlich - eine spitze Bemerkung, die erkennen ließ, dass ihrer Meinung nach  „die von Drüben“ doch eben „anders“ waren. Die Integration der Ostflüchtling und Heimatvertriebenen war ein langwieriger Prozess und ist so ganz eigentlich bis heute noch nicht abgeschlossen. Ich persönlich bin aber mit den Beiden immer gut zurecht gekommen.

Kurz nach Mittag, bzw. am frühen Nachmittag waren unsere beiden Paketzusteller mit ihrem „Opel-Blitz“ von ihrer Zustell-Tour zurück. Einer von ihnen war über Land gefahren und hatte den Poststellen in den weit verstreuten Dörfern im Bereich des Postamtes Hennef die für sie bestimmten Postsendungen gebracht. Dem anderen oblag die Zustellung der Pakete und Päckchen im Hennefer Ort. Für mich zählten die Kraftfahrer zu den Privilegierten unter meinen neuen Kollegen. Autos gab es sechs Jahre nach Kriegsende noch recht wenig auf den Straßen, und wer ein solches Gefährt benutzten durfte, gehörte schon zur gehobenen Klasse oder arbeitet jedenfalls für sie. Auch bekamen die Paketzusteller - wie im Übrigen die Briefzusteller auch - hier und da schon mal ein Trinkgeld zugesteckt, was beim damaligen, kargen Gehalt nicht zu verachten war. Bei ihrer Ankunft stand ich schon bereit um für sie in der nahen Metzgerei frische Brötchen und ein gutes Stück Wurst zu holen welches sie dann bei ihrer Abrechnung zu verzehren pflegten. Natürlich fiel dabei auch immer etwas für mich ab.

Zum Posthof hin, also an der westlichen Seite, schloss sich der zweite größere Dienstraum an die Packkammer an. Er beherbergte den Briefein- und abgang und die Landpoststelle, welche für die schon erwähnten, zahlreichen Poststellen und Posthilfsstellen zuständig war. Aus diesem Raum führte je eine Tür zum Schalter und zum Schaltervorraum, welcher wiederum von der Frontseite des Postamtes durch eine Tür für den Publikumsverkehr zugänglich war. Die Nordseite wurde durch zwei separate Räume abgeschlossen. Im linken Raum waren die Briefzusteller untergebracht, rechts davon befand sich das Amtszimmer. Bei den Briefträgern - (bei der Post nennt man sie Zusteller) - habe ich wohl dreiviertel meiner gesamten Lehrzeit verbracht, was mir beim Abschlusslehrgang schmerzhafte Tage und Wochen bescherte - doch davon später.

Natürlich war ich arbeitsmäßig nicht immer vollauf  in der Packkammer ausgelastet und so verbrachte ich auch manche Stunden im Briefabgang. Besonders dann, wenn der Zeitpunkt näher rückte, die bearbeiteten Briefsendungen in Beuteln zu versacken und zum Bahnhof zu verfrachten, wurde jede Hand gebraucht. Das geschah dreimal am Tage - morgens, mittags und abends. Der Transport zum Bahnhof wurde mit einer postgelb gestrichenen Karre bewerkstelligt. Diese Karre war ein Unikum. Sie hatte Form und Machart einer Bauernkarre, wie sie in landwirtschaftlichen Betrieben als Pferdefuhrwerk bekannt ist - aber natürlich in Miniatur-Ausführung. Ein kleines Pony hätte jedoch gut zwischen deren Holmen Platz gefunden. Die hohen Räder mit Holzspeichen waren, wie „ihre großen Brüder“ mit Eisenreifen bezogen und es rumpelte ganz schön, wenn wir über das Kopfsteinpflaster fuhren. Für mich war der Gang zum Bahnhof immer eine willkommene Abwechslung. Als Lehrling kam mir - sozusagen als „Ersatzpony“- die Stelle zwischen den Holmen zu, während links und recht meine beiden Kollegen schoben - bzw. sich mitziehen ließen - je nach ihrer Mentalität. War das Gewicht der Ladung nicht richtig verteilt, schwebte ich entweder in der Luft oder ich wurde zu Boden gedrückt. Die Eisenbahnzüge, denen wir mit unserer Fracht zustrebten - natürlich alle mit einer Dampflok gezogen - führten so genannte Bahnpostwagen mit sich. Man konnte sie auch als „rollende Postämter“ bezeichnen. Hier wurden auf kleinstem Raum alle gängigen Arbeiten verrichtet, die auch bei einem „richtigen“ Postamt anfielen. Auf den einzelnen Bahnhöfen fand dann der Austausch von Briefbeuteln und Paketen statt.

Die gesamte Briefsortierung und Verteilung basierte damals auf dem System der Eisenbahnlinien. Es gab ja noch keine Postleitzahlen im heutigen Sinne. Zum Beispiel liegt Hennef an der Strecke Köln - Gießen. Diese Bahnkurse, praktisch die der gesamten Bundesrepublik, haben wir in den drei Lehrjahren nach und nach auswendig lernen müssen. Und zwar so intensiv, dass ich einige von ihnen noch heute im Schlaf aufsagen kann. So war man eigentlich in jeder freien Minute gezwungen, sich die Woche für Woche in der Berufsschule aufgegebenen Bahnstrecken-Kurse einzuprägen. Das Briefverteil- und Transport-System war nach heutigen Maßstäben äußerst umständlich und postalisch gesehen, tiefstes Mittelalter. Erst durch die Einführung der neuen Postleitzahlen ließ sich eine grundlegende Reform auf diesem Gebiete bewerkstelligen. Jetzt, nach der „Dreiteilung“ und Privatisierung bei der Post liegen allerdings „Welten“ zwischen damals und heute.

Ich wurde auch des Öfteren zum Leeren der örtlichen Briefkasten losgeschickt. Das geschah drei- bis viermal am Tage zu genau festgelegten Zeiten. Ich fuhr mit einem gelben Post-Fahrrad zu den weit verstreuten Briefkästen und leerte deren Inhalt in eine speziell dafür vorgesehene Tasche, die ich auf einem Gepäckträger mitführte. Im Sommer war das eine schöne Sache, aber in der kalten Winterzeit war es doch oft recht unangenehm. Eine dieser „Wintertouren“ werde ich wohl mein Lebtag nicht vergessen.

Es war in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1951. Am frühen Morgen - es war noch stockdunkel - begab ich mich auf den Weg zur Briefkastenleerung. Das Thermometer zeigte einige Grad unter Null und ich hatte zu meinem Unglück meine Handschuhe vergessen. Dieser Umstand kam mir aber erst voll zum Bewusstsein, als ich schon einige Zeit unterwegs war und meine Hände langsam blau vor Kälte anliefen. Umkehren kam nicht in Frage, denn ich stand unter Zeitdruck. Die Post musste pünktlich auf dem Sortiertisch liegen, damit sie noch rechtzeitig den Bahnanschluss am Morgen bekam. Also Zähne zusammenbeißen und weiter. Zum Teil bin ich da auch mal freihändig gefahren um meine beiden Hände in den Hosentaschen zu wärmen, aber das half auch nicht besonders. Laut heulend vor Schmerzen habe ich es dann doch irgendwie noch geschafft. Zurück in den warmen Diensträumen wurde es mir erst einmal kotzübel. Die „auftauenden“ Finger schmerzten kolossal. Zu alledem bekam ich vom Briefabgangsbeamten Peter Böhm noch zusätzlich einen kräftigen Rüffel ob meiner Dusseligkeit. Aber er hatte natürlich Recht und war anschließend auch rechtschaffen bemüht, mich wieder auf die Beine zu bringen.

Ja, so waren meine Kollegen damals in Hennef. In der Mehrzahl oft viel älter als ich, wurde ich von allen doch als Gleicher unter Gleichen behandelt. Natürlich fiel hier und da eine nicht ernst gemeinte Bemerkung über meine ländliche Herkunft die sich bei mir sicherlich in Sprache, Kleidung und Benehmen ausdrückte und wohl auch zu erkennen war. Hennef war damals noch nicht zur offiziellen Stadt erhoben worden, aber die Frankfurter Straße welche den gesamten Ort in nord-südlicher Richtung durchquert, hatte mit ihren vielen Geschäften, Cafes und Restaurants schon ein gewisses städtisches Flair. Die Randgebiete waren allerdings durchsetzt von Fabriken und Gewerbeflächen, die dem Ort eher einen Industrie-Charakter gaben. Gleichwohl verstanden sich die Hennefer Bürger natürlich als Städter im eigentlichen Sinne.

Besonders der alte Müller’s Wellem, er wohnte in Geistingen - dem südlichen „Vorort“ von Hennef, seine Schwester betrieb dort eine kleine, aber gutgehende Gastwirtschaft, hatte ein etwas gestörtes Verhältnis zum Landleben an sich und zu den Bauern im besonderen, wie sich aus seinen spitzen Bemerkungen über selbiges unschwer erkennen ließ. Er hatte da wohl auch seine bitteren Erfahrungen in der Hamsterzeit gemacht. Als er dann aber herausbekam, dass mein Vater nur zwei Kühe besaß, die er mangels eines Pferdes auch vor den Pflug spannte, gehörte ich als „Kuhbauer“, im Gegensatz zu den „Pferdebauern“, wie er das auszudrücken pflegte, zu der etwas sympathischeren Spezies der Landbevölkerung. Wilhelm Müller stand damals im Pensionsalter. Er war der Senior des Betriebes und er war früher lange Jahre zur Bahnpost gefahren. Er kannte also das Metier aus dem efef und man konnte ihm im Briefabgang nichts vormachen. Er liebte aber auch einen guten Tropfen und es kam dann auch schon mal vor, das er und seine Kollegen zusammenlegten und ich wurde losgeschickt, um eine Flasche Korn, (sie nannten das: ein Arnöldchen) zu besorgen. Noch heute erinnere ich mich gut daran, wenn der Wellem an der entkorkten Flasche mit dem Korken an ihr entlang rieb, wobei dann ein quietschendes Geräusch entstand. Wellem verkündete dann, während ihm der Schalk und die Vorfreude auf ein Schnäpschen aus den Augen leuchtet: „On et Arnöldchen fleut“ (flötet) - in Anlehnung an ein kölsches Karnevalslied. So eine Flasche musste lange halten, denn der Schnaps war teuer und das Geld war knapp. Das war ein harmloses Vergnügen und niemand ist davon betrunken geworden. Trotzdem musste man auf der Hut sein, wenn sich jemand aus der oberen Etage in den unteren Räumen blicken ließ. Nach all den Jahren denke ich noch heute mit viel Respekt, Dankbarkeit und auch ein bisschen Wehmut an jeden einzelnen meiner Hennefer Kollegen von damals zurück.

Sechs Jahre nach dem verlorenen Krieg waren die Zeiten für den überwiegenden Teil der Bevölkerung noch recht kümmerlich. Man war in den Kriegsjahren „zusammengerückt“ und empfand solidarisch. Man half sich gegenseitig und versuchte, mit wenigen primitiven Mitteln und mit viel Organisationstalent über die Runden zu kommen. Nur ein Beispiel: Wie oft habe ich aus alten Telefonbüchern Toilettenpapier hergestellt, um es anschließend im Toilettenhäuschen auf dem Posthof seinem vorbestimmten Zwecke zuzuführen. Über die Effizienz einer solchen bedruckten Papierseite möchte ich mich aber hier nicht weiter auslassen.

Meine monatliche Entlohnung betrug im ersten Lehrjahr 40,00 DM, im zweiten 50,00 und im dritten Lehrjahr 60,00 DM. Dementsprechend gering war selbstverständlich auch das monatliche Einkommen meiner älteren Kollegen. Natürlich waren, zum heutigen Vergleich, die normalen Lebenshaltungskosten damals sehr niedrig. Aber gegenüber den Löhnen in der freien Wirtschaft konnte man die Entlohnung im öffentlichen Dienst doch eher als „Hungerlohn“ bezeichnen. Dafür bot der Dienst bei der Post aber auch unübersehbare Vorteile. So hatte man z.B. hier eine sichere Arbeitsstelle. Ich bin daher nie mit der Angst konfrontiert worden, irgendwann einmal arbeitslos auf der Straße zu liegen. Und das war damals wie heute ein großes Plus gegenüber den anderen Arbeitnehmern und es wog schon eine ganze Menge finanzieller Nachteile auf.

Wie es in Fabrikbetrieben zuging, erfuhr ich zwischendurch immer wieder von meinen ehemaligen Schulkameraden Horst Kunkel und Karl Beuke. Die beiden hatten ebenfalls eine Lehrstelle in Hennef gefunden. Sie waren in verschiedenen metallverarbeitenden Betrieben untergekommen, wovon es dort ja eine ganze Menge gab. An manchen Tagen ergab es sich, dass wir zur selben Zeit Feierabend hatten und gemeinsam mit den Fahrrädern aus dem Bröltal Richtung Heimat zogen.

Unsere Fahrräder stellten wir in Felderhoferbrücke (Bröleck) in einem Schuppen unter. Er gehörte zum damaligen Textilkaufhaus Schrahe und er lag etwas unterhalb auf der Rückseite des Hauses. Von dort aus waren es nur noch ein paar Schritte bis zum Brölbahnhof. Natürlich hatten wir vorher den Geschäftsinhaber um Erlaubnis gefragt und wir kauften auch ab und zu mal eine Krawatte, ein Oberhemd oder ein Paar Socken in seinem Geschäft, sozusagen als „Dankeschön“ und um ihn „bei Laune“ zu halten. Trotzdem waren uns seine, übrigens sehr nette Verkäuferinnen aus irgendwelchen Gründen nicht ganz wohl gesonnen. Denn manchmal konnte es vorkommen, dass plötzlich aus den oberen Fenstern eine Schüssel mit Wasser ausgeschüttet wurde und auf uns herabplatschte, während wir unten vorbeigingen um unsere Fahrräder abzuholen. Das alles wurde dann auch noch von schadenfrohem Gekicher begleitet. Von da an war es für uns obligatorisch, zuerst einen Blick gen Himmel zu richten - um zu sehen, ob alle Fenster geschlossen waren.

Der Winter 1952/53 hatte es - wie die meisten Winter damals – wieder mal so richtig „in sich“. Beim Postamt Hennef war ich inzwischen längst bei den Briefträgern gelandet (ich komme noch darauf zurück), und ich musste morgens den ersten Zug oder Bus nehmen, um wenigstens einigermaßen pünktlich meine Arbeit beginnen zu können. Das hieß für mich: Aufstehen so gegen ein halb fünf Uhr. Nach dem Frühstück - welches mir, wie gesagt jeden Morgen mein Vater zubereitete - einschließlich der Butterbrote, die er mir für den Tag schmierte und einpackte - schwang ich mich aufs Fahrrad und strampelte in Richtung Felderhoferbrücke.

Wenn in der Nacht Neuschnee gefallen war, musste ich mir selber den Weg bahnen, denn zu diesem frühen Zeitpunkt war ja kaum jemand schon unterwegs. Oft passierte es, dass auf dem berüchtigten „Dähl“, einer hochgelegenen, freien Fläche hinter der Ortschaft Birrenbachshöhe der Weg durch mächtige Schneeverwehungen unpassierbar geworden war. Da hieß es: das Fahrrad auf die Schulter nehmen und längs der Straße über die angrenzenden, hart gefrorenen, brachliegenden  Felder zu stampfen. Dabei immer die Angst im Nacken, nur ja nicht den Bus zu verpassen. Trotz meiner langen Gummistiefel schob sich der Pulverschnee von oben hinein, aber das bemerkte ich erst dann, wenn ich im warmen Bus saß, und es um meine Füße so merkwürdig kühl wurde. Es passierte auch schon mal, dass mein Fahrrad eine „Platten“ bekam. Mit Todesverachtung bin ich dann weitergefahren - natürlich auf dem platten Reifen - um nur ja nicht den Bus zu verpassen. Schlauch und Reifen konnte ich natürlich anschließend wegschmeißen und als „besondere Freude“ durfte ich nach Feierabend mein Fahrrad auch noch zu Fuß nach Hause schieben.

Nachdem ich so die ersten Monate als Postjungbote verbracht hatte, erhielt ich meine erste Uniform - die Langersehnte. Und ich war richtig stolz darauf. Sie bestand aus einer schwarzen Hose und einer dunkelblauen Jacke. Leider hatte die Jacke noch keine Kragenspiegel, die bekam man erst - mit den entsprechenden Sternen natürlich - nach der Lehrzeit. Dafür zierte der linke Ärmel ein rundes Emblem mit eingesticktem goldgelbem Posthorn. Dazu kamen noch ein graues Hemd mit gestärktem Kragen und Manschetten, sowie eine dunkelblaue Krawatte. Den Kopf bedeckte eine so genannte „Baschlik- oder Skimütze mit gelbem Rand und einem messingfarbenen Posthorn an der Vorderseite. Die Uniform hob mich beim Tragen nun zwangsläufig von meinen Mitmenschen ab. Das hatte so seine Vor- und Nachteile. Dazu kam noch, dass uns von unseren Vorgesetzten fast täglich eingeschärft wurde, als Uniformträger und zukünftige Postbeamte einen tadellosen Lebenswandel zu führen, uns jeder Schlägerei und auch jedem „Besäufnis“ fernzuhalten usw.

Damals war man in der Öffentlichkeit sehr sensibilisiert, was das korrekte Auftreten Uniformierter betraf. Dazu ein kleines Beispiel: Es war um die Mittagszeit. Die Berufschule war gerade zu Ende gegangen und ich schlenderte mit einigen Klassenkameraden über den Siegburger Markt. Natürlich steckten wir alle in unseren Uniformen. So kam es, das einer aus unserer Gruppe aus purem Übermut eine Marktfrau darauf ansprach, ob sie noch viele von diesen schönen Apfelsinen hätte, worauf diese ganz beflissen entgegnete, sie habe noch jede Menge davon. Darauf sagte mein Kollege treuherzig zu ihr, dann solle sie sehen, dass sie die auch alle verkauft bekäme. Das war natürlich nicht „die feine englische Art“, aber heute würde eine solche Antwort wohl nur ein starkes Donnerwetter der Marktfrau nach sich ziehen, die ja bekanntlich auch nicht gerade auf den Mund gefallen sind. Für meinen Kollegen gab es damals aber ein böses Nachspiel, nachdem sich die Frau beim Postamt beschwert hatte. Erst nachdem er sich in aller Form bei ihr entschuldigt hatte und seine Zerknirschung auch in einem längeren Aufsatz schriftlich niedergelegt hatte, wurde von einer fristlosen Entlassung Abstand genommen. Mein historischer Ausspruch aus jener Zeit - in Tambourcorpskreisen heute noch geläufig und oft zitiert - „Wenn es zu einer Klopperei kommt, könnt ihr mit mir aber nicht rechnen“ - hatte mit Feigheit überhaupt nichts zu tun sondern wurzelte in oben genannter Tatsache. Bei welcher Gelegenheit dieser Ausspruch gefallen ist, werde ich später noch erzählen.

Nachdem ich am späten Nachmittag meinen Dienst beendet hatte und wieder zu Hause angekommen war, wartete dort noch eine Menge Arbeit auf mich. Anfang der 50er Jahre wurde in der hiesigen Gegend ein so genanntes „Flurbereinigungsverfahren“ eingeleitet und durchgeführt. Das war ein äußerst schwieriges Unterfangen und es hat bestimmt bei den federführenden Köpfen dieses Unternehmens zum frühzeitigen Ergrauen ihres Haupthaares geführt. Ein altes Sprichwort sagt ja bereits: „Drei Bauern unter einen Hut zu bekommen, ist eine besondere Kunst.“ Hier ging es aber um viele Landwirte und noch mehr Sonderwünsche. Bedingt durch An- und Verkauf, Tausch und Vererbung von Äcker und Waldbeständen - und das Jahrhunderte lang - lagen die Ländereien der einzelnen Bauern oft weit verstreut. Der Anmarschweg zu ihnen war umständlich und zeitraubend. Diese vielen Parzellen sollten nun in einem Verfahren zu möglichst einer großen Fläche zusammengeführt werden. Eine sehr komplexe und schwierige Angelegenheit. Da gab es Wunschtermine und Versammlungen. Jeder Landwirt wollte natürlich seinen Besitz möglichst nahe in Haus- und Stallnähe zur Verfügung stehen haben. Unsere 2,5 Hektar (10 Morgen) Wald- Wiesen- und Ackerfläche lagen sehr verstreut in den beiden Gemarkungen Löbach und Bennrath. Wir hatten übrigens Glück und bekamen die meisten Parzellen im Löbacher Bereich direkt angrenzend hinter unser Haus gelegt.

Zusammen mit vielen Männern aus der Umgebung erhielt auch mein Vater Arbeit bei der „Zusammenlegung“ wie man diese Behörde damals nannte. Er spezialisierte sich hier nach und nach auf das Setzen der neuen Grenzsteine. Das erforderte genaues und akkurates arbeiten und ich habe später von seinen ehemaligen Kollegen erfahren, dass er die schweren sechskantigen Basaltblöcke immer millimetergenau an der markierten Stelle in die Erde versenkte. Diese Beschäftigungsmöglichkeit war für alle ein willkommenes Zubrot, denn Bargeld war damals überall knapp. So blieb zwangsläufig ein guter Teil Arbeit an mir hängen, denn mein Vater kam erst gegen Abend nach Hause, wogegen ich, z. B. wenn ich Berufsschule hatte, schon am frühen Nachmittag zu Hause war. Selbstverständlich hatte ich noch jede Menge Hausaufgaben in der Tasche und auch das wöchentliche Pensum an Bahnkursen musste in meinen Kopf. Aber irgendwie brachte ich alles in die Reihe. Die einzige Zerstreuung für mich bedeutete in jener Zeit meine Mitgliedschaft im damals neu gegründeten Schützen-Tambourcorps Kreuzkapelle. Doch davon werde ich später in einer längeren Ausführung erzählen. Ich möchte nun fortfahren, über meine Hennerfer Lehrzeit zu berichten.

Im Frühjahr 1952 wurde ich den dortigen Briefträgern zugeteilt. Hier ging es erst einmal darum, in Theorie und Praxis das zu erlernen, was man im Briefzustelldienst alles zu beachten hat. Das hört sich zwar einfach an und ist für einen Laien auch wohl kaum nachvollziehbar, mit wie vielen Bestimmungen und Vorschriften der Weg eines Briefträgers damals  gepflastert war.

Des Weiteren ging es aber auch darum, die einzelnen Zustellbezirke kennen zu lernen - wenn es denn später zum selbständigen Einsatz für mich kommen sollte - und der kam früher, als ich gedacht hatte. Hennef bestand ursprünglich aus drei eigenständigen Orten, die aber im Laufe der Jahre durch Bebauung zu einer geschlossenen Einheit zusammengewachsen sind. Nördlich liegt der Ortsteil Warth, in der Mitte das eigentliche Hennef und südlich befindet sich Geistingen. Alle drei Ortsteile verfügen über eine eigene Kirchengemeinde samt dazugehörigem Gotteshaus. In Geistingen befindet sich außerdem noch das Redemptoristenkloster. Diese drei Ortsteile waren damals in 6 Zustellbezirke aufgeteilt, das heißt: der gesamte Ort wurde von sechs Briefzustellern mit Post versorgt. Wegen der weiträumigen Flächenverteilung benutzten die meisten Briefträger ein Fahrrad.

Das Zustellerzimmer befand sich , wie erwähnt, in einem separater Raum. Jeder Zusteller besaß einen Tisch, der an seiner Rückseite ein Regal mit vielen Fächern trug - das so genannte Sortierspind. Hier wurden die Briefsendungen in der Reihenfolge des Zustellganges einsortiert. Anfangs gab es damals in Hennef wie auch in allen übrigen Städten noch zwei Zustellungen am Tage - morgens und am frühen Nachmittag. Die zweite Zustellung bedeutete für mich immer Stress (obwohl man dieses Wort damals noch nicht kannte). Wenn ich Glück hatte und das Postaufkommen nicht allzu groß war, bekam ich einen guten Anschluss nach Hause. Manchmal aber erwischte ich gerade noch einen Blick auf den abfahrenden Bus und das war ärgerlich. Denn nun konnte ich über eine Stunde auf die nächste Fahrgelegenheit warten. Diese Zeit vertrieb ich mir dann mit lesen im Warteraum des Bahnhofes oder im Sommer auf einer nahen Parkbank. Ich bin dann auch schon mal zum Postamt zurück marschiert um meinen Kollegen noch etwas bei der Arbeit zu helfen.

Das Zusammenleben und -arbeiten in einer Briefträgergruppe hat so seine bestimmten Eigentümlichkeiten und unterliegt - für Außenstehende kaum erkennbar - oft merkwürdigen Regeln und Besonderheiten. Meines Erachtens kommt es in erster Linie daher, dass die einzelnen Zusteller - wenn es hoch kommt - praktisch nur eine Stunde am Tage gemeinsam in einem Raum zusammensitzen. Und das ist üblicherweise des Morgens der Fall beim Einsortieren der Tagespost. Am Nachmittag kehren die Zusteller meistens zu verschiedenen Zeitpunkten von ihrer Tour zurück und man sieht sich dann also kaum noch.

Diese Stunde am Morgen hat es zwangsläufig also in sich. Alle Probleme untereinander, sämtliche Neuigkeiten des Tages, alle persönlichen Dinge und Differenzen sind nun auf diese kurze Zeitspanne komprimiert. Da liegt, je nach Problemstellung jede Menge Zündstoff bereit. Die Stimmung - mal fröhlich, locker - mal gereizt - trägt das ihre dazu bei. Gutgemeinte und weniger gut gemeinte Sticheleien sind an der Tagesordnung. Oft wird auf diese Art und Weise einem Kollegen, der aus der Reihe tanzte, auf diese Art und Weise mitgeteilt, wo’s lang geht. Sticheleien oder „hetzen“ - wie wir es nannten - will allerdings gelernt sein. Man muss gekonnt austeilen, aber auch lachenden Auges einstecken können. Ist man nach einer solchen verbalen Attacke „angebrannt“- will sagen, beleidigt, hat man schon verloren. Als Lehrling blieb ich jedoch von alledem weitgehend verschont.

Jedem Zusteller wurde ich also ein paar Wochen zugeteilt. So lernte ich nicht nur den Zustell-Bezirk sondern nebenher zugleich auch den Charakter meines jeweiligen Lehrmeisters kennen. Da gab es welche, die ließen mich nur so nebenher traben. Ab und zu drückten sie mir auch mal einen Brief in die Hand zum Aushändigen an den Empfänger. Andere dagegen ließen mich weitgehend selbständig arbeiten und machten es sich dabei bequem. Trotzdem oder gerade deshalb habe ich bei denen am meisten gelernt.

Ich vergesse nie den Tag, als ich mit Paul Wuddel (bei ihm stand der Mund nie still) auf der Frankfurter Straße unterwegs war. Paul flirtete mit den Verkäuferinnen, die vor ihren Geschäften mit dem Putzeimer zugange waren, was das Zeug hielt. Bei solchen Gelegenheiten streifte auch schon mal der Fuß vom Paul einen mit Wasser gefüllten Eimer, was diesen zwangsläufig aus dem Gleichgewicht brachte. Die Folge waren heftiges Gezeter und drohende Gebärden mit dem Schrubber und wir sahen zu, dass wir schnellstens weiterkamen. Ganz niedergeschlagen, sagte ich an diesem Tage zum Paul: „Wenn ich doch nur einmal so reden könnte wie du“. Ich war damals nämlich ziemlich „mundfaul“ und als „Junge vom Lande“ mit der hochdeutschen Sprache auch nicht gerade bestens vertraut. Paul erwiderte mir darauf todernst, das würde sich bestimmt einmal ändern. Ich glaubte ihm damals kein Wort - trotzdem hat er Recht behalten.

Er hat mir übrigens auch einmal aus einer ziemlichen Bredouille geholfen und das kam so: Es war in meiner Amtszimmer-Zeit. Des Nachmittags hatte ich Berufsschule in Siegburg. Über der Tür im Amtszimmer hing eine große Uhr. Sie wurde täglich mit einem Schlüssel aufgezogen. Die Morgenstunden verstrichen mit Arbeit und es nahte der Zeitpunkt, an dem ich mich zum Bahnhof begeben musste, um den Zug nach Siegburg zu erreichen. Aber Herr Goedtner machte keine Anstalten, mich gehen zu lassen. Er bemerkte auch nicht meinen besorgten Blick, den ich immer wieder auf die Uhr warf. Plötzlich fragte er: „Hast du nicht heute Berufsschule?“ - Aber da war es schon zu spät. Natürlich machte er mir Vorwürfe, warum ich ihn denn nicht daran erinnert hätte. Ich murmelte etwas von „vergessen“. In Wirklichkeit wollte ich aber nicht dreist erscheinen, denn ich dachte bei mir: ein Vorgesetzter weiß schon, was er tut. Das wusste Herr Goedtner dann auch. Schnell begab er sich in den Briefträgerraum und fragte, ob jemand sein Motorrad dabei habe. Paul Wuddel hatte, und er fuhr mich im Eiltempo zur Berufsschule nach Siegburg.

Postinspektor Josef Schmitz - er war Leiter der Personalsstelle beim Postamt Siegburg und hielt damals zusätzlich Unterricht für die Postjungboten - hatte schon mit der Stunde begonnen. Ich entschuldigte mich für mein Zuspätkommen und stotterte etwas über „die Uhr im Dienstzimmer ging falsch“. Als ich meinem Platz zustrebte, sah ich noch, wie er ungläubig mit dem Kopf schüttelnd, vor sich hin murmelte: „Keine genaue Uhrzeit auf einem Postamt?“ Herr Schmitz war ebenfalls „eine Seele von Mensch“ wie ich mich bekanntermaßen auszudrücken pflege, wenn ich jemand beschreiben will, der bei allen dienstlichen Gegebenheiten seine Menschlichkeit nicht zu kurz kommen ließ. Ich werde in meinem Bericht noch auf ihn zurückkommen.

Inzwischen hatte ich Hennef ganz gut kennen gelernt, die meisten Namen der Bewohner in meinem Gedächtnis gespeichert und wusste sie dem jeweiligen Bezirk samt Straße und Wohnung zuzuordnen. Meinen vorgeschriebenen „Praktischen Einsatz“ hätte ich somit ohne weiteres nun schon absolvieren können. Dieses besagt, dass die Postjungboten zwei bis dreimal im Monat selbständig in der Zustellung zu arbeiten hatten - also ohne Begleitperson. Pro Einsatztag erhielt man dafür zusätzlich ein kleines Entgelt von 1,25 DM (wenn ich mich hier recht erinnere). Das war damals schon eine ganze Menge Geld für einen Jungboten und wir Lehrlinge waren richtig scharf auf einen solchen selbstständigen Einsatz.

Eines Tages war Ohm Johann (wie wir ihn alle nannten) krank geworden. Er war unser ältester Zusteller und nahe der Pension. Es war kein Ersatzmann für ihn da, also musste ich einspringen. Ohm Johanns Bezirk begann direkt an der Rückseite des Postamtes mit der Dickstraße. Unter den Briefträgern hatte dieser Bezirk den Beinamen „Koppengsfeedel“ (Kopfschmerz-Viertel). Man bekam also Kopfschmerzen in diesem Bezirk. Das lag daran, dass hier Leute wohnten, die es mit allem - und mit der Post im Besonderen - sehr genau nahmen. Es war sozusagen das „Prominenten-Viertel“  mit den Neureichen von Hennef, die nach dem Kriege schnell zu Geld gekommen waren und sich nun besonders wichtig vorkamen. Bei der kleinsten Unregelmäßigkeit ließen sie gleich eine Beschwerde los.

In den vielen Jahren meines Briefträgerdaseins habe ich viele wichtige und hochgestellte  Persönlichkeiten kennen gelernt. Die weitaus größte Zahl von ihnen legte weder „Starallüren“ an den Tag, noch trugen sie die Nase hoch. Ganz im Gegenteil. Es waren „Menschen“ und bei ihnen zählte nur der Mensch - ob er nun Briefträger oder Amtsrat war. Aber das liegt wohl auch am jeweiligen Charakter - und Geld kann ihn ja bekanntlich verderben.

Es lässt  sich also gut nachvollziehen, mit welch gemischten Gefühlen ich an diesem Morgen losmarschierte. Aber so weit ich mich erinnere, ging alles glatt über die Bühne. Meine rechte Schulter war vom ungewohnten Tragen der schweren ledernen Brieftasche  ziemlich mitgenommen und sie tat gemein weh. Diese Schmerzen sollte noch Wochen anhalten, bis sich meine Schulter langsam daran gewöhnt hatte. Ich versuchte auch schon mal, den Trageriemen über die linke Schulter zu legen, aber dann ist das arbeiten für einen Rechtshänder wie mich unmöglich. Ohm Johann war einige Wochen krank und so blieb ich in seinem Bezirk. In den Genuss der mir zustehenden Sonderzulage kam ich allerdings nur wenige Tage, denn mein wochenlanger praktischer Einsatz war dienstrechtlich natürlich nicht abgesegnet und er durfte deshalb auch nicht auf dem Papier erscheinen. Nachdem Ohm Johann seinen Dienst wieder angetreten hatte, ging es mit dem praktischen Einsatz bei mir aber nahtlos weiter. Ich habe von diesem Zeitpunkt an und für den Rest meiner Lehrzeit eigentlich nur noch als Briefzusteller gearbeitet.

Jedem Postjungboten wurde bei seinem Eintritt ein Tagebuch ausgehändigt. Es war ein kleines Heft im heutigen Taschenbuchformat. Hier mussten  wir täglich, bzw. wöchentlich unsere jeweiligen Tätigkeiten eintragen. Monatlich einmal wurde dieses Tagebuch dem Amtsvorsteher zur Kontrolle vorgelegt. Damit sollte gewährleistet werden, dass die Lehrpläne auch eingehalten wurden, dass wir auch - wie vorgesehen - alle Dienststellen eines Postamtes durchliefen und somit die anfallenden Arbeiten in Theorie und Praxis mitbekamen. Bei den größeren Ämtern wie Siegburg und Troisdorf wurde auch strikt danach gehandelt - aber nicht so in Hennef. Was ich dort während meiner Lehrzeit zusehen bekommen habe, war die Packkammer und der Briefträgerraum. Die anderen Stellen sind nicht erwähnenswert, weil ich dort nur als Hilfskraft fungierte, wenn man mich hier dringend brauchte. Das Postschalter habe ich praktisch nie von innen zu Gesicht bekommen. So trug ich nun also gewissenhaft meine jeweiligen Tätigkeiten ins Tagebuch ein. Das sah dann in etwa so aus: Ein Monat (von - bis) Amtszimmer, sechs Monate Packkammer, zwischendurch Aushilfe im Briefabgang, der Rest praktischer Einsatz im Zustelldienst. Meine Eintragungen wurden monatlich vom Oberpostmeister See ohne Beanstandungen abgezeichnet. Diese Praxis setzte sich übrigens später in Much in bewährter Manier fort. Den Rest meiner Lehrzeit verbrachte ich auch hier bei den Briefträgern.

Das war mir übrigens gar nicht so unrecht, denn Ambitionen „zu Höherem“ habe ich nie verspürt. Ich hätte mich auch nie im Leben an einem Schalter oder im Innendienst wohl gefühlt. Dazu kam noch, dass ich als sehr heimatverbundener Mensch nur sehr ungern meinen Arbeitsplatz in die Stadt verlegt hätte, was aber bei einer Innendienst- oder Bürotätigkeit für mich unumgänglich gewesen wäre.

Der Hammer kam dann ein paar Wochen vor meiner Abschlussprüfung. Die Tagebücher wurden eingesammelt und sollten der OPD (Oberpostdirektion) in Köln vorgelegt werden. Natürlich wurde mein Exemplar sofort beanstandet und es kam mit einer dicken „Meldung“ (so wurden interne Rüffel höherer Stellen bezeichnet), zurück. Nun müssen sich wohl in Hennef einige Herren tagelang gequält haben, um mein Tagebuch „umzuschreiben“ – (zu frisieren, wie man heute sagen würde), was mir heute noch einige Schadenfreude bereitet. Danach war allerdings mein Tagebuch nicht mehr wieder zu erkennen. Staunend konnte ich nun lesen, was ich im Laufe der Jahre so alles zu sehen bekommen und gelernt hatte - natürlich entsprach kaum etwas davon der Wahrheit und der Wirklichkeit. Ein zaghafter Protest meinerseits wurde dann auch mit ein paar hochtrabenden Worten abgeschmettert. Zusätzlich bedachte man mich mit der Bemerkung, darauf hätte ich ja schließlich auch selber achten können. Meinem neuen Chef in Much (er war von Haus aus gelernter Schmied), war sowieso postalisch das meiste „Wurscht“, doch darüber später. Beim Abschlusslehrgang in Bilstein im Sauerland habe ich dann versucht, in drei Wochen das nachzuholen, was die anderen in drei Jahren von der Pike auf gelernt hatten - doch auch davon später mehr.

Zusätzlich zum regulären Berufsschulunterricht hatten wir Postjungboten wöchentlich beim Postamt Siegburg ergänzend einige Unterrichtsstunden, in denen wir postdienstbezogen unterwiesen wurden. Sie wurden, wie bereits erwähnt, von Inspektor Schmitz durchgeführt. Eines Tages machte er uns den Vorschlag, in den großen Ferien eine längere Fahrradtour zu unternehmen. Natürlich waren wir alle hellauf begeistert. Nun wurde emsig geplant, gerechnet und organisiert. Drei Wochen waren für die Tour veranschlagt. Es sollte bis zur Ost- und Nordsee gehen und für mich sollten diese Wochen zu den schönsten und erlebnisreichsten meines bisherigen Lebens werden.

Ich besaß damals noch das Rennrad meines Vaters - eine echte Rarität zur damaligen Zeit. Es verfügte auch über einen Rennlenker und erhielt so eine Art  profihaftes Aussehen. Der schmale und harte Rennsattel war allerdings für eine längere Fahrt eher unbequem und so tauschte ich ihn gegen einen normalen Tourensattel um. Ansonsten war dieses Rennrad durch seine ganze Bauart natürlich leichter als seine anderen Artgenossen. Es besaß allerdings - wie heute üblich - keine Gangschaltung.

Meine Reiseutensilien hatte ich auf dem rückwärtigen Gepäckträger in einem so genannten „Affen“ untergebracht. Bei diesem „Affen“ handelte es sich um einen, zur damaligen Zeit unter Wanderleuten sehr beliebten Rucksack. Er hatte das Aussehen eines übergroßen Schultornisters. Die große Verschlussklappe war mit rotem - übrigens echtem - Kuhfell überzogen. Das muss wohl zu seiner Namensgebung beigetragen haben. Er war sehr praktisch eingerichtet, außen und innen. Außen besaß er jede Menge Schlaufen und Haken. Die zusammengerollte Schlafdecke ließ sich ebenso gut daran befestigen wie Kochgeschirr und Feldflasche. Extra für diese Tour hatte ich mir meinen ersten Photoapparat zusammengespart. Ich glaube, er kostete so um die 30,- DM und er stammte aus dem Hause Photo-Porst. Er wurde bestückt mit einem 6 x 6 Format Film und er machte gute Bilder. Infolge meines fahrbaren Untersatzes erhielt ich bald den Spitznamen „Fausto Coppi“. Das war der Name eines berühmten italienischen Radrennfahrers, dem ich natürlich in gar keiner Weisen das Wasser reichen konnte. Dieser Spitzname ist übrigens in Kollegenkreisen jahrelang an mir hängen geblieben.

Am Montag, den 11. August 1952 machten wir uns mit 30 Leuten auf den Weg. Der anfängliche Regen ließ bald nach. An der Spitze radelte unser Berufsschullehrer Josef Schmitz mit seinem Bruder, den er als Verstärkung mitgenommen hatte. Inspektor Schmitz hatte die Reise minutiös vorbereitet und planmäßig organisiert. Morgens wurde jedem die Tagesverpflegung, bestehend aus einem halben Graubrot, Wurst und Butter, zugeteilt. Bei der Rast - meistens an einem schönen Platz in freier Landschaft - wurde kräftig gefuttert, und es schmeckte köstlich. Am Etappenziel erwartete uns dann eine Jugendherberge. Diese bot preiswerte Übernachtung samt Abendbrot und Frühstück am anderen Morgen.

Unsere gemeinsame Reisekasse war mager und mein persönliches Barvermögen betrug genau 30,- DM von denen ich aber noch 5,- DM in die Gemeinschaftskasse einbezahlen musste. Diese 25 Mark sind in den 3 Wochen hauptsächlich für Apfelsaft und Limonade draufgegangen. Diverse Getränke musste man in der Jugendherberge nämlich extra bezahlen. Und durstig war man nach einer langen Fahrt abends allemal. So ein Fläschchen war schnell geleert und der Durst war immer noch da. Man half sich dann mit Leitungswasser, was ziemlich abgestanden und scheußlich schmeckte, besonders für mich, der ich an unser frisches, kristallklares Brunnenwasser gewöhnt war.

Nach einer bergreichen Tagesstrecke erreichten wir gegen 17,00 Uhr die Jugendherberge in Iserlohn, unserem ersten Etappenziel. Trotz guter Kondition - wir waren ja praktisch alle auf dem Fahrrad groß geworden - spürten wir jetzt doch ganz schön unsere Knochen. Nach dem Frühstück am anderen Morgen ging es weiter nach Brilon im Sauerland. Dort war die Jugendherberge überfüllt. Mit knapper Not kamen wir unter. Jedoch musste ein Teil von uns in einem Zelt übernachten, eine andere Gruppe, wozu auch ich gehörte, bekam ein Nachtlager im Tagesraum und der Rest kampierte in einem Hühnerstall, der sich aber noch im Rohbau befand und noch nicht seinen Zweckbestimmungen übergeben worden war.

Unser nächstes Ziel war dann Hannover. Die Strecke Holzminden - Hameln legten wir per Schiff zurück. Leider war die Fahrt auf der Weser aber durch regnerische Witterung leicht getrübt. Von Hameln aus ging es dann zügig und ausgeruht weiter unserem Ziel Hannover entgegen. Die Jugendherberge dort war noch ziemlich neu und sehr komfortabel eingerichtet. Für diese Stadt nahmen wir uns einen Tag Zeit. Wir besichtigten die Stadt mit dem ganz aus Glas und Marmor bestehenden neuen Postamt. Es zählte damals zu den größten und modernsten Postämtern Deutschlands.

Am Freitag erreichten wir mit einiger Verspätung die Jugendherberge Hösseringen im Kreise Uelzen. Hilfsbereite Menschen hatten uns zu einer Abkürzung geraten, durch die wir eine ganze Menge Kilometer einsparen sollten. Aber irgendwann müssen wir wohl „vom rechten Weg abgekommen sein“ und das war ja auch kein Wunder, denn die Heidelandschaft war unübersichtlich und sah mit den verstreuten Wacholderbüschen und dem allgegenwärtigen Heidekraut ziemlich gleichförmig aus. „Es dunkelte schon in der Heide“ und kein Haus und kein Mensch befand sich in Sichtweite. Wir schoben unsere Fahrräder schon eine ganze Zeit, denn das Fahren war in diesem unwegsamen Gelände unmöglich geworden. Die Dunkelheit war inzwischen hereingebrochen, als wir endlich jemand begegneten, der uns den richtigen Weg wies. Die Küche in der Jugendherberge war bei unserer verspäteten Ankunft allerdings schon kalt und wir mussten uns nach diesem anstrengenden Tag mit ein paar übrig gebliebenen Hefeteilchen begnügen.

Am frühen Nachmittag des nächsten Tages erreichten wir die alte Hansestadt Lübeck. Das kam daher, weil wir uns ab Lüneburg eine Fahrt mit der Bahn gegönnt hatten. Von den vorgesehenen 140 km brauchten wir nur noch 50 km zu strampeln. Nach dem Besuch des Gottesdienstes am Sonntagmorgen sahen wir uns die Stadt einschließlich des berühmten Holstentores etwas näher an, welches ich natürlich von allen Seiten fotografierte. Am Nachmittag fuhren wir dann gemächlich zum Seebad Travemünde, welches damals fremdenverkehrsmäßig allerdings noch im Aufbau begriffen war. Hier war für uns ein Aufenthalt von einer knappen Woche vorgesehen. Zum ersten Mal in meinem Leben erblickte ich hier nun das Meer - auch wenn es „nur“ die Ostsee war - für mich ein überwältigender Anblick! Ich konnte mich gar nicht satt sehen. Wie oft habe ich an diesen Tagen am Strand gestanden, die anrollenden Wellen beobachtet und den Schiffen zugeschaut, die sich von der Kimm her näherten.

In Travemünde befand sich eine so genannte „Zelt-Jugendherberge“. Sie bestand aus einer Reihe von großen Rundzelten, die sich um das Zentralzelt mit Küche und Verwaltung gruppierten. Wir wurden in Gruppen von 6 Leuten in diesen Zelten untergebracht. Unser Domizil tauften wir - in Anlehnung an das Haus von Karl May in Radebeul „Villa Bärenfett“ und schrieben es in dicken Lettern mit Zahnpasta an die dunkle Zeltwand. Diese neue Namensgebung war notwendig geworden, weil sich unsere Vorgänger sinnigerweise den Namen „Club der Ungeküssten“ gegeben hatten. Das wollten wir natürlich nicht auf uns sitzen lassen und so kratzten wir den alten Namen Buchstaben für Buchstaben ab um dem zukünftigen Hohngelächter unsrer Zeltnachbarn zu entgehen.

Mit denen gab es natürlich immer wieder Rivalitäten. Um gegen nächtliche Überfälle gewappnet zu sein, wurden alle zum nächtlichen Wachdienst eingeteilt. Das hatte selbstverständlich für Jungen unseres Alters auch etwas mit Indianer- und Westernromantik zu tun und brachte etwas Spannung in die ganze Angelegenheit. Eines Nachts wurde ich durch ein wüstes Durcheinander und beträchtlichen Lärm geweckt. Unser Wachposten war sehr wahrscheinlich eingenickt und so hatte sich „ein feindlicher Trupp“ ungehindert Zugang in unser Zelt verschafft. Einige „blaue Augen“ und eine diverse Zahl kaputter Sonnenbrillen, worunter sich auch die meinige befand, waren die Folge. Natürlich gab es in der folgenden Nacht eine Revanche.

Morgens nach dem Erwachen marschierten wir zum ca. 50 m entfernten Waschplatz und holten uns anschließend im Küchenzelt das Frühstück. Unsere Zelte standen ziemlich nahe am Strand, das Wetter war gut und wir nutzten jede Gelegenheit zum baden. Die damalige „Zonengrenze“ welche quer durch Deutschland verlief und die BRD von der damaligen DDR trennte, nahm hier bei Travemünde direkt an der Ostsee ihren Anfang. Sie lag nicht sehr weit von unserem Zeltlager entfernt. Damals war sie noch nicht so stark befestigt, wie in den späteren Jahren. Nur einige Grenzpfähle markierten ihren Verlauf. Als wir sie einmal in Augenschein nahmen, konnten wir ein paar Vopos (Volkspolizisten) beobachten. Sie „beschützten“ einen Bauern, der mit seinem Pferd das Gelände hinter der Grenze mit seiner Egge bearbeitete. Dieser Vorgang wiederholte sich täglich, damit man die frischen Fußspuren von Republik-Flüchtlingen besser erkennen konnte.

Am 21. August - es war ein Donnerstag - nahmen wir die Gelegenheit wahr, um mit einem Schiff die Insel Fehmarn zu besuchen. Der ermäßigte Fahrpreis betrug 3,- DM, aber das war mir die Sache wert. Um 9,30 Uhr stachen wir in See und kamen nachmittags gegen 15,00 Uhr dort an. Die Stunde Aufenthalt nutzten wir, um etwas von der Insel kennen zu lernen. Dann ging es zurück. Das Wetter war stürmisch geworden und die See etwas unruhig, was uns während der Rückfahrt unangenehm auffiel. Leichte Übelkeit verbreitete sich bei den meisten von uns. Der Kapitän gab uns den Rat, uns mittschiffs zu begeben, weil wir hier das Schaukeln weniger verspüren würden. Zum Schluss waren wir aber alle heilfroh, wieder festen Boden unter unseren Füßen zu spüren.

Am Freitagmorgen hieß es dann aber Abschied nehmen. Wir hatten hier herrliche Tage verlebt - und wir brauchten auch nicht täglich in die Pedale zu treten. Die kurze Strecke nach Bad Segeberg schafften wir aber spielend. Es gab ja hier keine Berge und so machte das Ganze wieder richtig Spaß. Seit ein paar Jahren wurden hier in Segeberg Karl-May-Festspiele durchgeführt. Die dortigen Kalksteinfelsen boten eine imposante Naturkulisse. Zu unserer größten Enttäuschung begannen sie aber erst am folgenden Sonntag. Da waren wir aber schon weiter. Wir mussten ja unseren Plan einhalten.

Des Samstags strampelten wir nach Brunsbüttel wobei ich mir an beiden Armen einen kräftigen Sonnenbrand holte. Von Brunsbüttel aus sollte uns eine Fähre nach Cuxhafen bringen, aber die hatte kurz vor unserer Ankunft bereits abgelegt. Wir suchten uns also die dortige Jugendherberge, die wir auch spät am Abend fanden. Natürlich war die Küche wieder kalt und so hieß es für uns: „Reste-Verzehr“, was uns von unserer Tagesration übrig geblieben war. Am Sonntagmorgen ging es dann nach Cuxhafen-Duhnen. Im Hafen konnten wir Ozeanriesen aus allen Herren Ländern bestaunen. Nachts war mal wieder „der Hl. Geist“ unterwegs gewesen denn am anderen Morgen erwachten einige mir schwarzen Gesichtern, (man hatte sie, während sie schliefen, mit Schuhcreme eingefärbt).

Unser nächstes Ziel war Hamburg. Hier nahmen wir uns einen Tag Zeit um die Stadt kennen zu lernen und eine Hafenrundfahrt zu machen. Natürlich unternahmen wir auch einen Bummel über die Reeperbahn - aber nicht „nachts um halb eins“ sondern nachmittags. Da war die „sittliche Gefährdung“ - zur damaligen Zeit jedenfalls - noch äußerst gering. Der Trubel begann erst am späten Abend. Gerne hätten wir aber das berühmte Wachsfigurenkabinett besucht, aber das hatte leider geschlossen. Von Hamburg fuhren wir des Mittwochs nach Fallingbostel in der Lüneburger Heide. Die Jugendherberge war ganz im Stil einer Heidekate gebaut und mit einem typischen Strohdach versehen. Ganz in der Nähe liegt auch das Grab des Heidedichters Hermann Löns, dass wir am Abend trotz Zeitmangel besuchten.

Am folgenden Tag fuhren wir nach Bückeburg und am darauf folgenden ging es durch den Teutoburger Wald - natürlich mit einem Abstecher zum Hermannsdenkmal - nach Paderborn. Im Teutoburger Wald passierte mir ein Malheur. Die Fahrt aus der Ebene zu den Gipfelhöhen war sehr anstrengend, zumal wir des längerem keine Berge mehr gewohnt waren. So genossen wir begeistert die Abfahrt auf der Südseite. Hier konnten wir nun unsere Räder kilometerweit rollen lassen ohne zu trampeln - und alles im rasanten Tempo.

Hier passierte es nun, dass sich mein zusammengerollter Regenumhang vom Tornister löste und in die Speichen des Hinterrades geriet. Wie durch ein Wunder kam ich aber nicht zu Fall. Mein Rad sah aber schlimm aus. Ans Fahren war nun nicht mehr zu denken. Einige Speichen waren bei diesem Manöver auch zu Bruch gegangen. Die beiden Leute von uns, die zum täglichen Pannen-Hilfsdienst eingeteilt waren, konnten mir auch nicht helfen. Unsere Truppe fuhr weiter und wir drei marschierten nun zu Fuß hinterher. Bald trafen wir auf ein kleines Dorf, wo wir Hilfe suchten. Dort gab es aber nur eine alte Schmiede. Der dazugehörige Schmied - ich sehe ihn heute noch vor mir - war von wuchtiger, vierschrötiger Statur mit Händen wie Kohlenschaufeln. Sein kurzer Hals trug einen - echt westfälischen - breiten, fast viereckigen kahl geschorenen Schädel.

Sein Gesichtsausdruck war auch nicht gerade freundlich, als wir ihm unser Anliegen vortrugen. Immer wieder brummelte er Unverständliches vor sich her, als er den Schaden begutachtete. „Das wird nie was“, dachte ich bei mir. Und was war, wenn es erst ans Bezahlen ging. In meiner Geldbörse herrschte schon seit Tagen gähnende Leere.

Indessen vertraten wir uns draußen etwa die Füße. Nach etwa einer Stunde bedeutet uns der Schmied, dass er jetzt fertig sei. Staunend betrachteten wir sein Werk. Alles war wieder komplett hergerichtet. Ich bedankte mich tausendmal und fragte nun nach meiner Schuldigkeit. Der Schmied erklärt mir durch unmißverständliche Handbewegungen und in besten westfälischen Dialekt, (für unsere rheinischen Ohren klang es wie eine Fremdsprache), dass er nichts haben wolle. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber trotzdem glaube ich bis heute felsenfest, während seiner Äußerungen ein schalkhaft-freundliches Blitzen in seinen Augen gesehen zu haben. Diesen Mann, der mir in seiner seltsamen - knorrigen Art damals so selbstlos aus der Patsche geholfen hat, werde ich jedenfalls nie vergessen.

Von Paderborn aus ging es dann wieder über Iserlohn Richtung Heimat. Am 31. August - es war ein Sonntagabend gelangte ich müde aber wohlbehalten wieder zu Hause an. Mein Geldbeutel war leer bis auf den letzten Pfennig, aber mein Herz war so voller Eindrücke und Erlebnissen, die ich - wie man sieht - mein Lebtag nicht vergessen habe.

Doch zurück zu den Briefträgern. Nachdem ich nun also schon seit längerem als Zusteller mit voller Leistung im Einsatz war, trat für mich immer empfindlicher zu Tage, das ich - bedingt durch die Zugverbindungen - meinen Dienst morgens nur mit einiger Verspätung antreten konnte. Das wurde bis dato stillschweigend geduldet. Aber auf Dauer konnte ich es meinen Kollegen nicht abverlangen, die Arbeit für mich mit zu verrichten. So reifte in mir der Plan, mir ein Motorrad anzuschaffen um verkehrsunabhängig zu werden. Hierfür benötigte ich nicht nur einen entsprechenden Führerschein sondern auch einen Kredit, den ich mir beim posteigenen „Post-Spar-und Darlehensverein“ holen wollte.

Den Motorrad-Führerschein der Klasse IV machte ich in Siegburg. Diese Prüfung war nach heutigen Maßstäben sozusagen ein Klacks. Wir mussten als erstes einen Fragebogen über verkehrstechnische Fragen beantworten. Danach ging der Prüfer durch die Reihen der Prüflinge und stellte jedem noch ein paar zusätzliche Fragen. Geriet einer von uns ins Stottern, half er schon mal nach oder drückte ein Auge zu. Als wir nun anschließend unsere Fahrkünste auch praktisch auf dem Motorrad beweisen sollten, stellte sich heraus, dass zur Zeit kein Fahrzeug zur Verfügung stand. Unser Prüfer meinte trocken, das sei auch nicht so schlimm, schließlich würden wir doch bereits alle fahren können, womit er durchaus Recht hatte. Einige von uns waren nämlich schon mit ihrem eigenen Motorrad zur Prüfung erschienen - natürlich ohne Führerschein. Den bekamen wir dann anschließend auch anstandslos ausgehändigt. Die lagen nämlich - oh Wunder - schon fertig, mit Tag und Datum versehen, alle auf dem Schreibtisch.

Nun hatte ich zwar einen Führerschein aber noch kein Motorrad. Mein Traum damals war ein 125er DKW. Ich hatte mir schon Prospektmaterial von dieser Maschine besorgt und sie lag damals groß im Trend und war preislich noch in „den unteren Rängen“ angesiedelt. Trotzdem war eine Barzahlung bei meinem schmalen Gehalt natürlich für mich jenseits aller Realität. Daher begab ich mich zur oberen Etage ins Büro von Postinspektor Schneider, der damals Vertrauensmann für den Post-Spar-und Darlehensverein war. Ich erklärte ihm meine Situation und bat ihn, einen Kreditantrag zwecks Finanzierung eines Motorrades zu stellen. Während er noch schrieb, fragte er eher beiläufig, ob es denn nicht einfacher für mich sei, zum Postamt Much überzuwechseln, denn das läge doch seines Wissens nur ein paar Kilometer von meinem Wohnort entfernt und sei schließlich für mich bequem auch mit einem Fahrrad zu erreichen.

Seine einfach so dahin geworfenen Bemerkung schlug bei mir allerdings nun wie eine Bombe ein. Hundert Gedanken gleichzeitig schossen mir durch den Kopf. Schon seit längerem begeistert von der Idee der Pfadfinderschaft hatte ich inzwischen Kontakt bei den Geistinger Pfadfindern aufgenommen und strebte dort eine Mitgliedschaft an. Ich fühlte mich mittlerweile so richtig zu Hause in Hennef und ich nahm es inzwischen als selbstverständlich, hier einmal mein weiteres Arbeitsleben zu verbringen. Zudem war mir - bei meinem Hang zur Beständigkeit - recht mulmig zu Mute bei dem Gedanken, in eine für mich fremde Umgebung zu wechseln. Ferner platzte natürlich mein schöner Traum vom eigenen Motorrad, wofür ja nun kein dringendes Bedürfnis mehr bestand. Mein Vater hätte unter diesem Sachverhalt niemals seine Zustimmung zum Kauf gegeben, die ich ihm unter Vortrag aller möglichen Argumente inzwischen abgerungen hatte. Ich muss in diesem Moment wohl Herrn Schneider ziemlich verdattert angeglotzt haben, denn der meinte schnell, es sei ja nur ein Vorschlag gewesen und ihm gerade mal so eingefallen. Warum, so dachte ich in diesem Moment, war ihm diese Idee um Himmels Willen denn nicht schon am Tage meiner Einstellung gekommen - und das sagte ich ihm dann auch. Er meinte, die zuständigen Herren auf der OPD in Köln hätten da wohl vom grünen Tisch aus entschieden.

Damals war jedes Postamt ein eigenständiger Betrieb mit eigener Verwaltung und nur der zuständigen Oberpostdirektion in Köln verantwortlich. Mein Pech war es, das sich unser zuständiges Postamt im 20 Km entfernten Hennef befand, während ich im Grenzbereich zum 5 Km entfernten Much wohnte. (Unser direkter Nachbarort Wohlfarth gehörte postalisch schon zu Much).

Nachdem ich meine Gedanken einigermaßen geordnet hatte, kam ich aber bald zu dem Schluss, dass es für die Zukunft doch besser für mich sein würde, zur näheren Arbeitsstelle nach Much zu wechseln. Inspektor Schneider erklärte sich daraufhin bereit, in diesem Sinne einen Antrag an die OPD zu richten und auch zu befürworten. In der Antwort aus Köln wurde dem Antrag stattgegeben und so wechselte ich - mit einem weinenden und einem lachenden Auge - am 1. August 1953 zum Postamt in Much.

War beim Postamt in Hennef doch schon einiges auf dem neuesten Stand gebracht, z.B. im Mobiliar, in der Ausstattung und bei den Arbeitsgeräten, so traf ich nun bei meiner neuen Arbeitsstelle in Much auf geradezu „wilhelminische Verhältnisse“. Das kann man ruhig wörtlich nehmen, denn die meisten Schränke und Büromöbel stammten ganz offensichtlich noch aus „Kaisers Zeiten“. Auch arbeitete man hier doch sehr beengt. Das Innere des Postamtes bestand aus zwei größeren Diensträumen. Der hintere - zum Hof gelegene Raum  beherbergte die sechs Zusteller nebst der Paketablage. Im vorderen Raum - er lag zur Straße hin, war die Briefabfertigung und das Schalter nebst abgetrenntem Schaltervorraum untergebracht. Ein kleineres Dienstzimmer neben dem Zustellerraum war dem Chef vorbehalten. Den Chefposten bekleidete damals Hermann Schneider. Über ihn gibt es noch einiges zu berichten.

Die gesamte Belegschaft bestand damals aus dreizehn Leuten. Sechs von ihnen waren, wie gesagt, in der Briefzustellung tätig. Hubert Kemmerling war einer der älteren Kollegen und er versorgte den Hauptort Much. Die anderen fünf Landzusteller (wie sie im Amtsdeutsch genannt wurden), fuhren mit ihren Fahrrädern über die Dörfer. Es waren: Albert Becher, Theo Fuhrbach, Willi Knipp, Jean (Schäng) Rademacher und Paul Müller. Als Vertreter bei Urlaub und Krankheit fungierten Albert Flüg, Helmut Nies und Peter Jonas. Die beiden letzteren wechselten auch zwischendurch in den Schalterdienst, der Hubert Fink hauptamtlich innehatte. Den Innendienst versorgte Josef Vollmar zusammen mit Hermann Schneider, der bei einem solch kleinen Betrieb in seiner Eigenschaft als Chef ja nicht voll ausgelastet war. Dann gab es noch einen Pjb (Postjungboten) im ersten Lehrjahr namens Rolf Freckmann. (Pjb ist eine der zahllosen postalischen Abkürzungen, die einem Postbediensteten mit der Zeit in Fleisch und Blut übergingen. Diese Abkürzungen wurden alle am Ende ohne Punkt geschrieben. Sie erleichterten den Schreibkram und die Ausdrucksweise im Dienst ungemein).

Außer Paul Müller und Helmut Nies, denen ich ab und zu während ihres Zustellganges in Wohlfarth oder Kreuzkapelle schon mal begegnet war, waren mir meine neuen Kollegen allesamt unbekannt, obwohl sie alle - so wie ich - in der näheren Umgebung von Much beheimatet waren. Aber wie schon erwähnt, waren meine Kontakte in Richtung Much bis dato recht sparsam. Dieser Zustand änderte sich ab sofort nun aber rigoros. Das war vielleicht auch gut so, wie ich heute feststellen muss. Wäre es nicht so gekommen, dann hätten meine späteren Lebensumstände und die zwangsläufig damit verbundenen Auswirkungen auf mein Umfeld einen völlig anderen Verlauf genommen. Manche Ereignisse und Aktivitäten hätten höchstwahrscheinlich nie stattgefunden. Einige Projekte hätten mit Sicherheit nie das Licht der Welt erblickt. Mir dieser Behauptung möchte ich beileibe nicht den Eindruck entstehen lassen, ich wollte mich hier hervortun. indem ich behaupte, nur durch mein Einwirken wären irgendwelche Steine ins rollen gebracht worden. Dazu braucht es immer das Engagement vieler. Die Idee eines einzelnen ist von vornherein zum Scheitern verurteilt - und mag sie noch so gut sein - wenn sie nicht von bereitwilligen Menschen aufgegriffen und durch deren Mitarbeit von diesen und mit ihnen in die Tat umgesetzt wird. Nur wenn jeder seine Vorstellungen einbringt und sie mit anderen zu einem Ganzen verschmelzen lässt, entsteht wahrhaft Neues und Gutes.

An meinem ersten Arbeitstag wurde ich von allen meinen neuen Kollegen freundlich begrüßt und aufgenommen. Wie ich bald feststellen konnte, war das dort herrschende Betriebsklima typisch für eine solch überschaubare Gemeinschaft – und außer dem ab und zu stattfindenden und unvermeidlichen „Kleinkrieg“ - völlig in Ordnung. Die meisten von ihnen kannten sich ja von klein auf und so wusste ein jeder über den anderen in- und auswendig Bescheid. Unser Chef war - wenn man so will - der einzige „Fremdling“ in der Truppe, er stammte aus der Gegend von Gießen im Hessenland.

Nach einigen Tagen des Eingewöhnens landete ich, wie konnte es auch anders sein, wieder bei den Briefträgern. Geplant war, dass ich zuerst einmal alle Zustellbezirke kennen lernen sollte, damit man mich später überall dort einsetzen konnte, falls einmal ein Zusteller ausfiel. Das kam dann auch schneller, als ich mir hatte träumen lassen. Albert Becher, einer der ältesten Zusteller wurde krank. Er versorgte den nordöstlichen Teil der Gemeinde mit Post. (Richtung Wellerscheid - Ober- u. Niederbonrath). Das war eine sehr strapaziöse und bergreiche Gegend. Der Winter hatte sich in diesem Jahr schon frühzeitig mit dichten Schneefällen angemeldet. Wer konnte es dem Albert also da verdenken, wenn er nun seine alten Knochen ein wenig schonen wollte und seinen Bezirk für die Wintermonate einem Jüngeren überließ.

So zog ich also mit meinem voll gepackten Fahrrad über die verschneiten Dörfer. Damals gab es durchweg schneereiche Winter und es begann meistens lange vor Weihnachten zu schneien. Die Anzahl der Pakete wuchs mehr und mehr, je näher es auf das Fest zuging. Wenn ich des Morgens losmarschierte, war mein armer Drahtesel oft so mit Paketen beladen, das man ihn kaum noch sehen konnte. An aufsteigen und fahren war in den ersten Stunden natürlich überhaupt nicht zu denken, da ich die Pedalen mit meinen Füßen kaum hätte betätigen können. Das Lenkrad, welches voller Pakete und Päckchen hing, konnte ich nur in einem kleinen Radius bewegen. Also war schieben angesagt. Die dicke Schneedecke hätte ein normales Radfahren ohnehin nicht erlaubt. Natürlich konnte ich nicht alle Pakete an meinem Fahrrad unterbringen. Wenn ich dann gegen Ende alles zugestellt hatte, und sich mein Fahrrad wieder „in jungfräulichem Zustand“ befand, konnten es die Einwohner der am Ende meines Bezirkes liegenden Ortschaften natürlich nicht begreifen, dass ich beim besten Willen keinen Platz für ihr Paket mehr hatte. Sie mussten sich dann gezwungenermaßen nach Much begeben um dort am Postamt ihr Paket abzuholen.

Selbstverständlich war man neugierig, wie denn nun der neue Briefträger hieß und woher er kam. „Bös de en Mücher Jong?“  (Bist du ein Junge aus der Mucher Gegend). Da ich diese Frage mit Fug und Recht bejahen konnte, war das schon für mich „die halbe Miete“ wie man so sagt, schließlich dachte man damals noch in sehr lokalpatriotischen Geleisen. Wenn ich dann meinen Namen „Eckhard“ nannte, wurde es wieder kritisch. „Wat ös dat dann vör en Namen?“ Dieser Name war damals bei uns ziemlich unbekannt und er ist meines Erachtens auch bis heute noch nicht sehr geläufig. Mehr als einmal habe ich es während dieser Zeit bedauert, einen so ausgefallenen Namen zu tragen. Hörten sie dann aber, ich sei „dem Müllers Martin sein Sohn“, dann hatte ich gewonnen. Bekanntlich war mein Vater ja in Niederbonrath geboren und in Wellerscheid aufgewachsen. Man kannte ihn also, denn es war ja schließlich seine engere Heimat. Dazu kam aber noch, dass mein Patenonkel („Pattohm“) Peter in Wellerscheid wohnte - was für mich in diesen Tagen und Wochen ein wahrer Glücksfall bedeutete.

Wenn ich auf meinem Zustellgang in Wellerscheid ankam, war das meistens so um die Mittagszeit. Meine herzensgute Tante Finchen – die Frau meines Pattohm - versorgte mich dann immer mit einer warmen Malzeit. Das war bei der vorherrschenden Winterkälte nicht zu verachten. Wer weiß, ob ich die Strapazen damals sonst alle durchgestanden hätte. Von Wellerscheid zur Ortschaft Oberbonrath lag noch ein recht beschwerlicher Marsch vor mir. Er führte durch ein dichtes Waldgebiet - durch die so genannte „Seng“. Nach einer Steigung ging es erst einmal abwärts in ein schluchtartiges Gelände. Dann zog der Weg steil bergan und man kam ganz schön ins schnaufen bis man endlich das Dorf erreichte. Einen halben Meter Schnee war dort im Winter keine Seltenheit und es hatte niemand vor mir „Bahn gemacht“, bzw. war diesen Weg schon gegangen. Natürlich führte auch ein befestigter Weg zu den Ortschaften, aber den zu benutzen, hätte für mich ein ziemlicher Umweg, verbunden mit einem größeren Zeitaufwand bedeutet.

Während der Sommermonate war es allerdings richtig romantisch, bei Vogelgezwitscher unter den schattigen Baumkronen zu wandern. Im Sommer - habe ich mir sagen lassen - verließ Tante Finchen oft ihre Feldarbeit, begab sich nach Hause um mir eine Malzeit zuzubereiten. Das habe ich ihr nie vergessen! In Oberdreisbach war ich dann schließlich am Ende meiner Runde angelangt. Wenn ich dann Glück hatte, erwischte ich in Marienfeld den planmäßigen Postomnibus, der mich von dort samt meinem Fahrrad nach Much mitnahm. Die meiste Zeit aber musste ich die 5 km auf meinem Velo abstrampeln.

Als der Schnee dann eine gewisse Höhe erreicht hatte, wurde es unmöglich, das Fahrrad zu benutzen und so zogen wir Briefträger zu Fuß los. Ein stabiler Krückstock war hier von unschätzbarem Wert. Einerseits konnte man sich gut mit ihm abstützen, besonders wenn es mal wieder bergan ging, andererseits erwehrte man sich in Notsituationen der beißwütigen Vierbeiner - wenigstens teilweise. Zu jedem landwirtschaftlichen Betrieb gehörte damals auch ein Hofhund. Und die meisten von ihnen liefen natürlich frei herum. Jeder Briefträger hat im Laufe seiner Dienstjahre so einige Hundebisse eingefangen. Ich übrigens auch. Ein paar diesbezügliche Narben lassen sich an meinen Händen heute noch unschwer erkennen. Den Stock nannten wir scherzhaft: „Vater Philipp“ - warum, weiß ich nicht. Des Weiteren besaß jeder von uns einen Regenumhang aus dickem, schwarzem Wollstoff. Der hielt zwar eine Zeitlang den Regen ab. Wenn er sich dann aber gänzlich voll mit Wasser voll gesogen hatte, wog er einige Kilo mehr und die Feuchtigkeit drang durch, so dass man trotzdem nass wurde. Bei den winterlichen Fußmärschen wärmte er aber auch und hielt den eisigen Wind etwas ab.

Hier muss ich eine Begebenheit einflechten, in welcher dieser Regenumhang eine etwas ulkige Rolle spielt. Es war in der Vorweihnachtszeit. Die Wellerscheider Tour hatte ich mal wieder hinter mich gebracht. Inzwischen war es schon später Nachmittag. Es begann zu dunkeln als ich das letzte Dorf erreichte. Ein wohlmeinender Einwohner erklärte mir, es gäbe da eine Abkürzung nach Much. Der Weg sei allerdings stellenweise etwas zugewachsen aber mit ein bisschen Glück könnte ich es wohl schaffen und hätte damit eine ziemliche Wegstrecke gespart. Noch sehr im Zweifel, versuchte ich es aber dennoch. Nachdem ich ein größeres Ackerstück überquert hatte, gelangte ich auf einen abschüssigen Waldweg, der sich immer weiter talwärts senkte. Die Dunkelheit war langsam fortgeschritten und es begann zu nieseln - halb Schnee, halb Regen. Weit und breit kein Haus. Auch kein Licht schimmerte durch die dichte Waldung. Plötzlich hinderten Weidenzäune mein weiteres Fortkommen. Nachdem ich mühevoll durch den Stacheldraht gekrochen war, wobei mein armer Umhang auch einiges abbekam, sah ich in kurzer Entfernung Lichter blinken. Ich war in Bockem - (einem „Vorort“ von Much) angelangt. Ich war also ganz schön aus der Richtung gedriftet, wenn ich auch zum guten Schluss mein Ziel dennoch erreicht hatte. Als ich im Postamt dann, klamm gefroren, ins warme Dienstzimmer trat, entledigte ich mich erst einmal meines nassen Regenumhanges. Der war inzwischen steif gefroren. Ich stellte! ihn neben den warmen Heizkörper und konnte dann später beobachten, wie er beim auftauen langsam in sich zusammensackte.

Die Landzustellbezirke waren durchnummeriert. Sie trugen die Bezeichnung Land 1 bis Land 5. Der Mucher Ortsbezirk wurde einfach „Ort“ genannt. Albert Becher ging also auf „Land 1“. Natürlich tat sich ein Neuling und Vertreter gegenüber dem Stammzusteller schwer im jeweiligen Bezirk. Der Stammzusteller wusste natürlich, wo eine Seitentür offen stand oder auf welchem Acker sich gerade der Einwohner befand, den man zu Hause nicht angetroffen hatte. Vielfach war man einem Neuen gegenüber auch reserviert und misstrauisch - ob so ein junger Bursche das auch alles richtig macht?

Im Großen und Ganzen brachte man mir aber Verständnis und Wohlwollen entgegen. Damals waren die Menschen zum überwiegenden Teil noch nicht so kritisch und weit „pflegeleichter“ als heute. Sie waren unkompliziert und nahmen auch manches nicht so genau, wenn mal ein Fehler unterlief. Man war hilfsbereit und war gerade Essenszeit, dann wurde der Briefträger auch schon mal an den Mittagstisch gebeten. So eine Einladung war nicht zu verachten, denn ein Tagesmarsch von 10 - 15 km kann schon hungrig machen und die paar mitgenommenen Butterbrote waren auch schnell verzehrt. Andererseits war der Briefträger hier auf dem Lande aber auch des Öfteren das „Mädchen für alles“, wie man so sagt. Es war selbstverständlich, dass man schon mal ein Medikament aus der Apotheke mitbrachte oder eine Besorgung in Much machte denn der Weg ins Dorf war recht umständlich und zeitaufwendig. Da war man froh, wenn sich der Briefträger hilfsbereit zeigte.

Da gab es aber auch konkrete Situationen, in denen der Briefträger zupacken musste. So war ich eines Tages im kleinen Ort Siefen bei der Zustellung, als ich im Hause vom „Köhnen Pitter“ die beiden Frauen in heller Aufregung antraf. Eine Kuh wollte kalben und die Männer des Dorfes befanden sich alle bei der Feldarbeit. Kurz entschlossen warf ich mein Fahrrad an die Böschung, eilte mit den Frauen zum Kuhstall und wir drei zogen nun mit vereinten Kräften ein Kälbchen ins Leben. Obwohl wir zu Hause zwei Kühe besaßen, die natürlich auch ab und zu kalbten, war es hier für mich das erste Mal, dass ich den „Geburtshelfer“ machte, und es war außerdem eine ganz neue Lebenserfahrung für mich.

Zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten wurde damals am ersten Feiertag noch Post ausgetragen. Diesen Umstand habe ich nie nachvollziehen können und viele Kollegen dachten gleichermaßen: Ob man nun einen Oster- oder Pfingstgruß einen Tag früher oder später in seinen Händen hält, kommt sich doch ziemlich gleich. Wir versuchten nun, mit einem Trick das beste daraus zu machen, wenn diese Aktion auch zugegebenermaßen einige Selbstüberwindung - jedenfalls bei mir - kostete. Wir nahmen also mit unserer gefüllten Posttasche, natürlich in Uniform, wie es die Vorschrift verlangte, am Morgen gegen Ende des Hochamtes an der Kirche Aufstellung. Nun versuchten wir hier möglichst viele Feiertagspost an die herausströmenden Kirchenbesucher los zu werden. Das funktionierte auch immer gut, zumal die meisten Kirchgänger davon wussten und uns schon am Kirchenportal erwartet hatten.

Der Rademachers Schäng hatte da einmal im Jahr noch eine zusätzliche Methode, auf einfache Art und Weise seine Post loszuwerden. Am Montag des traditionellen Markelsbacher Erntefestes fuhr er mit seinem Fahrrad ohne Umwege schnurstracks zum Festzelt. Hier war naturgemäß nämlich seine gesamte „Kundschaft“ beim zünftigen Frühschoppen versammelt und der Schäng hatte bald seine Post allesamt verteilt. Natürlich ließe es sich nicht umgehen, hier und da ein Schnäpschen zu trinken, welches man ihm traktiert hatte. Der Schäng war ein überaus fröhlicher und hilfreicher Mensch und ein ebenso beliebter Zusteller. Da wollte natürlich an diesem hohen Feiertag jeder mit ihm auf sein Wohl anstoßen. So war der Schäng an einem solchen Tag mal wieder „überfällig“ geworden. Wir, seine Kollegen, fassten daher den Entschluss, unseren „Verschollenen“ gemeinsam nach Hause zu holen. Als wir in Markelsbach ankamen, fanden wir ihn auch, wie erwartet, in fröhlicher Runde im Festzelt sitzen. Sein historischer Ausspruch ist verbürgt und erlautet: „Euer Kommen soll nicht umsonst gewesen sein“ - und so war es dann auch!

Meine Uniform - es war bis dato meine erste und einzige - bestand, wie bereits beschrieben, aus einer dunkelblauen Stoffjacke mit normalem Innenfutter, einer schwarzen Hose aus strapazierfähigem, dickem Stoff und einer so genannten Baschlik- oder Skimütze. Diese Klamotten waren für den Sommer zu warm und für den Winter zu kalt. Da half in der kalten Jahreszeit ein dicker Wollpullover unter der Jacke. Ein Schal sowie ein Paar Fausthandschuhe waren ebenfalls von Nutzen. Bei tiefem Schnee zogen wir Gummistiefel an. Die Hose steckte man dann in die Stiefelschäfte. Manchmal war der Schnee aber so hoch, dass er oben hereinrutschte. Da hieß es: Stiefel aus und vom Schnee entleeren, weil man sonst durch das Schmelzwasser unweigerlich nasse Füße bekommen hätte. Anoraks oder derartige Winterkleidung, wie sie heute gang und gebe sind, kannte man damals noch nicht - jedenfalls nicht bei der Post. Unsere Uniformen bezogen wir durch die „Postkleiderkasse“ in die wir monatlich einen bestimmten Betrag einzahlen mussten. Die Kleidungstücke waren von guter Qualität. Sie waren preisgünstig für uns, weil unser Arbeitgeber einen nicht unerheblichen Zuschuss gewährte. Bei der Sommerhitze halfen wir uns, indem wir die Jacken auszogen und sie auf unserem Fahrrad deponierten. Das war allerdings streng verboten, aber wen kümmerte das bei 30° im Schatten.

Theo Fuhrbach versorgte den nördlichen Teil (Land 5) des Amtsbereiches mit Post. Das war die Richtung Eckhausen - Gerlinghausen bis zur höchsten Erhebung der Gemeinde, dem Heckberg. Hier standen damals nur zwei Häuser in denen je eine Familie wohnte. Außerdem besaß hier der Fabrikant Vierlinger aus Köln eine Villa, in einem großen wald­ähnlichen Park gelegen. Er hielt sich aber dort nur sporadisch zur Jagd auf. Die Bewohner der beiden anderen Häuser bezogen jedoch eine Tageszeitung, und zwar durch die Post, weil sich wohl kaum ein Zeitungsträger gefunden hätte, diesen Weg täglich dorthin nach oben zu machen. So hatte also der Briefträger den täglichen Gang zu absolvieren - auch wenn es nur diese verflixte Zeitung war - er musste rauf. Vielleicht war das aber auch in weiser Voraussicht von den Leuten auf dem Heckberg so geplant. Ohne dieses Zeitungsabonnement hätten sie den Briefträger wohl nur ein- bis zweimal die Woche zu Gesicht bekommen. Im Winter war der Weg genau so strapaziös wie im Sommer. Er zog sich schnurgerade den Berg hinauf. Er war - wie das gesamte Wegenetz zwischen den einzelnen Ortschaften - mit groben Schottersteinen befestigt. Die tiefen Radspuren der Pferdefuhrwerke waren durch das herabstürzende Regenwasser ausgetrieben. Fuhr man mit dem Fahrrad talwärts und passte nicht haarscharf auf, konnte das halsbrecherische Folgen haben.

So um die Mittagszeit hatte man den Heckberg erreicht. Die Sonne stand im Zenit und man hatte dann den Eindruck, ihr hier besonders nahe zu sein. Den ganzen Weg hinauf gab es kein schattiges Plätzchen. Weder Baum noch Strauch. Lediglich wuchsen auf halber Höhe ein paar armselige Ginstersträuche in die ich mich dann immer fallen ließ um ein wenig zu verschnaufen.

Die Wege zwischen den einzelnen Dörfern waren damals in einem ganz miserablen Zustand. Einige davon waren für Personenkraftwagen völlig unpassierbar. Diese Vehikel hätten einen Achsenbruch riskiert. Selbst mit dem Fahrrad hatte man so seine Schwierigkeiten. Man musste stellenweise durch die Straßengräben oder an den Weidenzäunen entlang klettern, weil der Weg zu matschig oder sonstwie unpassierbar war. Der tägliche „Rindviecher-Auftrieb“ zur Weide spielte sich natürlich auch auf diesen Wegen ab. Und so war der Matsch selbstverständlich mit diversen Kuhfladen garniert. Dementsprechend sahen des    Abends dann auch unsere Klamotten und unser Schuhwerk aus.

Im westlichen Teilbereich (Land 4) sahen die Wegeverhältnisse etwas besser aus, ebenso im südlichen Bereich (Land 3), der vom Rademachers Schäng versorgt wurde. Hier konnte man die beiden Hauptverkehrsstraßen des Wahnbachtales und der Zeithstraße benutzen. In Land 4 arbeitete Willi Knipp. In seinem Bereich lag das Kirchdorf Hetzenholz sowie die Orte Niederheiden, Hevinghausen und Bövingen. Diesen Bezirk habe ich immer sehr gemocht und ich bin dort auch ziemlich oft Vertretung gegangen. Merkwürdigerweise fühlte ich mich hier wie zu Hause. Vielleicht lag es am dortigen Menschenschlag. Ich habe übrigens damals feststellen können, das die Bevölkerung in den einzelnen Teilbereichen der Gemeinde durchaus verschiedenartiger Mentalität waren. Das drückte sich zwar nicht immer augenfällig aus aber bei genauem Hinschauen gab es schon eine Art „Nord-Süd-Gefälle“ in ihrem Verhalten und in ihrer Wesensart.

Die meisten Briefträger hatten damals ihre ganz bestimmten Familien als so genannte „Anlaufpunkte“. Hier wurde sich kurz niedergelassen und das mitgenommene Butterbrot verzehrt. Nicht selten stand schon eine Tasse Kaffee bereit. Man erzählte sich den neuesten „Tratsch“ und dann ging es weiter. Bei mir war das in Niederheiden der Fall. Hier wohnten einige Familien, bei denen ich mich gleich von Anfang an wie zu Hause gefühlt habe. Hier legte ich meine angeborene Scheu und meine hinlänglich bekannten Hemmungen ab. Noch heute läuft mir das Wasser im Munde zusammen, wenn ich an die leckeren, dick mit selbst geräuchertem Schinken belegten Butterbrote denke, die mir Ilse Kreuzer oft zubereitet hat wenn ich in ihrem Hause einen kurzen Zwischenstopp einlegte.

Solche Ruhepunkte waren einfach vonnöten, wollte man die langen Tagesmärsche und Strapazen in Wind und Wetter überstehen. Sicher werden einige jetzt beim lesen dieser Zeilen lächeln und Vergleiche zum Stress, zur Hektik und Arbeitsintensität der heutigen Zeit ziehen. Selbstverständlich hatten diese modernen Schlagworte damals noch keinen Einzug in den deutschen Sprachschatz gefunden. Auch das Briefaufkommen war nach heutigem Stand damals minimal. Reklamesendungen (heute „Info-Post“) gab es damals so gut wie keine. Ebenfalls wurden die Tageszeitungen zum größten Teil von Zeitungsträgern ausgetragen. Den größten Posten nahmen die beiden wöchentlich erscheinenden Zeitschriften „Feld und Wald“ und die „Landwirtschaftliche Zeitschrift“ ein. Diese Bauernblätter hatte damals fast jeder Haushalt abonniert. Aber der tägliche Marsch über eine Strecke von ca. 15 km und mehr, bei Wind und Wetter, bei Sturm, Regen und Schnee und in glühender Sommerhitze war bei den katastrophalen Wegeverhältnissen doch mit viel Knochenarbeit verbunden und wahrhaftig kein Pappenstiel. Die damaligen - inzwischen überhaupt nicht mehr nachvollziehbaren, komplizierten Arbeitsabläufe - nahmen eine Unmenge zusätzlicher Zeit in Anspruch. Hierzu gehörte das monatliche Einkassieren des Zeitungsgeldes und der Rundfunkgebühren. Es wurde mit so genannten „Stammkarten“ gearbeitet. Sie wurden zum jeweiligen Zeitpunkt ausgegeben. Wir mussten sie dann nach unserem Begehungsplan ordnen. Nach erfolgter Arbeit wurden sie dann wieder in alphabetischer Reihenfolge sortiert und zurück gegeben.

Nur ein sehr geringer Prozentsatz der Bevölkerung besaß damals ein Girokonto. Wer aber eines besaß, benutzte es trotzdem nicht entsprechend. Das hieß für uns: täglich jede Menge Ein- und Auszahlungen in bar annehmen und verwalten. Da hieß es „Augen auf - oder Geldbeutel auf“. Hatten wir uns einmal zu unseren Ungunsten geirrt, so mussten wir den Minderbetrag aus unserer eigenen Tasche hinzufügen. Das war bei unserem schmalen Gehalt dann auch immer äußerst schmerzhaft. So ist schon manch einer von uns „zum Giebels Jupp nach Marialinden gepilgert“ um sich bei ihm Rat zu holen wenn ein Zahlungsbeleg verschwunden war. Der Josef Giebel war selber Briefträger und er besaß die Gabe des „Hellsehens“. Man mag darüber nun denken, wie man will, uns hat er jedenfalls mit seinen Fähigkeiten oft aus der Patsche geholfen. Einem Kollegen zum Beispiel fehlte eines Tages ein Auszahlungsbeleg über einen größeren Betrag. Josef Giebel erklärte ihm genau die Lage des Ortes, des Hauses und sogar der Schublade, in welcher sich der Beleg befinden sollte. Dort wurde er dann auch gefunden. Die Frau des Hauses hatte ihn achtlos dorthin gelegt. Ein Glück noch, das der Auszahlungsschein nicht gleich in den Ofen gewandert war.

Pakete und Päckchen der damals langsam aufblühenden Versandhäuser kamen grundsätzlich per Nachnahme. Sehr beliebt waren zu der Zeit die Lieferung von Kaffee und Honig, die man im monatlichen Abonnement bestellen konnte. Diese Päckchen waren deshalb schwierig zu transportieren, weil sie keine Verpackungsschnur besaßen, und man sie deshalb auch nicht am Fahrrad befestigen konnte. Nicht selten kam es auch vor, dass ein Honigeimer undicht geworden war. Dann waren klebrige Honigflecken an der Kleidung vorprogrammiert.

Der südöstliche Bezirk (Land 2) wurde von unserem „Käptn“ Paul Müller versorgt. Den Spitznamen hatte er, weil Paul im letzten Krieg als Matrose zur See gefahren war. Er erzählte oft und gern aus jener Zeit und er hatte da so manche Story und auch schon mal einen forschen Seemannsspruch auf Lager. Wenn unser „Käptn“ des Morgens zur Tür herein trat und dabei ein militärisch-strammes „Achtung!“ herausbrüllte, war für Hubert Kemmerling der Tag schon gelaufen. Als überzeugter Anti-Militarist war es für diesen ein direkter Greuel, einen solchen Kasernenhofton schon am frühen Morgen hören zu müssen. Ständige Neckereien und Schabernack waren, wie überall unter den Briefträger, so auch in Much an der Tagesordnung. Das war auch eine Art der Disziplinierung untereinander. Man konnte so auf scherzhaft Weise dem anderen seine Meinung sagen ohne ihn zu verletzen. Willi Knipp war bekannt durch seine spitze Zunge. Er verstand es  immer wieder, mit seinem Lästermaul den armen Schäng derart zu reizen, bis diesem der Geduldsfaden riss und er blitzartig um die Ecke geschlichen kam und dem Willi mit ein paar gekonnten Handgriffen die eben erst akkurat einsortierten Briefe wieder aus den Fächern zog. Willi saß dann jammernd vor seinem Briefhaufen und musste nun wieder von vorne beginnen. Das hielt ihn aber nicht davon ab, gleich am nächsten Tag wieder seine Lippe zu riskieren. Den Theo Fuhrbach brachte er einmal so weit, dass dieser ihn eines Tages für längere Zeit in den Kohlenkeller sperrte.

Der Bezirk von Paul Müller beinhaltete unter anderem das Kirchdorf Kreuzkapelle sowie die Ortschaften Walterscheid, Bennrath, Wohlfarth und Kranüchel. Obwohl dieser Bezirk direkt an meinen Wohnort angrenzte, bin ich den Bezirk von Paul - so weit ich mich erinnern kann – nie gegangen.

Unser damaliger Chef hieß Hermann Schneider. Er bewohnte mit seiner Familie die erste Etage des Postgebäudes. Von Beruf (und auch von Statur) war er gelernter Schmied. Er stammte aus Gießen im schönen Hessenland was sich auch in seinem Dialekt unüberhörbar ausdrückte. Wenn man einmal von seinen unberechenbaren Zornesausbrüchen absah, war er eine Seele von Mensch. Hatte er einmal eine Schimpfkanonade losgelassen, hatte er sie auch schnell wieder vergessen. Gesegnet mit einer heiter-gelassenen Lebensart ließ er den Dingen, wenn sie einmal gut liefen, ihren Lauf.

Hermann besaß unverkennbar einen Hang zur Landwirtschaft und ich glaube, er wäre viel lieber Bauer gewesen als seine stämmige Figur hinter einen Schreibtisch zu klemmen. In einem kleinen Holzschuppen, der sich auf unserem Posthof befand, und eigentlich für andere Zwecke vorgesehen war, hatte er einige Schafe untergebracht. Nebenher war er auch Herr über zahlreiche Bienenvölker. In der Vorweihnachtszeit betrieb er eine Gänsemast. Diese Gänse hielt er im Kohlenkeller und sie wurden von ihm fachmännisch „genudelt“, das heißt: sie wurden systematisch mit feisten Malzeiten voll gestopft, damit sie richtig schön fett waren, wenn für sie die Zeit gekommen war. Er war aber auch im Presbyterium der neu gegründeten evangelischen Kirchengemeinde von Much ehrenamtlich tätig und er hat in dieser Zeit maßgeblich beim Bau der evangelischen Kirche mitgewirkt.

Naturgemäß kam bei all diesen Aktivitäten der Postdienst bei Hermann etwas zu kurz und er verlor zeitweise den Überblick im dienstlichen Geschehen. Terminliche Sachen gerieten dabei in Verzug und so sammelte sich mit der Zeit ein wahres Gebirge von unerledigten Papieren und Akten auf seinem Schreibtisch an. So musste ich einmal ein paar Wochen lang in seinem Arbeitszimmer sitzen und „Berichtigungen machen“, die sich im Laufe der Zeit zu einem ganz schönen Stapel angehäuft hatten. Dazu folgendes: Die „Postordnung“ (das Betriebsgesetz der Post) - sie regelte, wie es im Amtsdeutsch so schön hieß, das Verhalten zwischen der Post und ihren Benutzern - bestand aus einem umfangreichen Werk. Jedes Postamt besaß eine solche Reihe der in rotes Kunstleder gebundenen Bücher. Diese wurden stets auf den neuesten Stand gebracht wenn neue Gesetze und Verordnungen in Kraft traten. Sie mussten also „berichtigt werden“. Das geschah, indem man allen Ämtern regelmäßig einige Seiten Berichtigungsmaterial zuschickte, Nach einem mitgereichten Plan wurden aus diesen Blättern nun bestimmte Passagen ausgeschnitten und an die richtige Stelle des jeweiligen Buches eingeklebt. Das hört sich sehr kompliziert und zeitaufwendig an - und war es auch. Richtig schlimm wurde es aber erst, wenn man mit damit in Verzug geriet. Bei einer Routinekontrolle des Bezirksaufsichtsbeamten (BAB) - der „Schwarze Mann“ aller Postbediensteten - war unser Chef aufgefallen. Er hatte diese Berichtigungen schon seit geraumer Zeit vernachlässigt. Dieser ganze Papierkram lag ihm ja sowieso nicht sonderlich. Mich betraute er also nun mit der „ehrenvollen Aufgabe“ das alles nachzuholen. Eine Syssiphusarbeit! Da mich Herr Schneider ja nun nicht einfach als Lehrling so „aus dem Verkehr ziehen konnte“, war er auf einen Trick verfallen. Er gab mir einfach für diese Zeit Urlaub, den er von seinem eigenen Urlaub abzweigte. Auf seinem Personalplan stimmte die Rechnung also wieder.

Hier muss ich aber noch eine lustige Story einflechten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, schräg gegenüber der Post wohnte August Passberger. Seines Zeichens war er Fleischbeschauer (auch Trichinenbeschauer oder „Vennenkicker“ genannt). Er setzte also bei den damals allerorts üblichen Hausschlachtungen - nach seinen mikroskopischen Untersuchungen bestimmter Fleischteile - seinen amtlichen Stempel. Das Fleisch war nun „von Amts wegen“ für den Verzehr frei gegeben. August war zu seiner Zeit eines der bekanntesten - und heute leider so gut wie gänzlich ausgestorbenen - Mucher Originale. Seine Neugier (Vernommechket) und sein überaus spitzes Mundwerk waren sprichwörtlich. Durch seine Tätigkeit kannte er im Mucher Land so ziemlich alle Familien und deren Verhältnisse in- und auswendig. Er war ein wandelndes Nachschlagewerk, wenn es darum ging, Erzählungen und Geschichten aus alter Mucher Zeit wiederzugeben. Welch herrliches Buch hätte entstehen können, wenn sich dieser Mann hingesetzt hätte, um all das aufzuschreiben. Nun gut. Wenn nun am frühen Morgen der Hermann seine Schafe hinaus auf die Weide führte, lag der August schon im Fenster und erwartete ihn bereits mit einer neugierigen Frage oder verschmitzten Bemerkung. Das nervte den Hermann auf Dauer nun sehr und ich habe selber ein paarmal erlebt, wie dieser mit hochrotem Kopf und ziemlich aufgebracht von seinen morgendlichen Begegnungen mit dem August sprach.

Eines Tages fehlte beim „morgendlichen Auftrieb“ nun ein Schaf, denn die Familie Schneider hatte mal wieder Lust auf Lammbraten bekommen. Der August hatte das Fehlen natürlich sofort bemerkt und - neugierig, wie er ja war - fragte er also, wo das fehlende Schaf denn geblieben sei. Worauf ihm der Hermann in seinem breitesten hessischen Dialekt zur Antwort gab: „Dat is de Nacht vor lauter Neugier gebascht“ (gestorben).

Es war Vorschrift für die Postlehrlinge besagte, dass die schriftlichen Arbeiten, welchen wir Postjungboten während der wöchentlich stattfindenden Berufsschulstunden zuwege brachten, regelmäßig dem jeweiligen Amtsvorsteher zu dessen Begutachtung vorgelegt werden mussten. Nun hatte ich eine solche Arbeit total „vergeigt“. Ich wusste das, und ich wusste auch, dass ich sie hätte besser machen können, aber mir fehlte an diesem Tage irgendwie die Motivation. Prompt zitierte mich Herr Schneider zu sich und verpasste mir erst einmal eine längere Standpauke die darin mündete, dass ich diesen Aufsatz noch einmal zu schreiben hatte, und zwar, nicht für die Berufsschule, sondern für ihn persönlich. Ich war völlig überrascht. Diese erzieherische Maßnahme hatte ich ihm überhaupt nicht zugetraut. Hier hatte ich nun eine ganz neue Seite von ihm kennen gelernt und ich habe mich in Zukunft wohlweislich in Acht genommen, dass mir ein solcher Schnitzer nicht noch einmal passierte.

Im Frühjahr 1954 ging meine dreijährige Lehrzeit zu Ende. Es war damals bei der Post üblich, die Postjungboten aus einem Teilbereich des OPD-Bezirkes (OPD = Oberpostdirektion) auf einen dreiwöchigen Abschluss-Lehrgang - meistens in eine Jugendherberge - zu schicken. Am 2. März, es war ausgerechnet der Karnevalsdienstag, starteten wir in einem posteigenen Bus zur Jugendburg Bilstein bei Grevenbrück im Sauerland. Zusammen waren wir 48 Leute aus den Bereichen der Ämter Siegburg und Bonn. Hier im Sauerland war noch eine dünne Schneedecke vorhanden und so war nach unserer Ankunft natürlich die erste Schneeballschlacht fällig. Die Burg Bilstein oberhalb des gleichnamigen Ortes liegt auf einem Hügelzug und sie diente nach etlichen Umbauten schon seit geraumer Zeit als Jugendherberge. Wir wurden in zwei Gruppen zu je 24 Leuten aufgeteilt. Für beide Gruppen stand ein größerer Unterrichtsraum zur Verfügung. Meine Gruppe hatte den Tagesraum für diesen Zweck zur Verfügung. Hier nahmen wir auch alle gemeinsam unsere täglichen Malzeiten ein.

Der Unterricht erstreckte sich von morgens 8.00 Uhr bis mittags um 13.00 Uhr. Nach dem Mittagessen hatten wir Zeit für die „Hausaufgaben“. Wenn ich meine, noch vorhandenen Unterlagen von damals durchblättere, überkommt mich doch ein großes Staunen, mit wie vielen und mannigfachen postalischen Themen wir damals „gefüttert“ worden sind. Wer von uns geglaubt hatte, so ziemlich alles Wissenswerte im Laufe der drei Lehrjahre mitbekommen zu haben, der sah sich nun aber doch gewaltig getäuscht. Jetzt ging es erst richtig los mit dem Lernen. Gerade die Leute wie ich, die von den kleineren Ämtern kamen, gewannen immer mehr den Eindruck, dass sie die letzten Jahre wohl auf einem anderen Planeten gelebt haben mussten. So haben wir z. B. in diesen drei Wochen ca. 100 Eisenbahnkurse zusätzlich lernen müssen. Das belief sich auf 7 bis 8 Kurse täglich - natürlich von unterschiedlicher Länge. Jede freie Minute wurde zum Auswendiglernen genutzt. Unsere anberaumte Freizeit verdiente diesen Namen eigentlich gar nicht. Von 16.00 Uhr bis 18.00 Uhr wurde der Unterrichtsstoff in so genannten Arbeitsgemeinschaften weiter behandelt und durchgearbeitet. Das Wochenende war unterrichtsfrei und „diente der Erholung“. Aber da fand sich immer etwas außerplanmäßiges, um diesen Anspruch wenigstens teilweise wieder zunichte zu machen.

Eines Tages lag ein mächtiger Berg Koks im Burghof. Allgemeines Rätselraten, was mit dem wohl geschehen würde. Am darauf folgenden Wochenende wussten wir es. Einem Teil unserer Belegschaft - darunter war ich natürlich auch - wurde die „ehrenvolle Aufgabe“ zuteil, den Koks in den angrenzenden Keller zu schippen. Und das kam so: Unsere Lehrpersonen hatten sich - wohl auch im Einvernehmen mit dem Herbergsvater, oder gar auf dessen Vorschlag hin - zur vorgerückter Stunde  (es war strickt Bettruhe angesagt), völlig überraschend, zu einem Kontrollgang durch unsere Schlafräume entschlossen. Wir wurden auch prompt kalt erwischt und zwar bei einer heißen Kissenschlacht. Schnell waren die Namen der Übeltäter notiert und das Ergebnis – Koks schippen.

Außerdem gab es in durchlaufender Reihenfolge den sehr unbeliebten „Kartoffelaugenausstechdienst“, wie wir ihn scherzhaft nannten. Die Kartoffeln wurden maschinell geschält. Aber die Augen mussten natürlich mit der Hand entfernt (ausgestochen) werden, weil das knapp bemessene Küchenpersonal naturgemäß solche Mengen nicht allein bewältigen konnte.

In der hauseigenen Leihbücherei hatte ich mir gleich zu Anfang ein paar Bücher ausgeliehen, mit der löblichen Absicht, sie mir dann auch irgendwann in den Mußestunden einzuverleiben. Aber dazu bin ich äußerst selten gekommen. Die meisten von uns begaben sich nach Feierabend hinunter ins Dorf, um in den dortigen Kneipen nach den etwas spärlich vorhandenen „Dorfschönen“ Ausschau zu halten. Ein paarmal bin ich auch mitgegangen, fand das alles aber doch ein bisschen zu einfältig und auf die Dauer auch beträchtlich langweilig. Da setzte ich mich doch lieber in eine stille Ecke und las.

An den Wochenenden waren fast immer „Heimabende“ angesagt. Wir trafen uns im großen Aufenthaltsraum zusammen mit den übrigen Herbergsgästen zum fröhlichen Beisammensein. Es wurde gemeinsam gesungen, Spiele wurden gespielt und es wurden Geschichten vorgelesen. Ein paar unserer Leuten hatten ihre Musikinstrumente von zu Hause mitgebracht. Das war übrigens ausdrücklich gewünscht worden. Natürlich kamen sie nun an so einem Heimabend zum Einsatz. Da gab es ein Akkordeon, mehrere Gitarren und sogar eine Geige war dabei. Unser Geigenvirtuose hatte dann auch bald den Spitznamen „Paganini“ weg. Ein besonderes Gaudi war es für uns, wenn „Lorchen“ vorlas. Lorchen war trotz dieses weiblichen Namens männlichen Geschlechtes und sozusagen der Lehrling oder Praktikant des Herbergsvaters. Seinen Spitznamen wurde ihm spontan von der ganzen Truppe verliehen, als er einmal an einem solchen Abend eine lustige Geschichte vortrug, in welcher ein Papagei namens Lorchen die Hauptrolle spielte. „Lorchen“ stammte unverkennbar aus dem schönen Sauerland. Dort wird das „ch“ beim aussprechen im hinteren Rachen gebildet - so in etwa, wie es die Schweizer machen. Jedes Mal, wenn der so ausgesprochene Name „Lorchen“ fiel, wurden wir von wahren Lachkrämpfen geschüttelt. „Et Lorchen“, wie es seitdem bei und hieß, hatte auch die Aufgabe, uns des morgens in aller Herrgottsfrühe mit munterem Gesang und Gitarrenklang aus den warmen Federn zu holen. Dabei musste der arme Kerl dann auch hin und wieder während seines gut gemeinten Vortrages vor einem fliegenden Pantoffel in Deckung gehen.

Hatte sich jemand von uns - zum Schaden seiner ganzen Gruppe oder sonst wie danebenbenommen, so bekam dieser zur nächtlichen Stunde „den Hl. Geist geschickt“. Das verlief dann folgendermaßen: Man wartete, bis der Delinquent zu schnarchen begonnen hatte oder anderweitig zu erkennen gab, das er „in Morpheus Armen ruhte“. Dann schlich man auf Zehenspitzen zu seinem Bett. Er wurde nun blitzschnell von kräftigen Armen gepackt und festgehalten. Jetzt wurde sein Gesicht genüsslich und ganz penibel mit schwarzer Schuhcreme „gesalbt“. Es brauchte schon eine Masse Zeit, um diesen Kleister am anderen Morgen wieder weg zu bekommen. Vom Lehrpersonal oder von den Herbergseltern hatten die   Übeltäter kaum Repressalien zu erwarten. Diese nächtlichen Aktionen galten für gewöhnlich als „selbsterzieherischen Maßnahmen“.

Am Sonntagmorgen war der gemeinsame Kirchgang obligatorisch und man achtete auch darauf, dass alle daran teilnahmen. Bei schönem Wetter unternahmen wir manchmal in kleinen Gruppen eine Wanderung in die bergreiche Umgebung. Leider hielt sich zu dieser Jahreszeit die Natur noch bedeckt und so waren die landschaftlichen Schönheiten des Sauerlandes doch recht dürftig. Am letzten Sonntag unseres Aufenthaltes war ein Ausflug zur „Hohen Bracht“ und zum Skiort Winterberg eingeplant. An der Hohen Bracht trafen wir auf letzte Schneereste. Leider war es auf der Höhe sehr diesig, sodass sich eine Besteigung des Aussichtsturmes nicht lohnte. In Winterberg bestaunten wir die imposante Ski-Sprungschanze, die nun mitten in der ergrünenden Landschaft recht deplaziert wirkte. Alles in allem waren es für mich drei erlebnisreiche und schöne Wochen. Der einzige Wermutstropfen bestand aus der alltäglichen Paukerer und dem unaufhaltsam näher rückenden Prüfungstermin.

Am Freitag, den 26. März 1954 war es dann so weit. Nachdem wir am Tag vorher unsere schriftliche Prüfung abgelegt hatten, kam es nun zur mündlichen Prüfung. Man hatte uns in 8 Gruppen zu je 6 Leute aufgeteilt. Jede einzelne Gruppe wurde nun von drei Prüfern ca. drei Stunden in die Mangel genommen und - wie man so schön sagt - „auf Herz und Nieren geprüft“. Als letzte von allen kam meine Gruppe an die Reihe, was unseren Gemütszustand auch nicht gerade positiv beeinflusste. Diese ewige Warterei strapazierte unsere sowieso schon erheblich angekratzten Nerven noch mehr. Zudem bekamen wir zwischendurch auch immer wieder mit, wie einige unserer Vorgänger heulend das Prüfungszimmer verließen. Natürlich versuchten wir sie zu trösten - in dem Glauben, sie seien bereits durchgefallen. Wie groß war aber unser Erstaunen, als diese unter Tränen hervorbrachten, es sei alles gut gegangen. Es seien schließlich nur die Nerven mit ihnen durchgegangen. Um es gleich vorweg zu nehmen: alle 48 Lehrgangsteilnehmer bestanden die Prüfung. Wie man uns später mit einem gewissen Stolz erzählte, war ein solches Ergebnis bei einem Abschlusslehrgang bisher noch nicht zustande gekommen.

Endlich saß auch unsere Gruppe vor der gestrengen Kommission. Trotz aller Anspannung musste ich immer wieder die ungewöhnlichen kleinen, ja kindhaften Hände des Prüfungsleiters betrachten. Es war mir schleierhaft, wie ein ausgewachsener Mensch solche zierliche Gliedmaßen haben konnte. Ich erinnere mich noch, dass man mir auftrug, die Strecke von Burlo nach Barlo zu fahren. Das hieß für mich, alle Bahnstationen zu nennen, die ich während der Fahrt berühren würde. Und das auf dem kürzesten Wege. Die Route hatte man raffiniert gewählt. Beide Orte lagen in Luftlinie gar nicht so weit auseinander. Wollte man sie aber über das Schienennetz erreichen, sah es schon komplizierter aus. (Burlo liegt auf dem Kurs: Essen - Borken - Burlo. Barlo - an der holländischen Grenze, liegt an der Strecke: Wesel - Bocholt - Barlo).

Aber ich hatte mir Gott sei Dank in den letzten Wochen alles gut eingehämmert. Bei der Aufzählung der deutschen Gebirgszüge kam ich allerdings ins schwitzen. Mir wollte ums Verrecken der Harz nicht einfallen. Erst nach einigen hilfreichen Bemerkungen des Prüfers: „im Sommer tropft es von den Fichten“ - oder: „da wäre noch der Käse mit seinem penetranten Geruch“. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Gegen 17,00 Uhr am Spätnachmittag hatten wir es überstanden. Die meisten von uns waren schon zur „Siegesfeier“ in ihre Stammkneipen unterwegs. Meine Gruppe folgte dann auch bald nach. Man hatte für diesen Abend in weiser Voraussicht den „Zapfenstreich“ etwas verlängert - und das war auch gut so. Sonst hätten nämlich viele von uns vor dem geschlossenen Burgtor nächtigen müssen. Ich selbst musste auf dieses Vergnügen verzichten denn gerade an diesem Abend wäre ich gerne mit dabei gewesen. Aber mir war die sehr zweifelhafte Ehre zuteil geworden, das „Poppelsdorfer Schloss“ von Bonn ins Herbergs-Gästebuch zu malen. Meine zeichnerischen Fähigkeiten waren leider schon bis zu unserem Lehrpersonal vorgedrungen. Da nun der größte Teil unserer Belegschaft aus dem Bonner Raum kam, und - unglücklicherweise - jemand eine Ansichtskarte jenes Schlosses aufgetrieben hatte, war das Motiv schon klar. Ich saß also nun mutterseelenallein (auch unsere Lehrer waren hinunter ins Dorf gegangen) im großen Aufenthaltsraum und malte dieses vermaledeite Schloss mit seinen hunderten Fenstern so akkurat wie möglich ab. Unterhalb meines Werkes sollten sich dann später alle mit ihrem Namen verewigen. Ich lag bereits eine geraume Zeit in meinem Bett, als meine Kameraden, mehr oder weniger laut und angeheitert, ihre Schlafplätze aufsuchten. Am nächsten Tag hieß es Abschied nehmen. Im Fußmarsch ging es zur Bahnstation Grevenbrück. Die Herbergsleute standen an der Burgmauer und winkten uns mit einer riesigen Fahne zum Abschied zu. Wir hatten ihnen aber auch in den verflossenen Wochen wohl kaum größeren Kummer bereitet. Oft genug hatten Herbergseltern und Personal teilnahmsvolle und mitfühlende Worte für uns, wenn sie uns mit roten Köpfen über unseren Arbeiten schwitzen sahen.

Wir kehrten nun zu unseren jeweiligen Dienststellen zurück. Den überaus größten Teil meiner damaligen Kameraden - besonders jene aus dem Bonner Raum - habe ich seither nie wieder zu Gesicht bekommen. Manchmal taucht ein Name in der Zeitung auf, oder durch eine Todesanzeige erinnert man sich an frühere Zeiten. Viele Leute meines Jahrganges sind zudem in den späteren Jahren in die freie Wirtschaft (Banken usw.) gewechselt. Hier lagen damals die Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten wesentlich besser als bei der Post.

Ich, als „bodenständiger Mensch“ hatte in dieser Hinsicht keine solchen Ambitionen. Ich war ja bekanntermaßen nie allzu risikofreudig. Mein Bestreben ging dahin, hier in meiner engeren Heimat sesshaft zu sein und zu bleiben. Inzwischen war ich auch aktives Mitglied in verschiedenen Vereinen geworden und trug mich außerdem mit Plänen, mein Haus zu renovieren und zu erweitern. Zudem wollte ich ja irgendwann eine Familie gründen. (Das alles habe ich ja in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich beschrieben). Ich war nun also bei der Belegschaft des Postamtes Much zu einer „vollwertigen Kraft“ geworden - mit allen Rechten und Pflichten. Es ließe sich aber kein großer Unterschied gegen früher feststellen. Die Arbeit blieb dieselbe und das drum herum auch. Als nun Rolf Freckmann auch seine Lehrzeit beendet hatte, war einer von uns beiden überzählig. Es war keine Planstelle vorhanden, wie es im Amtsdeutsch hieß. Einer musste also zum Postamt Siegburg wechseln. Wieder einmal war das Schicksal gegen mich. Am „grünen Tisch“ stellte man unmissverständlich fest, dass mein Wohnort näher an der Stadt Siegburg lag, als der meines „Mitbewerbers“. Dass es sich hier nur um ein paar Kilometer handelte, interessierte nicht. Ich wechselte also im Jahre 1955 zum Hauptpostamt in der Kreisstadt Siegburg.

Für mich brach mal wieder eine Welt zusammen. Was ich in den letzten Jahren immer wieder verdrängt, aber im Geheimen doch befürchtet hatte, war nun eingetreten. Inzwischen war ich stolzer Besitzer eines Motorrades geworden. Es handelte sich um eine „200er Viktoria“, Baujahr 1943. Sie war als Wehrmachtsmaschine gebaut worden, hatte dort wohl jahrelang ihren Dienst getan und sie besaß auch noch den feldgrauen Anstrich. Mein Kollege Willi Knipp hatte sie mir preisgünstig überlassen und sie diente mir nun für die Fahrten zwischen meinem Wohnort und meinem Arbeitsplatz. In ihrem Alter hatte sie natürlich so ihre Mucken - die ich aber inzwischen kannte und darauf zu reagieren wusste. So war die Benzinleitung vom Tank zum Vergaser des Öfteren verstopft. Da half nur Ansaugen und man hatte anschließend den ganzen Tag über diesen widerlichen Benzingeschmack im Mund. Der ließ sich auch nicht durch die rabiatesten Mittel vertreiben. Mit dieser alten Mühle nun jeden Tag die Strecke nach Siegburg zu fahren, traute ich ihr nicht mehr zu. Ich war also auf öffentliche Verkehrsmittel - sprich Postbusse - angewiesen. Diese verkehrten damals nicht so häufig wie heutzutage. Ich musste viele Leerlaufzeiten in Kauf nehmen. Doch davon später mehr.

Wenn ich den Bus betrat, versuchte ich möglichst, einen Platz ohne Nebenmann zu erwischen. Ich fand es lästig und zugleich auch anstrengend, mich eventuell mit meinem Gegenüber unterhalten zu müssen. Im Übrigen verschanzte ich mich dann sofort hinter einem Buch. Das war spannender als die tägliche Eintönigkeit und Einerlei von Landschaft und Gesichtern anschauen zu müssen. Ich las in jenen Jahren übrigens sehr viel. Sogar beim essen lag ein Buch vor mir. Diese Gewohnheit - oder Unsitte - wie man will, hatte ich aus meinem ersten Lesealter aufrechterhalten.

In Siegburg fand sich so schnell keine passende Verwendung für mich. So schob ich erst einmal vier Wochen Dienst als Nachtwächter auf dem Betriebsgelände der Kraftpost in der Alleestraße. Hier waren in zahlreichen Hallen die Omnibusse und Kleinfahrzeuge des Postamtes untergebracht. Dazu kam die posteigene Kfz-Werkstatt. Meine Aufgabe bestand nun darin, des Nachts alle zwei Stunden einen Kontrollgang durch das weitläufige Betriebsgelände zu machen. An verschiedenen Punkten war eine Stechuhr zu bedienen. An Hand dieser Uhren ließ sich nachher feststellen, ob ich auch pünktlich alle Rundgänge wahrgenommen hatte. Ein paarmal bin ich während einer solchen Nachtschicht eingenickt und habe dadurch meinen Gang zu spät oder gar nicht wahrgenommen. Hinterher war, wie zu erwarten ein Rüffel fällig.

Die Nachtstunden zwischen den einzelnen Etappen verbrachte ich im Aufenthaltsraum der Betriebswerkstatt. Hier war es warm und gemütlich - so richtig zum einschlafen, was ich aber leider nicht durfte. Es gab da ein altes Radio welches ich die ganze Nacht dudeln ließ um mich wach zu halten. Hier habe ich zu so einer nächtlichen Stunde zum ersten Mal ein klassisches Musikstück bewusst angehört. Ich erinnere mich noch gut, es war die Ouvertüre zur Operette „Dichter und Bauer“ von Franz von Suppè. Das wusste ich damals allerdings noch nicht, aber die Melodien des Stückes  verfolgten mich ständig und ich habe seit dem Zeitpunkt angefangen, mich mit dieser Art Musik zu beschäftigen. Es war der Beginn „einer wunderbaren Freundschaft“.

Nach vier Wochen war meine Nachtwächtertätigkeit zu Ende. Man holte mich ins „Mutterhaus“ - ins Hauptgebäude des Siegburger Postamtes in der Neuen Poststraße. (Es musste im Jahre 2003 einem neuen Center weichen). Aber ich kam nicht, wie erwartet, zu den Briefträgern. Mein neuer Arbeitsplatz hieß fürderhin: Briefein- und Abgang. Im Wechsel mit drei wesentlich älteren Kollegen nahm ich hier die Stelle eines „Abfertigungsschaffners“ wahr. Aus Platzgründen hatte man auf dem dortigen Posthof eine große Holzbaracke aufgeschlagen und dort den gesamten Ein- und Abgangsbetrieb untergebracht. Hier befand sich der Umschlagplatz für alle ankommenden und abgehenden Briefsendungen aus Siegburg und den angrenzenden Landbereichen, wozu natürlich auch Much gehörte. Im Winter war es hier mollig warm. Die Baracke war stets gut geheizt und die Isolierung trotzte der bittersten Kälte draußen. In den heißen Sommermonaten allerdings war es wegen der brütenden Hitze drinnen kaum auszuhalten. Da nützte es auch nichts, wenn Türen und Fenster offen standen. Zusätzlich strahlte der Asphaltboden des Posthofes noch  die Hitze von unten. Wenn es dann zu schlimm wurde, spritzte man mittels Feuerwehrschläuchen Wasserfontänen über das Dach. Das half eine Zeitlang. Nachher kam man sich aber vor wie in einer Sauna. Für die Barackenleute standen im Sommer ständig einige große Kannen mit kaltem Tee für den Durst bereit. Man hatte mich wahrscheinlich auf diese Dienststelle beordert, weil ich - frisch von Lehre und Schule gut mit Bahnstrecken und Kursen umzugehen wusste. Diese Fähigkeit war damals ja zum sortieren der Briefe unerlässlich. Zudem waren durch meine mangelnden Ortskenntnisse schlechte Voraussetzungen für die Verwendung als Briefträger in Siegburg gegeben. Der „Abfertigungsschaffner“ war praktisch „Mädchen für alles“. Der Blick zur Uhr war unumgänglich - ja lebensnotwendig, wollte man den Zeitpunkt eines bestimmten Vorganges nicht verpassen. Klappte irgendwo etwas nicht, oder war eine Sache vergessen worden - was einer mittleren Katastrophe gleich kam, dann war in den meisten Fällen der Abfertigungsschaffner subjektiv oder objektiv schuld daran.

So oblag ihm z. B. die Aufgabe, stündlich die 6 bis 7 Tagesstempel der Schalterbeamten um eine Stunde vorzustellen. Man konnte von denen ja nicht verlangen, dass diese, mit schwarzer Stempelfarbe beschmierten Händen, die Postkunden bedienten. Der Abfertigungsschaffer war für vielerlei Dinge verantwortlich. Er hatte Sorge zu tragen, dass die abgehende Post pünktlich verladen und zum Bahnhof gebracht wurde. Ebenfalls waren immer wieder sporadisch die Briefkästen am und im Haus zu leeren. Den Zeitpunkt  musste man schon irgendwie im Gefühl haben. Ging man zu häufig, war der Weg fast umsonst. Wartete man zu lange, quollen die Kästen schon mal über - je nach Tages- und Wochenzeit. Anschließend wurden die Briefe aufgestellt und gestempelt.

Irgendwann hielt - oh Wunder - eine leibhaftige Stempelmaschine Einzug in unserer Baracke. Einmal, während meiner Lehrzeit hatte ich staunend vor so einem Wunderwerk gestanden und zwar, als wir mit unserer Berufsschulklasse das Kölner Hauptpostamt besichtigen durften. So ein Wunderding schaffte in kürzester Zeit ein Pensum, für welches auch ein noch so flink mit dem Hammerstempel umgehender Mensch wesentlich länger gebraucht hätte - wenn die Maschine denn auch lief. Aber die hatte so ihre Macken, wie wir leider bald feststellen mussten. Alle paar Minuten klemmte und hakte es, wenn sie nicht sorgfältig eingestellt war und entsprechend bedient wurde. Ihre Technik steckte damals noch weit in den Kinderschuhen. Bald war ich so ziemlich der einzige, der sich an das Ding heran traute. Meinen älteren Kollegen war die neue Maschine auf irgendeine Weise suspekt.

Mehrmals täglich wurden die in bestimmte Fächer sortierten Briefsendungen nach den jeweiligen Bestimmungsorten und -strecken gebündelt und in Beutel versackt, (Es hieß: versackt - nicht verbeutelt), und, wie gesagt, zum nahen Bahnhof gebracht. Bestimmte Züge führten damals Bahnpostwagen mit sich. Sie kamen rollenden Postämtern gleich. Hier wurden die angelieferten Sendungen weiterverarbeitet und ihren Bestimmungsämtern zugeführt. Das war für die Kollegen im Bahnpostwagen die reine Knochenarbeit. Wer aber einmal Bahnpost gefahren war, kam nicht wieder davon los, wie ich oft von alten Fahrensleuten erfuhr. Eine eigenartige Faszination ging von diesem Dienstzweig aus. Es war ein Zigeunerleben. Tage- und nächtelang taten sie ihren Dienst in den fahrenden Zügen. Dann hatten sie ein oder auch mehrere Tage freie Zeit in irgendeiner Stadt. Für so was musste man halt geboren sein.

Der Transportanhänger mit den Postbeuteln wurde von einem batteriebetriebenen Elektro-Mobil gezogen. Der Fahrzeugführer stand vorne auf einem Podest und er lenkte den Wagen mittels eines Hebels, der vom Boden bis in  Brusthöhe des Fahrers reichte. Um dieses Gefährt zu lenken, bedurfte es einer Sondererlaubnis des  Straßenverkehrsamtes.  Diese  Elekro-Karre trug aus unerfindlichen Gründen in Siegburg seit jeher den Namen „Eidechse“.

Eine Fahrt zum Bahnhof war für mich immer eine willkommene Abwechslung. Aber wehe, wir verpassten einen Zug - was auch ein- oder zweimal vorgekommen ist. Dann gab es ein gewaltiges Donnerwetter von „ganz oben“. Unser damaliger Chef hieß Karl Hundertmark. Offizier im I. Weltkrieg, dann BAB (Bezirksaufsichtsbeamter), brachte er alle Voraussetzungen für einen Amtsvorsteher mit, der gewillt und in der Lage war, seine Mannschaft nach preußischer Gangart zu führen. Karl Hundertmarks besondere Begabung und Stärke lag darin, einen Versager vor versammelter Belegschaft abzukanzeln. Sein kasernenhofgeschultes Sprachorgan ließ oftmals die vorbei eilenden Passanten auf der Straße innehalten, um dem, aus den Diensträumen schallenden Donnerwetter zuzuhören. Trotzdem war er - bei näherem Hinsehen umgänglicher, als man es auf den ersten Blick wahrnahm. Der bekannte Ausspruch: „Hunde, die bellen, beißen nicht“ traf auf ihn in besonderer Weise zu. Es kam so gut wie nie vor, das er eine Missetat schriftlich fixierte, was für den Beschuldigten wesentlich schlimmer gewesen wäre. Hundertmark liebte es eben, seinen Untergebenen Angst einzujagen und ich hatte manchmal den Eindruck, dass er sich dabei köstlich amüsierte. Öfter als in seinem Büro traf man ihn in den unteren Diensträumen. Er hatte die Angewohnheit, zu den unmöglichsten Zeiten an den unmöglichsten Stellen ganz plötzlich aufzutauchen. Dabei hatte sein geschultes Auge blitzschnell die gesamte Situation überschaut. Hektischen Arbeitseifer aus dem Stand vorzutäuschen nützte da wenig. Komischerweise hat es mir immer widerstrebt, ein solches Täuschungsmanöver an den Tag zu legen. Natürlich auf die Gefahr hin, als Faulpelz abgestempelt zu sein. Aber weit gefehlt - Karl Hundertmark ließ eines Tages die Katze aus dem Sack. Er erwähnte beiläufig, man solle es doch unterlassen, ihn immer wieder so an der Nase herum zu führen. Schließlich hätte er nichts dagegen, wenn sich jemand nach getaner Arbeit einmal eine kleine Pause gönne.

Wir Abfertigungsschaffner und die übrigen Hilfskräfte im „Barackenviertel“ waren aber auch gehalten, in Leerlaufzeiten „Schnür-Ösen“ zu entwirren. Unter Schnürösen - im Postdeutsch „Bundschließen“ genannt, versteht man eine ca. 80 cm lange Kordel an deren oberem Ende sich eine runde, eingekerbte Scheibe - die Öse - befindet. Die Briefbunde wurden mit dieser Kordel umschlungen, ein paarmal um die Öse gewickelt und dann durch mehrfaches Unterstecken festgezurrt. Um es noch zu Ende zu führen: Die Briefbunde wurden mit einem so genannten „Vorbindezettel“ versehen, der den Bestimmungsort, den Namen des Abfertigungsamtes und das Namenszeichen des abfertigenden Beamten enthielt. Befanden sich falsch sortierte Briefe in einem solchen Bund, so hatte man die Fehlerquelle schnell ausfindig gemacht und es kam eine dieser gefürchteten „Meldungen“ mit den bekannten Folgen. (Siehe oben). Wurden nun diese „Schnürösen“ nach Öffnen der Briefbunde nicht ordentlich in die dafür vorgesehenen Kästen gelegt, so entwickelte sich bald auf dem Aussack-Tisch ein schier unentwirrbarer Knäuel - eine Art „Gordischer Knoten“. Diesen Knoten nun Stück für Stück wieder zu entwirren, war eine reine Nervensache. Mein alter (und unvergesslicher) Kollege Jean Pick - ein Original und überall nur „de Pecks Schäng“ genannt, brachte hierfür eine Engelsgeduld auf. Er konnte ewig an diesem Knäuel herum murksen, ohne ein Anzeichen von Nervosität erkennen zu lassen.

Der Schäng war auch so ziemlich der Einzige, der es riskieren konnte, unserem Chef die Meinung zu sagen. Das machte er auf seine humorvolle Art und Weise. Schließlich kam natürlich noch sein respektables Alter hinzu. Stets hing eine gekrümmte Pfeife aus seinem Mund, was wegen der daraus entstehenden Brandgefahr eigentlich in den Posträumen verboten war. Aber der Schäng hatte das Verbot umgangen indem er auf dem Pfeifenkopf einen Deckel montiert hatte, den er auch stolz immer wieder jedem zeigte. Hinreichend bekannt waren aber auch seine witzigen Bemerkungen die er ständig zu besten gab und die demzufolge praktisch jeder aus seiner Umgebung schon auswendig kannte. Aber man lachte doch fortwährend aufs neue - und der Schäng erwartete das ja auch. Tat es mal wieder regnen, wusste er immer mit dem Spruch zu trösten: „Es hat noch nie zwei Tage an einem Stück geregnet“. Man war dann gehalten, ganz verwundert zu fragen: „Wieso denn nicht“, worauf die verschmitzte Antwort kam, es läge ja immer noch eine Nacht dazwischen.

Wenn ich hier ab und zu auf die Arbeitsabläufe etwas näher eingehe, so tue ich das zum besseren Verständnis. Sie sind dann aber doch sehr vereinfacht dargestellt. In Wirklichkeit waren sie aber doch um einiges komplizierter in Theorie und Praxis. Würde ich darauf näher eingehen, so wäre das für die meisten Leser noch langweiliger als es sowieso  für viele schon ist.

Der Dienst eines Abfertigungsschaffner war bei Lichte betrachtet, recht unbeliebt. Einer der Hauptgründe bestand wohl im ständigen Wechsel der Dienstzeiten. Da gab es den Frühdienst von 4,00 Uhr bis 8,00 Uhr morgens. Dann wieder begann der Dienst nachmittags oder abends zu Nachtschicht. Meine Busverbindungen waren demzufolge katastrophal. Die nächste Bushaltestelle in Wohlfarth erreichte ich zu Fuß in 5 Minuten. Das war kein Problem. Doch lagen die Abfahrtszeiten dort vielfach so ungünstig, dass ich einen günstigeren Bus an der Haltestelle Kreuzkapelle / Herrenteich nahm. Dabei musste ich allerdings einen halbstündigen Fußmarsch in Kauf nehmen.

Ein- bis zweimal die Woche erreichte ich die Stadt schon ein paar Stunden vor Dienstbeginn. Diese Leerlaufzeit überbrückte ich dann meistens mit einem Kinobesuch. Hier habe ich mir in diesen zwei Jahren so manchen Spielfilm anschauen können, den ich sonst wohl nie zu Gesicht bekommen hätte. In jener Zeit liefen die heute als „schnulzig“ verschrienen Heimatfilme zuhauf. Man lachte sich da manchmal halbtot, wenn der Theo Lingen, der Georg Thomalla und der Gunter Philips zugange waren. Fernsehen gab es damals ja noch nicht und man war also noch nicht so verwöhnt in der Unterhaltungssparte. Da ich inzwischen etwas „auf den Geschmack gekommen war“, besuchte ich auch gerne Operettenfilme wie „Der Vogelhändler“ usw. Auch Filme über das Leben berühmter Komponisten sah ich mir gerne an. Die Eintrittspreise waren für meinen schmalen Geldbeutel damals durchaus erschwinglich.

Während der warmen Jahreszeit spazierte ich aber auch gerne hinauf zum Michelsberg, suchte mir dort ein stilles Eckchen auf einer Bank und las. Die Bücher lieh ich mir in der Stadtbücherei am Fuße des Berges. Dazu verzehrte ich dann gewöhnlich eine Tüte der von mir damals so heiß geliebten Eiswaffeln, die es preiswert in der Kaufhalle gab. Begann mein Dienst um 4.00 Uhr in der Frühe, so war ich gezwungen, in Siegburg zu übernachten, da so früh am Morgen ja noch kein Bus unterwegs war. Einige meiner Kollegen teilten dasselbe Schicksal. Die Amtsverwaltung hatte nun zu Übernachtungszwecken in der Speicher-Etage des Postamtes einen größeren Raum zur Verfügung gestellt. Dieser Raum war mit einigen Feldbetten samt Wolldecken bestückt. Für das andere Bettzeug hatte man selber zu sorgen. Den Weckdienst am frühen Morgen besorgten die Kollegen der Nachtschicht.

Sehr angenehm war das nächtigen dort nicht. Es lag immer ein gewisser Mief von Staub, Bohnerwachs und diversen Ausdünstungen der Schläfer in der Luft. Außerdem gab es noch „die Schnarcher vom Dienst“. Zum Beispiel einen jüngeren Kollegen aus der Lohmarer Gegend. Wir nannten ihn ob seiner nächtlichen Sägerei „das Aggertaler Sägewerk“. Wenn es gar zu schlimm mit ihm wurde, hielten wir ihm auch schon mal seine Nase zu, aber das half nur für Augenblicke. Ewald Schönenbrücher, der fast allergisch auf die Schnarcherei reagierte, sprang eines Nachts mit einem nicht ganz jugendfreien lautenden Fluch aus seinem Bett und zog samt Matratze auf den Flur um dort etwas ungestörter weiter zu pennen. Hatte man „Übernachtung gebucht“, dann traf sich die „Schlaf-Mannschaft“ nach Dienstschluss meistens in der Stadtschänke. Diese lag nicht weit entfernt zwischen Postamt und Bahnhof. Diese Kneipe wurde damals geführt von Erich Mannebach, einem äußerst beliebten Wirt und Menschen. Hier traf man sich am Abend, ehe man mit Bus oder Bahn die Heimfahrt antrat. Erich war mit jedem „per Du“ und er kannte alle seine Gäste mit dem Vornamen. Das ergab eine richtige familiäre Atmosphäre. So ganz allmählich entstand aus dieser Übernachtungsmannschaft ein Kollegenkreis, der auch im täglichen Dienstbetrieb zusammenhielt und sich bei Bedarf und nach Möglichkeit gegenseitig unter die Arme griff. Ich vergesse nie jenen Sonntagmorgen, an welchem diese kollegiale Einstellung zum Tragen kam. Wir hatten wohl an jenem Samstagabend bei Erich ein wenig zu tief ins Glas geschaut. Zudem waren unsere Kollegen vom Nachtdienst selber sanft eingeschlafen. (In der Nacht zum Sonntag ist es naturgemäß etwas ruhiger im Postaufkommen). Wir wurden jedenfalls alle gleichzeitig durch das durchdringende Pfeifen eines Zuges im nahen Bahnhof unsanft aufgeweckt. Zu unserem großen Schrecken war höchste Eile geboten, denn in einer knappen Viertelstunde mussten wir zum Postaustausch auf dem Bahngelände stehen. Die unsichtbare - aber immer gegenwärtige - drohende Gestalt unseres obersten Chefs samt seiner zu erwartenden Strafpredigt verlieh uns Flügel. Wir stolperten hastig die Treppen hinunter, rafften die abgehende Post zusammen und rasten mit unserer „Eidechse“ allen Verkehrsregeln zum Trotze durch die Einbahnstraße Richtung Bahnhof. Wir erwischten den Zug gerade noch in dem Moment, als der Schaffner das Abfahrtssignal geben wollte.

In diesen beiden „Siegburger Jahren“ kam mein Privatleben praktisch total zum Erliegen. Nur noch sporadisch nahm ich meine heimische Umgebung wahr. Der Dienstplan bestimmte meinen Lebensrhythmus. Im viertägigen Wechsel wiederholte sich Busfahrt, Dienst, Essen, Schlafen. Für anderes blieb kaum noch Zeit. So konnte ich durch diese ständige Wechselschicht auch die Probenabende und sonstigen Termine  in den einzelnen Vereinen - bei denen ich inzwischen Mitglied geworden war – nicht mehr wahrnehmen. Das war für mich der schmerzlichste Verzicht.

Aber es gab in dieser Zeit auch einen Lichtblick für mich. Ich hatte ja inzwischen - wie bereits berichtet - meine spätere Frau Rita kennen gelernt. Sie führte in diesen Jahren einem Zahnarztehepaar (kinderlos) in  Troisdorf Friedrich-Wilhelmshütte den Haushalt. Das war nicht sehr weit entfernt von meiner Arbeitsstelle und so trafen wir uns nun an fast jedem freien Wochenende in Troisdorf oder Siegburg. So hatten wir uns wieder einmal an einem schönen Sommer-Sonntag in Troisdorf getroffen. Ich hatte Übernachtung in Siegburg. Bei einem abendlichen Spaziergang war uns die Zeit irgendwie davongelaufen. Nachdem ich Rita zu ihrer Wohnung „auf der Hütte“ gebracht hatte, spurtete ich schnellstens zurück nach Troisdorf. Aber von der letzten Straßenbahn, die ich noch zu erreichen hoffte, sah ich nur noch die Schlusslichter im Dunkel der Nacht verschwinden. Ich machte mich also zur nächtlichen Stunde mutterseelenallein auf den langen Fußmarsch nach Siegburg.

Ich nahm die Zeit in Siegburg hin, wie man ein Exil hinnimmt und ich hielt ständig nach einer Möglichkeit Ausschau, wieder in die heimatlichen Gefilde zurückkehren zu können. Diese Chance ergab sich 1957 ganz plötzlich und leider aus einem traurigen Anlass. Unser allseits beliebter Schäng Rademacher war unerwartet verstorben. Seine Planstelle war nun beim Postamt in Much neu zu besetzen. Diese Neuigkeit teilte mir unser „Käptn“ Paul Müller mit, den ich zufällig am Herrenteich antraf, während ich dort auf meinen Bus nach Siegburg wartete. Er legte mir nahe, sofort bei der dortigen Personalstelle vorstellig zu werden, damit mir niemand zuvorkomme. Es gäben nämlich noch andere Bewerber für diesen Posten, wie er mir zu verstehen gab. Sofort nach meiner Ankunft in Siegburg eilte ich also ins Personal-Büro und stellte dort meinen Antrag auf Rückkehr zum Postamt in Much. Dort tat man sehr verwundert, denn ich hatte mich inzwischen hier gut eingelebt und eingearbeitet. Man hatte mich also für absehbare Zeit an meinem Arbeitsplatz fest eingeplant. Trotzdem zeigte man aber Verständnis für meine Situation und die damit zusammenhängenden Probleme des Anmarschweges. Heutzutage würde man ein solches Ansinnen wahrscheinlich mit einem Schulterzucken abtun.

Ein paar Wochen später räumte ich mein Spind, packte meine Klamotten zusammen und verabschiedete mich von meinen Siegburger Kollegen. Das gestaltete sich aber dann doch schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Viele von ihnen waren mir inzwischen sozusagen ans Herz gewachsen. Besonders in der ersten Zeit hatten sie mir mächtig unter die Arme gegriffen. Ohne die Hilfe meiner Kollegen damals wäre ich in Siegburg total aufgeschmissen gewesen. Wir waren zusammen durch dick und dünn gegangen. Manche brenzlige Situation hatten wir gemeinsam gemeistert. Wir waren zu einem richtig guten Team zusammengeschmolzen. Die beiden Jahre waren für mich nicht leicht gewesen. Besonders als „Junge vom Lande“ hat man in einer Stadt so seine Anfangsschwierigkeiten. Es waren aber in jeder Hinsicht lehrreiche Jahre für mich die ich niemals missen möchte. Nun war ich aber doch glücklich, wieder auf heimatlichem Boden arbeiten zu dürfen. Endlich konnte ich als Mensch wieder durchatmen und Anteil an meiner Umwelt nehmen.

In Much hatte sich inzwischen einiges geändert. Unser damaliger Chef Hermann Schneider war - wie man heute sagen würde - von einem „Hardliner“ abgelöst worden. Ein Junggeselle vorgrückten Alters. Von mürrischem unnahbarem Wesen hielt er alles in seiner Umgebung auf Distanz. Er wirkte im Kollegenkreis wie ein Fremdkörper. Nur wenn man ihn - was selten vorkam - in einer Mucher Kneipe einmal antraf, und er einige Gläser des von ihm bevorzugten Rotweines genossen hatte, taute er ein wenig auf und man entdeckte in seinem Wesen überraschenderweise auch ein paar menschliche Züge. Diese „philanthropischen Entgleisungen“ waren ihm allerdings anderntags eher peinlich und er versuchte, dieses Manko (wie er es wohl sah), durch ein noch strengeres Gehabe wieder wett zu machen. Man hatte ihn wohl auf Grund dieser seiner Wesenszüge bei der Oberpostdirekion für uns ausgesucht, um „diesen verlotterten Haufen in Much mal wieder auf Vordermann zu bringen“. Unser neuer Chef besaß ein schweres Motorrad mit dem er sich jedes Wochenende aus dem Staub machte. Niemand wusste wohin. Während seines Jahresurlaubes unternahm er mit seiner Maschine ausgedehnte Touren, die in nach Spanien, Italien, ja sogar bis nach Nordafrika führten, wie er einmal bei einer Flasche Rotwein durchblicken ließ. Gott sei Dank habe ich von seiner „Regentschaft“ nur noch sehr wenig mitbekommen, da ich mich zu der Zeit ja in Siegburg befand. Bei meiner Rückkehr hatte ihn bereits Josef Vollmar (ein „Mucher Jung“) als Amtsvorsteher abgelöst.

Bei den Briefträgern waren „moderne Zeiten“ eingekehrt. Inzwischen hatten sich fast alle ein Motorrad angeschafft. Diese leichten Maschinen hatten einen Hubraum von 98  ccm. Sie waren robust und praktisch. Außerdem  besaßen sie  Pedalen wie bei einem Fahrrad. Fiel der Motor einmal aus, konnte man sich mit denen fortbewegen. Mit diesen „Hermännchen“, wie man sie überall nannte, fuhren die Briefträger jetzt ihr Strecken ab. Das war selbstverständlich viel bequemer und brachte außerdem einen großen Zeitgewinn. Ich hatte mir auch bald eine „98er NSU Quick“ zugelegt und machte es nun meinen anderen Kollegen nach. All das war aber „inoffiziell“. Niemand aus den oberen Etagen von Siegburg und Köln durfte davon Wind bekommen. Das ging soweit, dass wir unsere Motorräder außerhalb des Postgeländes an den umliegenden Häusern abstellten, hier die Pakete aufluden und von hier aus auch starteten. Das war wiederum sehr umständlich. Es sah außerdem auch reichlich lächerlich aus, wenn wir des Morgens mit einem Stapel von Paketen auf dem Arm über die Straße zu unseren Fahrzeugen marschierten. Aber Bequemlichkeit hat ja bekanntlich so seinen Preis.

Unser „guter Geist“ in jenen Jahren hieß Toni Ley. Er betrieb unterhalb des Postamtes eine kleine Reparatur-Werkstatt, in welcher er Fahrräder und Motorräder aller Art wartete und instand setzte. Hatte nun jemand der Briefträger ein Malheur an seiner Maschine, dann wurde des morgens zum Toni telefoniert. Der stand dann etwas früher auf und wenn wir  zu unserer „Rundreise“ starteten, hatte dieser meist schon alles repariert. Wir Zusteller wurden von ihm bevorzugt behandelt – im selben Maße wie der damalige Mucher Pastor Heinrich Schaaf, der wie wir, auch ein solches Vehikel besaß. Der „Leien Toni“, wie er überall genannt wurde, hatte auch eine gehörige Portion Mutterwitz mitbekommen. In den Rosenmontagszügen von Much war er jedes Jahr mit einer neuen Idee zugegen. So hatte er einmal in monatelanger, schwieriger Vorarbeit die Naben der beiden Räder eines Fahrrades mittels Verkürzen und Verlängern der Speichen um ca. zehn Zentimeter verschoben. Während seiner Fahrt im Rosenmontagszug war das nun ein ständiges auf und ab und sah zum brüllen aus. Einmal hatte der Toni dem Martin Tillmann aus Hetzenholz den spektakulären Rat gegeben, er solle doch Staufer-Fett auf sein schütteres Haupt schmieren, um damit  seinen Haarwuchs wieder anzukurbeln. Dieser tat wie befohlen und bekam prompt zu Hause die größten Schwierigkeiten mit seiner Frau über total verschmutzte Bettwäsche. Da half es ihm auch nichts als er die „weisen Ratschläge“ vom Leien Toni ins Feld führte.

Schließlich bekam man aber dann doch an höherer Stelle Wind von unseren motorisierten Bequemlichkeiten. Bald darauf wurde eine Neubemessung der einzelnen Zustellbezirke anberaumt. Es stellte sich jetzt heraus, das wir uns mit den Motorrädern auf Dauer „ins eigene Fleisch geschnitten hatten“. Diese Bemessung diente nämlich als Grundlage für alle folgenden. Mit den Jahren ergab sich ein überaus schiefes Bild, denn man berücksichtigte es nicht - oder wollte es nicht berücksichtigen, dass damals von motorisierten Zustellern ausgegangen worden war. Im Jahre 1959 hatte all das ein Ende. Zum ersten Mal sollten Autos eine Verwendung in der Landzustellung finden. Es war ein Pilotprojekt und unserem Postamt war, zusammen mit einigen andern Ämtern „die Ehre zuteil geworden“, als Vorreiter dieser Neuerung zu dienen. Erst einmal hatten wir aber noch eine wichtige Hürde zu nehmen denn niemand von uns besaß damals einen Pkw-Führerschein der Klasse III. Man schickte uns also zu diesem Zweck für 4 Wochen nach Köln in die Taccustraße um dort in Theorie und Praxis den Post-Führerschein zu erwerben.

Unser Fahrlehrer hieß Karl Füchtener. Seinen Namen und ihn werde ich stets in guter Erinnerung halten. Er war die Sanftmut in Person. Nie haben wir von ihm ein tadelndes oder sonstwie erzürntes Wort gehört, und Gründe dafür hat es dafür bestimmt genug gegeben, wenn sich, in dieser Richtung völlig unbedarfte Menschen wie wir, zum ersten Mal hinter ein Steuerrad setzen. Unsere neuen Fahrkünste probten wir in einem VW-Käfer. Der 1. Gang war nicht synchronisiert und wenn wir beim Schalten nicht die richtige Tourenzahl erwischten, krachte es fürchterlich im Getriebe. Des Morgens wurde Theorie gepaukt, ab Mittag kamen die praktischen Fahrübungen zum Zuge. Die erste Woche verbrachten wir hauptsächlich auf dem so genannten „Idiotengelände“ - ein abgelegener, ausrangierter Sportplatz. Ab der zweiten Woche starteten wir dann aber fast täglich zu ausgedehnten Fahrten in die nähere und weitere Umgebung von Köln bis hin in die Eifel und ins Oberbergische. Das waren richtig herrliche Zeiten. Unsere Gruppe bestand samt dem Fahrlehrer aus vier Leuten. Abwechselnd durfte sich jeder von uns dreien ans Steuer setzen. Fuhr man nicht selber, dann tat man gut daran, die vorbei huschenden Verkehrszeichen zu beachten und zu registrieren, denn Herr Füchtener hatte die Angewohnheit, uns ständig zu fragen: „Wie hieß das letzte Verkehrszeichen?“ In der Eifel kannte er die schönsten Winkel und die preiswertesten Gasthäuser, wo man ein deftiges und vor allem preiswertes Mittagessen für sein Geld bekam. Unsere Fahrpraxis wurde immer besser und ging kontinuierlich leichter von der Hand. Es machte inzwischen einen Riesenspaß, per Auto durch die Lande zu kutschieren. Die „heiße Phase“ begann in der letzten Woche. Stadtfahrten waren nun angesagt. Wir hielten uns jetzt überwiegend im Zentrum von Köln - rund um den Dom - auf. Natürlich war das Verkehrsaufkommen in der City damals noch wesentlich geringer als heute. Aber für uns Landbewohner ging es hier doch schon relativ hektisch zu. Die Fahrprüfung haben wir nach dieser intensiven Lernperiode dann auch alle bestanden. Das Ganze hat uns im Übrigen keinen Pfennig gekostet. Alle anstehenden Kosten übernahm die Deutsche Bundespost.

In Much erwarteten uns nun drei nagelneue, gelblakierte und mit dem Posthorn-Emblem versehenen Pkw, Marke Westfalia. Ein Mittelding zwischen Personenwagen und Transporter. Speziell für die Brief- und Paketzustellung hergestellt, besaßen sie zwei große Schiebetüren und im hinteren Teil einen geräumigen Laderaum. Für unsere Bedürfnisse schienen sie recht passabel. Dass sie außerdem aber ziemlich störanfällig waren, wussten wir damals noch nicht. Oft genug kam es vor, dass wir wegen eines geplatzten Wasserschlauches oder eines anderen Defektes auf der Strecke lagen. Nachdem man irgendwo ein Telefon aufgetrieben, und die Kollegen der Postwerkstatt in Siegburg alarmiert hatte, musste man oft stundenlang warten, bis die Kollegen aus Siegburg erschienen und Hilfe brachten. In den Sommermonaten war es zwar verlorene Zeit - aber die Warterei war doch noch einigermaßen erträglich. Im Winter bei eisigen Minusgraden ein paar Stunden in der freien Landschaft herumzustehen, ist da schon etwas anderes. Wenn der Motor nicht lief, gab es natürlich auch keine Heizung.

Am Montag, den 15. Juni 1959 war endlich der große Tag. Die „hohen Herrschaften“ aus Siegburg und Köln waren selbstverständlich zur Stelle, ebenso die Presse. Je zwei Leute bekamen einen Wagen zugeteilt: Paul Müller mit Willi Kraus, Theo Fuhrbach mit Willi Sicking sowie Albert Flüg und ich. Albert und ich sind die folgenden zehn Jahre durchgehend als Team zusammen geblieben. Im Zuge dieser Motorisierung war der Bereich Marienfeld nun mit einbezogen worden. Auch Teile von Bröleck (ehemals Felderhoferbrücke) mussten wir nun mit versorgen. Das hieß: Von den 6 Landzustellern in 3 Zustellbezirken wurde das gesamte Gemeindegebiet von Much postalisch versorgt.

Die „Partnerwahl“ - wenn man so will - hatte sich irgendwie ergeben. Albert und ich waren damals die beiden Jüngsten im Kreis der Briefträger. Mehr oder weniger auf Drängen von Albert war unsere Partnerschaft zustande gekommen. Er war knapp 6 Jahre älter als ich und hatte auch schon einige Jahre Fahrpraxis, denn er besaß ein „Bügeleisen“. So nannte man humorvoll einen Pkw auf drei Rädern. Das Auto lief zum vorderen Antriebsrat, mit dem man auch lenkte, spitz zu und hatte recht große Ähnlichkeit mit einem überdimensionalen Bügeleisen. Diese Art Fahrzeuge waren damals öfters auf den Straßen anzutreffen. Als älterer von uns beiden nahm Albert, besonders in den ersten Jahren unserer gemeinsamen Tätigkeit, eine eher dominierende Rolle ein. Da ich noch nicht so sicher im Autofahren war, fiel auch der weitaus größte Teil des täglichen Fahrpensums an ihn. Ich hatte als mehr an „Fußarbeit“ zu bewältigen. Das war mir anfangs auch ganz recht - später recht lästig und wir haben diese Aufteilung mit der Zeit immer weiter angepasst.

Willi Kraus war von Siegburg zu uns gewechselt weil ihm das Leben als autofahrender Landzusteller mehr zusagte als in einer Stadt wie Siegburg Briefträger zu spielen. Er fuhr also mit unserem „Käpt“ Paul. Das war insoweit günstig für Willi, weil auch sein Heimatort Reinshagen in diesem neuen Bezirk lag. Für Willi Sicking, der von der Poststelle Bröleck zu uns nach Much gekommen war, blieb also noch Theo Fuhrbach als Arbeitspartner übrig. Etwas Gegensätzlicheres als diese beiden hätte man sich wohl kaum vorstellen können. Theo - ein Mann von schlichtem, gutmütigem Wesen (wenn er nicht zu sehr gereizt wurde), besaß Bärenkräfte, was man seiner vierschrötigen Figur durchaus ansah. Er hatte im letzten Weltkrieg zwei Finger seiner linken Hand verloren. Mit den zwei übrig gebliebenen Fingern nebst Daumen konnte er aber ganz schön zukneifen was ich oft am eigenen Leib erfahren habe. Theo war kein sehr redegewandter Mensch und er drückte sich manchmal recht drollig aus. Es dauerte lange, bis man ihn „auf die Palme gebracht hatte“ - aber dann konnte es auch gewaltig krachen. Willi Sicking war der Philosoph in unserem Kreis. Er stammte aus dem westlichen Münsterland und er war, wie diesem Menschenschlag allgemein eigen ist, von schwerblütiges Wesen. Geprägt durch die großbäuerlichen Güter seiner Heimat und deren, aus Tradition und Besitztum resultierneder Dominanz - Willi stammte aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen - waren ihm Menschen aus diesen so genannten Oberschichten suspekt. Er hatte während seiner Jugendzeit - aus einfachen Verhältnissen stammend - wohl schlechte Erfahrungen mit den Münsterländer Landjunkern gemacht. Daher war seine Beziehung zum Bauernstand leicht gestört. Willi Sicking konnte aber gut mit Pferden umgehen und er ritt wie der Teufel, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. So machte er beim großen Erntezug in Bruchhausen / Röttgen jahrelang den „Meldereiter“. (Es gab damals ja noch keine Handys, mit denen man sich auf der langen Zugstrecke hätte verständigen können). Seine weltanschaulichen Äußerungen waren durchdacht und tiefschürfend auch wenn die meisten von uns nicht immer begriffen, was er nun damit sagen wollte.

Trotz so unterschiedlicher Charaktere versuchte jeder, mit seinem neuen Arbeitspartner zu Rande zu kommen. Es gelang auch im Großen und Ganzen recht gut. Man konnte sich auf den anderen verlassen und in brenzligen Situationen hielt man zusammen wie Pech und Schwefel. Absolute Ehrlichkeit in Gelddingen war bei der Post sowieso kein Thema und selbstverständlich. Das hielt sich übrigens bei allen Postämtern so und war oberstes Gebot. Es ging die Denkweise, dass man einen Geldschein unbesorgt tagelang an der gleichen Stelle liegenlassen konnte. Keiner hätte sich seiner bemächtigt. Ein Kugelschreiber dagegen hätte an gleicher Stelle nur ein paar Minuten „überlebt“.

Unser anfänglicher Enthusiasmus für unsere neuen Fortbewegungsmöglichkeiten schwand verhältnismäßig rasch dahin. Wir bemerkten sehr bald, was hier auf uns zu gekommen war. Da waren als erstes diese riesigen Zustellbezirke mit einer täglichen Fahrstrecke um die 25 km - nicht gerechnet die vielen Fußmärsche in den einzelnen Ortschaften. Des weiteren stellte sich heraus, dass die gemeinsame Zustellung zweier Briefträgern in einem Bezirk recht problematisch war. Brauchte der eine - z. B. durch eine Ein- oder Auszahlung, längere Zeit, so musste der andere zwangsläufig auf ihn warten. Trotz der inzwischen routinierten und effektvollen Arbeitsaufteilung, waren wir durchschnittlich an die 7 bis 8 Stunden täglich unterwegs und hatten dabei ca. 30 kleinere und größere Ortschaften mit Post zu versorgen.

Albert und ich hatten den Vogel - sprich „Pechvogel“ - abgeschossen. Auch unsere Kollegen gestanden uns „neidlos“ zu, dass wir den weitaus größten Zustellbezirk erwischt hatten. Man stelle sich die Gemeinde Much als großen, runden Kuchen vor. Von diesem Kuchen hatten wir praktisch die einen Hälfte vollständig abgekriegt. Die beiden anderen Bezirke teilten sich somit die andere Hälfte. Da es unter der Rubrik „Motorisierte Landzustellung“ ja keine Erfahrungswerte gab, auf die man hätte zurückgreifen können, hatte man bei der Bemessung schlicht weg „über den Daumen gepeilt“ und dieses ungerechte Ergebnis zustande gebracht. Alles protestieren unsererseits half da nichts. Das klingt hier alles reichlich bitter -  und das war es auch für uns.

Die meiste Zeit kamen Albert und ich als die Letzten von der Zustellung zurück. Wir wurden infolgedessen auch mit schöner Regelmäßigkeit vom Chef zur Rede gestellt und auch schon mal mit dem Ausdruck „lahme Enten“ bedacht. Das trug natürlich auch nicht gerade zum Frust-Abbau bei. Druck erzeugt bekanntlich Gegendruck und so sank unsere Bereitschaft, zur positiven Integration mit der Belegschaft so ziemlich auf den Nullpunkt. Zwischen Josef Vollmar - unserem damaligen Chef auf der einen Seite, und Albert mit mir auf der anderen, herrschte vielfach ein gespanntes Verhältnis bis zur totalen „Funkstille“. Dazu kam noch, das Josefs eher konservativen Betrachtungsweise der Dinge nicht mit meiner jugendlich-progressieven Denkweise überein kam und so rasselten wir naturgemäß oftmals aneinander. Doch mit zunehmendem Alter und nach einem gewissen Reifungsprozess meinerseits wird man bedächtiger, sieht vieles in einem anderen Licht, wird bescheidener in seinem Anspruch, die Welt rigoros und möglichst im Alleingang verändern zu wollen. So wurden schließlich und mit der Zeit auch die Verhaltensweisen zwischen uns beiden auf ein normales menschliches Miteinander begradigt.

In den Wintermonaten stellten Schnee und Glatteis nun eine zusätzliche Herausforderung für uns dar. Da musste so manches Mal der Traktor eines hilfsbereiten Bauern ran, um uns aus einem Graben zu ziehen, in den wir mal wieder abgerutscht waren. Um die Bodenhaftigkeit der Reifen bei den schneeglatten Straßen zu erhöhen, hatten wir einen großen Postsack mit Straßensplitt gefüllt und in den Laderaum unseres Wagens gewuchtet. Das erwies sich als sehr effektiv und äußerst nützlich, wenn es steil bergan ging. Kam man aber einmal von der Fahrbahn ab, dann gab es auch kein halten mehr und das schwere Gewicht des Sackes zog uns unweigerlich in den Graben. Glücklicherweise ist uns aber nie ein größeres Malheur zugestoßen. Spezielle Winterreifen, wie sie heute gang und gäbe sind, waren damals - jedenfalls bei der Post - noch eine Rarität. Irgendwann bekamen wir einen Satz Schneeketten zugeteilt. Durch unser abwechslungsreiches Fahren auf Schneewegen und blankem Asphalt wurde deren Lebensdauer aber naturgemäß stark eingeschränkt. Wenn es mal wieder unter dem Kotflügel „flapp-flapp“ machte, dann war das für uns das Signal, wieder eine gerissenen Schneekette zu reparieren. Fluchend und schimpfend kletterten wir aus dem Wagen und machten uns daran, mit blau gefrorenen Fingern die geborstenen Ketten mittels so genannter „Notschachteln“ wieder aneinander zu flicken. Noch gut in Erinnerung ist mir jener Januartag Anfang der 80er Jahre. Das Thermometer zeigte am Morgen um die 18° minus. Ich glaube, diese Minusgrade sind hier bei uns später nie wieder erreicht worden. Wir hatten Pakete und Briefpost in unseren Wagen verstaut und wollten starten. Die Batterien gaben „ihr Letztes“, denn mangels Garagen hatten die Vehikel ja die ganze kalte Nacht über auf dem Posthof „genächtigt“. Aber die Kisten wollten partout nicht anspringen. Auch ein herbeigerufener Automechaniker aus der Werkstatt Ley in Much wusste keinen Rat. Also mussten wir die Postwerkstatt in Siegburg mobilisieren. Und das dauerte. Schließlich hatten wir die Kollegen in Siegburg gerade beim zweiten Frühstück erwischt und bei dieser „heiligen Handlung“ ließen sie sich nur sehr ungern stören. Wir saßen dagegen alle auf heißen Kohlen. Endlich waren sie da. Franz Berthé, ein Mann „mit Moos auf den Schultern“, hatte während des Russlandfeldzuges und seiner Jahre in sibirischer Gefangenschaft seine Erfahrungen mit Dieselfahrzeugen im Winter. Er riet uns, erst mal ein kleines Feuerchen unter dem Motorblock zu entfachen. Der Dieselkraftstoff sei - wie er uns erklärte - bei diesen eisigen Temperaturen „geliert“, also dickflüssig geworden. Die Aktion brachte tatsächlich Erfolg und wir konnten endlich losfahren.

Bei solchem und ähnlichem war man aber doch froh, einen Kollegen als Partner an der Seite zu wissen. Die Zustellfahrt wurde nie langweilig. Man tauschte sich aus und lachte gemeinsam. Mit Fröhlichkeit und Humor lässt sich ja so manche schwierige Situation meistern. Es verging kein Tag, an dem wir nicht ein paar Mal herzhaft gelacht hätten. Zwischen Albert und mir hat es übrigens in den ganzen 10 Jahren unseres gemeinsamen Fahrens nie ein hartes Wort gegeben. Natürlich gab es hin und wieder Meinungsverschiedenheiten. Die wurden dann aber auf „diplomatischem Wege“  und mit dem nötigen Feingefühl gelöst. Man war ja schließlich aufeinander angewiesen. Ich selbst bin von meiner Natur her stets ein sehr harmoniebedürftiger Mensch gewesen. Mit jemand im Streit leben und arbeiten zu müssen, wäre für mich der blanke Horror gewesen. Vom ersten Tage an haben wir auch unser Trinkgeld zusammengelegt. Das wurde dann am Wochenende geteilt und es kam immer ein erkleckliches Sümmchen zusammen. Wir nannten diese Prozedur: „Aschenbecher leeren“. Die Trinkgelder deponierten wie nämlich die Woche über im Bordascher unseres Pkw. Obwohl ich mich - leider Gottes - inzwischen dem unseligen Laster des Rauchens zugewandt hatte, wurde dieser Aschenbecher von mir nie benutzt. Am 8. Februar 1974 (für mich ein historischer Tag) habe ich auf der Toilette des Mucher Postamtes die letzte Zigarette meines Lebens geraucht und von diesem Zeitpunkt an auch nie wieder einen Glimmstengel angefasst. Niemand aus meiner näheren Umgebung konnte damals meinen Schritt nachvollziehen. Den  Zeitpunkt meines Tabakverzichtes hatte ich aber auch denkbar ungünstig gewählt denn wir befanden uns momentan in der „heißen Phase“ des Karneval wo bekanntlich Alkohol und Nikotin eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Während meiner „Entwöhnungszeit“ habe ich übrigens noch wochenlange ein Päckchen Zigaretten samt Feuerzeug stets griffbereit mit mir herumgeschleppt. Sollte die Gier nach Nikotin zu groß für mich werden, so hätte ich mich schnellstens bedienen können - so dachte ich. Aber ich blieb eisern. Kollegen, Vereinskameraden und natürlich meine Familie hatten allerdings in dieser Zeit unter meiner plötzlich aufgetretenen, und vorher nie gekannten Aggressivität einiges durchzustehen. Meine Nerven lagen blank und ich konnte mich „aus dem Stand“ über jede Fliege an der Wand aufregen - und das tat ich dann auch. Das Essen schmeckte mir jetzt aber immer besser und ich hatte auch ständig Hungergefühle. Aber alle diese Nebenwirkungen normalisierten sich mit der Zeit wieder.

Doch zurück zur Post. Nach längerer Zeit des täglichen Umganges und der gemeinsam zu verrichtenden Arbeit kannte man seinen Arbeitspartner langsam in- und auswendig. Man kam sich irgendwie vor wie ein altes Ehepaar, welches jahrelang gemeinsam durch dick und dünn gegangen ist. Jedenfalls war das der Fall bei Albert und mir. Wir teilten unsere Sorgen und Nöte, diskutierten unsere jeweiligen Probleme und kannten uns schließlich - wie Albert einmal treffend erwähnte - besser, als unsere eigenen Frauen zu Haus. An Albert war aber auch unstreitbar ein äußerst effektiver und kompetenter Handelsmann verloren gegangen. Im „Nebenberuf“ betätigte er sich in dieser Sparte wiederholt - und immer mit Gewinn. Wenn ich wieder einmal länger auf ihn warten musste, hatte Albert mal gerade so nebenbei irgendeinem Bauern eine Kuh abgehandelt. Er verstand etwas davon. Das wichtigste, was einen Handelsmann damaliger Zeit ausmachte - erklärte er mir einmal -man musste ein Stück Vieh gewichtsmäßig richtig einschätzen. Diese Kunst beherrschte Albert aus dem Effeff. Er schätzte z. B. das Gewicht einer Kuh bis auf ein paar Kilogramm genau ein. Für mich war es immer wieder köstlich und amüsant, wenn ich die Gelegenheit hatte, ihm bei solch einer Handels-Aktion zuschauen und zuhören zu können. Ein gut zustande gebrachter Handel wurde dann auch meistens nach Dienstschluss im Gasthaus Miebach kräftig begossen.

Das „Hotel Miebach“ besaß eine alte Tradition und befand sich schon lange im Familienbesitz. Damals wurde das Gasthaus geführt von der unverheirateten Hanni Miebach. Wenn der Ausdruck fiel: „Mer joon nom Hanni“ (wir gehen zur Hanni), dann wusste jeder Bescheid, wo man sein Bier trinken wollte. Das Gasthaus Miebach war für die Briefträger das Stammlokal schlechthin. Albert und ich trafen uns ein paar Mal die Woche nach Dienstschluss auf ein Bier. Es diente für uns damals auch dem aufgestauten „Frustabbau“. Als dann die Wirtin Hanni Miebach ihr Lokal aus Altersgründen einem Pächter übergab, wechselte unsere Stammkneipe zur „Reichensteiner Mühle“, etwas südlich von Much, im Wahnbachtal gelegen. Hier „herrschten“ die drei unverheirateten Geschwister Ludwig. Zwei von ihnen kamen in späteren Jahren doch noch unter die Haube. Eine von ihnen, die Agnes heiratete jenen Küster, Organisten und Chorleiter von Kreuzkapelle - Heinz Straßfeld - über den im letzten Kapitel noch einiges zu berichten ist. Hier kam es bald am Wochenende nach Dienstschluss zum regelrechten „Postlertreffen“. Das wurde mit der Zeit zur Gepflogenheit. Überdies gesellten sich da noch die beiden Mucher Dorfpolizisten, die hiesigen Straßenwärter, der Bezirks-Schornsteinfeger und noch mehrere andere bekannten Gesichter dazu. Wenn einer aus dieser Runde einmal fehlte, fiel das gleich auf und man fragte, ob er wohl krank oder sonst wie verhindert sei. Es war eine wirklich lustige Truppe, die da Woche für Woche zusammenkam. Heinz Straßfeld stand hinter der Theke - die sonst seine Frau Agnes innehatte. Er ließ dafür seinen gewohnten Mittagsschlaf ausfallen. Heinz war nicht nur ein großer Meister im Witze erzählen, sondern er wusste auch sonstwie immer seine Gäste mit munteren Geschichten zu unterhalten.

Das Thema „Alkohol am Steuer“ war zu der Zeit im Straßenverkehr noch nicht Gegenstand besonderer Beachtung. Spezielle Alkoholkontrollen gab es so gut wie keine in jenen Jahren. Man achtete halt selber darauf, dass der „Durstpegel“ nicht allzu sehr überschritten wurde. Das änderte sich aber in den 60er Jahren blitzartig und rigoros. Man hörte nun immer öfter davon, dass Kontrollen in dieser Richtung durchgeführt wurden. Ich ließ mich leichtsinnigerweise noch nicht groß davon beeindrucken, bis ich an jenem denkwürdigen Wochenende aus purem Zufall einer solchen Kontrolle entging. Daraufhin war bei mir aber schlagartig „der Groschen gefallen“. Ab sofort habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, wenn ich mit meinem Auto unterwegs war. Damit hatte dann auch das wöchentliche Treffen  in der Reichensteiner Mühle für mich und manchen anderen ein jähes Ende gefunden.

Nach 10jährigem, ständigem Bemühen um eine bessere und gerechtere Aufteilung der Zustellbezirke und einer damit verbundenen erträglicheren Lage war man schließlich im Jahre 1969 an höherer Stelle wohl zu der Erkenntnis gekommen, das die Besetzung eines Fahrzeuges mit zwei Zustellern dann doch nicht „das Gelbe vom Ei sei“. Zumal diese Arbeitsweise meines Wissens von keinem anderen Amt übernommen worden war. Nach einer komplizierten und langatmigen Neubemessung wurden nun aus den 3 alten Zustellbezirken 6 neue geschaffen und mit je einem Zusteller „bestückt“. Ich erhielt den Bezirk, in welchem sich auch mein Wohnort Oberholz befand. Das war nun für mich ein Glücksfall. Dieser Umstand kam selbstverständlich auch ein wenig auf mein Drängen hin zustande. Nun erreichte ich morgens so zwischen 10 und 11.00 Uhr meine Wohnung. Meine Frau hatte dann schon das zweite Frühstück vorbereitet und ich konnte, während ich es zu mir nahm, auch gleichzeitig ein wenig verschnaufen. Das war oftmals auch dringend notwendig, denn ich hatte trotz allem Glück mal wieder einen der größten Bezirke erwischt.

Ab jetzt war also jeder von uns auf sich allein gestellt. Das war erst einmal recht ungewohnt für mich, hatte aber auch - wie ich bald feststellen konnte - viele Vorteile. Die Fußmärsche innerhalb der Ortschaften hatte ein Ende. Auch die lästigen Wartezeiten auf meinen Kollegen hörten auf. Wenn ich des Morgens startete, fühlte ich mich erstmals so richtig als freier Mensch. Ab jetzt hatte mir niemand mehr dreinzureden und kein Vorgesetzter beaufsichtigte mein Tun. Die Kehrseite der Medaille sah demzufolge aber so aus, dass ich nun zu einem „fahrbaren Postamt“ avanciert war. Ich konnte mich mit niemand beraten oder irgendwelche Rücksprache nehmen. Ich hatte im jeweiligen Fall nun selbst die Verantwortung zu tragen und Entscheidungen zu fällen. Für falsch erteilte Auskünfte hatte ich allein die Konsequenz zu tragen. Meine vielschichtig erworbenen Kenntnisse in mancherlei Dienstbereichen auf mehreren Ämtern kamen mir nun zugute. So konnte ich meiner Kundschaft fast immer erschöpfende Antworten auf ihre Fragen geben - auch über Sachfragen, die nicht unbedingt zum geistigen Rüstzeug eines Landbriefträgers gehören. Etliche kleine Gefälligkeiten liefen natürlich nebenher: „Bring mir das morgen mal eben mit“ oder „besorge mir doch bitte dieses oder jenes“, usw. Ein gängiger Ausspruch von mir, nach einem so geäußerten Wunsch lautete: „Geht in Ordnung!“ – mit dem ich heute noch ab und zu konfrontiert werde, wenn ich alte Bekannte von früher der treffe.

Immer wieder war hier und da ein kurzes Gespräch fällig, was selbstverständlich auch seine Zeit in Anspruch nahm - und die war bei mir meistens knapp bemessen. Aber ich habe es nie fertig bringen können, einfach die Briefe auf den Tisch zu knallen und dann wieder zur Tür hinaus. Briefkästen am Haus waren damals noch eine Rarität und man war daher gehalten, die Post persönlich abzugeben oder unter der Tür hindurch zu schieben oder auch anderweitig zu deponieren wenn man den Empfänger nicht antraf. Das alles bedurfte eines gewissen Feingefühls. Schnell hatte man jemand verärgert oder man galt als stur, wenn man sich nicht an gewisse Regeln hielt. Natürlich passten diese Regeln nicht immer und unbedingt mit unseren Dienstanweisungen überein. Man musste hier halt jonglieren, um beiden Ansprüchen gerecht zu werden.

Mit so vielen Dinge und Sachverhalten wurde ich damals fast täglich konfrontiert: Persönliche Probleme der Menschen, Krankheiten in der Familie, Sterbefälle. All dieses belastete mich in gewisser Weise auch immer persönlich, ich trug es mit mir herum und lag abends zeitweise in meinem Bett und grübelte über ein Dilemma nach, in welchem andere steckten. Ich machte mir die Sorgen meiner Mitmenschen zu Eigen. Trotzdem bemühte ich mich immerfort, ein freundliches und fröhliches Wesen an den Tag zu legen. Das half mir selber schließlich selber auch, denn mit einem heiteren Herzen lässt sich vieles leichter verrichten. Wenn ich an die vielen positiven und anerkennenden Worte denke, die ich seit meiner Pensionierung bis heute, von meiner „alten Kundschaft“ immer wieder zu hören bekomme, wenn wir über die alten Zeiten plaudern, dann weiß ich, das ich damals mit meinem „dienstlichen Verhalten“ richtig lag. Naturgemäß kommt man mit solch einer Arbeitsweise zeitlich ins Hintertreffen und so traf ich nach der Rückkehr zum Postamt kaum noch einen Zusteller-Kollegen an, weil diese bereits ihren Dienst beendet hatten. Das war dann wiederum ziemlich frustrierend für mich.

Im Rückblick glaube ich heute, mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen zu können, dass der Auslöser meiner fast tödlichen Erkrankung auf diesen Zwiespalt zurückzuführen ist,  indem ich allen alles recht machen wollte - meinen Vorgesetzten und meinen Postkunden. Beides war natürlich auf die Dauer ein aussichtsloses Unterfangen. Entweder ich enttäuschte den einen oder ich vergrämte den anderen. Bei einer solchen Gradwanderung muss es schließlich in einer Katastrophe enden. Mein Körper hatte das schon längst erkannt und mir immer wieder Warnungen zukommen lassen, die ich aber leider nicht beachtete - oder nicht beachten wollte.

Eine völlig unbedeutende Beförderung (auf dem Papier) war der Auslöser, dass ich im Jahre 1979 zu einem anderen Dienstbereich versetzt wurde. Ab jetzt oblagen mir die Paketzustellung im Ortsbereich von Much sowie die Landzustellung in den Orten Berghausen, Vogelsangen und Wersch. Ebenso hatte die Telegramm- und Eilzustellung im Zustellbereich des Mucher Postamtes zu erledigen. Diese Änderung meiner bisherigen Tätigkeit traf mich wie einen Blitz aus heiterem Himmel. Im Stillen hatte ich natürlich immer darauf gehofft, bis zu meiner Pensionierung - die allerdings noch in weiter Ferne lag – weiterhin meinen Heimatbezirk mit Post versorgen zu können. Die Sache hätte noch hingebogen werden können, wenn unser damaliger neuer Dienststellenleiter nicht in seinem Übereifer und in Ängstlichkeit nach dem Buchstaben gehandelt hätte. (Josef Vollmar war inzwischen in den Ruhestand versetzt worden).

So begann ich also im Frühherbst des Jahres 1979 mit meiner neuen Tätigkeit. Die Paketzustellung war für mich nun wieder etwas völlig neues. Der Tag beinhaltete nun  mehr Abwechslung für mich. Die Telegrammzustellung führte mich in alle Himmelsrichtungen unserer Gemeinde. Mit der Zeit hatte ich alle Wirtschaftswege und Querverbindungen zu den einzelnen Ortschaften auskundschaftet, deren Wissen und Kenntnis sich in einer beachtlichen Zeitersparnis niederschlug.

Arztbesuche fand ich lästig und vorwiegend unnötig. Mein Wahlspruch bei kleineren und mittleren Wehwehchen: „Augen zu und durch“ - bloß nicht zum Arzt und krankschreiben lassen. Zudem war es mir auch irgendwie zuwider, dass ein Kollegen wegen meines Krankseins aus seinem Erholungs-Urlaub geholt werden musste. Leider dachten aber nicht alle wie ich. Das habe ich oft genug am eigenen Leibe erfahren müssen. Meinen wohlverdienten Urlaub wegen eines erkrankten Kollegen  ein- bis zweimal unterbrechen zu müssen, war fast schon üblich und normal. Gewöhnlich so gegen 7,00 Uhr - wenn sich in Much herausgestellt hatte, das einer aus unserer  Mannschaft fehlte - wurde ich durch das Klingeln des Telefons aus meinem Urlaubsschlaf geweckt. Hals über Kopf ging es dann zum Postamt um mit möglichst wenig Verspätung die vor mir liegenden Arbeiten zu erledigen. Das ging dann meistens soweit, dass ich in der ersten Urlaubswoche zur besagten Zeit schon von selber aufwachte, kerzengerade im Bett saß und auf einen Anruf meiner Kollegen wartete. Von „Erholungsurlaub“ konnte da allerdings kaum noch die Rede sein. Einmal jedoch hatte es mich so richtig erwischt. Es war noch dunkel, als ich in der Morgenfrühe in der Ortschaft Gerlinghausen ein Telegramm zuzustellen hatte. Schon beim Frühstück hatte ich einen bis dahin unbekannten und mir unerklärlichen Schmerz im Unterbauch und im Rücken verspürt. Meine Frau riet mir wieder einmal wie so oft bei solch einem Vorkommnis, doch lieber zum Arzt zu gehen. Dieser Vorschlag stieß aber bei mir – auch wie immer - auf taube Ohren. Als ich das Postamt erreicht hatte, waren die Schmerzen eher noch größer geworden. Mein Chef, dem ich davon mitteilte, bemerkte dazu ziemlich beiläufig, ich sähe aber auch ganz grün aus im Gesicht. Trotzdem kam es ihm aber offenbar nicht in den Sinn, mir zum Arztbesuch zu raten. Ich fuhr also los. In Gerlinghausen wurden die Schmerzen aber dann fast unerträglich. Ich dachte noch so bei mir: „Jetzt musst du also hier mutterseelenallein zu Grunde gehen. Aber urplötzlich, und fast wie durch ein Wunder waren die Schmerzen verschwunden. Nur noch ein leichter Druck war zu spüren. Nun machte ich, dass ich schleunigst zurück nach Much kam, denn die Sache schien mir doch nicht ganz geheuer. Ich ließ alles liegen und stehen und begab mich sofort zum Arzt. Der diagnostizierte ziemlich bald eine schwere Nierenkolik und er schrieb mich auf der Stelle krank. Ich versuchte noch den Einwand, ich hätte doch auf dem Posthof noch meinen voll beladenen Paketwagen stehen, und ob ich die Pakete nicht noch schnell an den Mann bringen könnte. Schließlich täte mir doch jetzt nichts mehr weh. Da wurde der Doktor aber richtig laut: „Sofort nach Hause!“ Nach einer Woche mit „viel Flüssigkeit“ sind dann noch ein paar Nierensteine bei mir locker geworden.

Als ich 1979 in die Paketzustellung versetzt wurde, geschah das im Wechsel mit unserem „Käpt“ Paul Müller, der diesen Dienst bisher innehatte. Er übernahm von jetzt an meinen Bezirk. Die Umstellung war für ihn noch problematischer als für mich. Musst er doch auf seine alten Tage wieder zurück in die beschwerliche Landzustellung. Obwohl er diesen Bezirk von früher her kannte, waren selbstverständlich inzwischen eine Menge neuer Häuser (sprich Abgabestellen) entstanden. Nun hatte er 1984 das Rentenalter erreicht und er wechselte in den wohlverdienten Ruhestand. Ich glaube, er war - außer dem damaligen Ortszusteller Hubert Kemmerling - der Einzige aus unserem Kollegenkreis, der seine Dienstzeit regulär mit dem 63. Lebensjahr beendet hat. Alle anderen Kollegen waren durch Krankheit vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden, oder waren schon verstorben, ehe sie das Rentenalter überhaupt erreichten. Ich bat nun darum, jetzt wieder in meinen früheren Bezirk wechseln zu dürfen. Diese Bitte wurde problemlos entsprochen denn die Kriterien für meinen damaligen Wechsel in die Paketzustellung waren von der Verwaltung schon seit langem aufgehoben geworden.

Inzwischen war Heinz Schmitz aus Siegburg unser neuer Chef geworden. Heinz und ich kannten uns schon aus meiner Siegburger Zeit und wir waren „per du“. Er hat es verstanden, in den Jahren seiner Amtsführung die Belegschaft des Postamtes, die sich inzwischen wesentlich verjüngt hatte, neu zu motivieren. Das viel zitierte, und nicht unwichtige Betriebsklima erlebte einen neuen Auftrieb. Es bekam wieder eine kameradschaftliche Basis. So war auch das Verhältnis Chef - Mitarbeiter. Mehrmals im Jahr feierten wir zusammen, Karneval, Geburtstage usw. Jährlich einmal starteten wir auch zu einer „Rheintour“. Dieses alles schweißt eine Mannschaft natürlich auch innerlich zusammen und lässt entstehende Differenzen vielfach schon im Keime ersticken. Natürlich wirkt sich so etwas auch auf die Qualität der Arbeit aus. Heinz Schmitz blieb bis zu seiner Pensionierung in Much und er hat mir erst kürzlich in einem Telefongespräch versichert, das er „sehr gerne zu uns in die Berge gekommen sei, und er gedenke noch oft und gerne der alten Zeiten von Much.

Nun gut, ich übernahm also im Jahre 1984 wieder meine alte Tour - mit Kaffeepause usw, versteht sich. Außer dem etwas merkwürdigen und für mich unverständlichen Verhalten einiger Hunde hatte sich eigentlich hier wenig verändert. Mit einem Großteil dieser Vierbeinern war ich damals stets „gut Freund“ gewesen. Die seit Generationen auf beiden Seiten sorgsam gepflegte Antipathie zwischen Hund und Briefträger hatte ich in jahrelangem geduldigem Bemühen durchbrochen. Doch nun irritierte mich das eigenartige Benehmen meiner damaligen Freunde doch gewaltig. Plötzlich bleckten sie bei meinem Herannahen  die Zähne und knurrten mich ganz unmissverständlich an. Zuerst dachte ich, dass sie mich nach all den Jahren wohl nicht mehr wieder erkennen würden. Als ich aber dann einen der Hundebesitzer daraufhin ansprach, erklärte dieser, mein Vorgänger hätte den Hund ständig gereizt und ihn auch schon mal mit einem Knüppel traktiert. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich die Hassos und Struppis wieder auf meiner Seite hatte und sie mir wieder schwanzwedelnd entgegen liefen.

Mein freundlicher Umgang mit den Vierbeinern zeitigte aber auch hin und wieder ihren Lohn. So könnte man folgende Story mit dem Titel: „Der Hund, dein Freund und Helfer“ titulieren. Es war in den Jahren, als Albert Flüg und ich zu zweit mit dem Auto durch die Lande fuhren. Während Albert mit unserem Wagen unterwegs war, um die Ortschaften Neuenhaus und Oberbruchhausen zu bedienen, marschierte ich zu Fuß durch Hevinghausen. Um hier zum Hause der Familie Heinrich Klein zu gelangen, musste ich zwangsläufig am Hause des Otto Kreuzer vorbei. An sich kein Problem. Wenn da nicht täglich eine äußerst aggressive - schon in die Jahre gekommene - Gans auf mich gewartet hätte. Laut schnatternd, mit ihren Flügeln schlagend und mit weit aufgerissenem, zischendem Schnabel eilte die mir entgegen, sobald sie meiner ansichtig geworden war. Für gewöhnlich bemerkten das die Kreuzers vom Küchenfenster her und scheuchten sie zurück. War das aber nicht der Fall, dann gab es für mich nur die Flucht nach vorn. Das war natürlich riskant. Ein paar Mal gelang es der Gans, sich fliegenderweise von hinten auf meine Schultern zu schwingen, wobei sie dann versuchte, mit ihrem Schnabel meinen Kopf zu traktieren. Sie ließ erst ab von ihrem schändlichen Tun, wenn ich ihr „Hoheitsgebiet“ - sprich: das Haus der Klein’s erreicht hatte. Von dort ging es ein stückwegs bergab zum Hause von Josef Kühn, einem pensionierten Postkollegen, der zeitlebens zur Bahnpost gefahren war. Er besaß einen großen schwarzen Hund. So eine Art Mischung aus Neufundländer und Schäferhund. Mit dem konnte ich es gut. Schwanzwedelnd erwartete er mich meistens oberhalb des Hauses. Ich begrüßte ihn immer freundlich mit seinem Namen, den ich aber leider vergessen habe, tätschelte sein blankes Fell, kraulte ihn hinter den Ohren - was er besonders gerne mochte - und so zogen wir gemeinsam zum Haus. Er muss nun wohl irgendwie meinen täglichen Kampf mit Kreuzers Gans mitbekommen haben. Eines Tages erwartete er mich ganz außerplanmäßig schon an Kreuzers Haus. Verwundert dachte ich noch, wieso treibt der sich hier oberhalb seines Hofraumes rum, was doch eigentlich gar nicht so seine Art war. Der Lösung des Rätsels wurde ich aber sehr bald gewahr. Wie immer startete die Gans mit lautem Getöse zum Angriff, als mein vierbeiniger Freund plötzlich laut bellend, mit fletschenden Zähnen dazwischen sprang. Der Gans wurde es ungemütlich und sie gab schleunigst Fersengeld. Das wiederholte sich nun fast täglich, bis das aggressive Federvieh bald jegliche Lust an der Sache verloren hatte.

Über das Thema Hund und Briefträger ranken sich ja überaus viele Geschichten. Ein paar davon will ich hier nicht unerwähnt lassen. Helmut Nies war auf Landzustellung unterwegs. Es war Sommer und es war heiß. Dieser Umstand spielt aber erst später eine Rolle. Jedenfalls war Helmut von einem Hund gebissen worden - und zwar in seinen „Allerwertesten“. Das war insoweit schlimm genug aber außerdem ließ das Loch in seiner Hose tiefere Einblicke zu. So konnte es also nicht weitergehen. Mit dem Fahrrad nach Haus - andere Hose anziehen - wieder zurück, da wäre der Tag fast zu Ende gewesen. Helmut wusste sich aber zu helfen. Es gab ja noch den besagten dicken, schwarzen Stoffumhang, den er als Regenschutz auf seinem Fahrrad mit sich führte. Den legte er sich nun um. Natürlich wunderten sich alle, die ihn sahen, über das unpassende Kleidungsstück bei dem strahlenden Sonnenschein. Wenn er daraufhin angesprochen wurde, meinte der Helmut jedesmal in seiner trockenen Art, ihm sei es zu kalt. Angesichts der dicken Schweißperlen, die ihm dabei übers Gesicht rannen, wollte ihm das aber verständlicherweise niemand so recht glauben.

Schweißausbrüche - diesmal war es aber der pure Angstschweiß - hatte auch der Rademachers Schäng einmal, und das kam so: Eines Tages trat er durch die unverschlossene Tür der Fischers in Oberheiden. Da er niemand im Hause vorfand, legte er die Post wie immer auf den Tisch und wandte sich zum gehen. Das wurde ihm aber nun verwehrt, denn an der Haustür stand zähnefletschend Fischers großer Schäferhund. Wie angewurzelt blieb der arme Schäng stocksteif auf der Stelle stehen. Der Hund auch. Und der registrierte jede Bewegung mit einem zusätzlichen Knurren. Nach einer Ewigkeit - es war Sommer, aber der Schäng war nicht nur temperaturmäßig von Schweiß gebadet - kamen die Fischers von der  Feldarbeit nach Haus und erlösten ihn aus seiner misslichen Lage.

Während ich das hier zu Papier bringe, fällt mir noch eine etwas anders geartete „Hundestory“ ein, die unbedingt der Nachwelt erhalten bleiben soll: In der Ortschaft Kranüchel bewirtschaftete Johann Stümper (de Stömpersch Hannes) zusammen mit seiner Frau Katharina einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb. An der Giebelseite seines Hauses befand sich ein „kontant“ gezimmerter Hundezwinger, der stets von einem - durch Stammbaum und Urkunde ausgewiesenen - reinrassigen Schäferhund „bewohnt“ war. Er war des Hannes großer Stolz und der Hund konnte ihm nicht „scharf“ genug sein. Wenn ich dem Hannes die Post brachte, habe ich mich stets mit einem flauen Gefühl im Magen an diesem Zwinger vorbei gedrückt, während das Tier drinnen heulte und tobte. Hannes stand dann stolz in der Haustür und genoss die Situation mit verschränkten Armen und einem breiten Lachen. Nicht desto trotz saßen wir anschließend in der Stube zusammen, denn der Hannes hatte immer die neuesten Nachrichten auf Lager. Auch wusste er so manche Begebenheit aus seiner Jugendzeit zu erzählen, wofür ich mich damals schon brennend interessierte. Doch zurück zu meiner Geschichte. Es war zu der Zeit, als unser „Käpt“ Paul Müller diesen Bezirk innehatte. Stolz führte der Hannes dem Paul eines Tages seinen neuen Schäferhund vor. Dessen Aggressivität war unübersehbar und sein Besitzer erging sich über ihn in wahre Lobeshymnen. „Den wirst du mir nicht wie die anderen versauen und zahm machen“ erklärte er dem Paul.

Die Wochen vergingen und Paul drehte mit dem Fahrrad seine tägliche Runde. Immer wenn er am Hundezwinger vorbeikam, ließ er dort so ganz beiläufig ein leckeres Stück Wurst fallen. Bald hatte er den Hund auf seiner Seite. Schwanzwedelnd erwartete dieser nun seinen täglichen Leckerbissen, ließ sich von Paul das Fell kraulen und streicheln. Eines Tages war der große Augenblick gekommen. Paul öffnete die Zwingertür, nahm seinen neuen Freund am Halsband und beide - Briefträger und Hund betrat in schöner Einmütigkeit die Wohnstube. Der Hannes ist - wie Paul immer wieder gern erzählt hat - vor Schreck und Staunen die Pfeife aus dem Mund gefallen. Aber des anderen Tags hatte er seinen „abtrünnigen“ Schäferhund schon durch einen neuen ersetzt.

Doch wieder zurück. Wie schon erwähnt, hatte in unserer Belegschaft ein Generationswechsel stattgefunden. Plötzlich – so kam es mir jedenfalls vor -  gehörte ich „zu den Alten“. Der überwiegende Teil war wesentlich jünger als ich. Ich strengte mich an um mit der Jugend Schritt zu halten. Natürlich wollte ich noch lange nicht  „zum alten Eisen“ gerechnet zu werden, aber trotz aller Mühen gelang mir das nur teilweise. Das Postaufkommen hatte inzwischen eine drastische Steigerung erfahren. Dies alles machte mir auf Dauer dann doch mehr zu schaffen als ich es mir eingestehen und wahrhaben wollte. Zum ersten Mal dachte ich ernsthaft darüber nach, wie lange ich diesen Stress wohl noch durchhalten könnte. Schließlich kam ich zu der Überzeugung, dass ich bei diesem Arbeitsaufkommen und -tempo wohl irgendwann auf der Strecke bleiben würde. War das nun der Auslöser meiner schweren Erkrankung oder vielleicht auch der tragische Tod meiner Tochter, den ich in dieser Zeit zu verarbeiten hatte - oder beides? Ich weiß es nicht. Im Frühsommer 1990 nahm ich in meinem Körper eine gewisse Veränderung wahr. Trotz meines gewohnt kräftigen Appetits machte sich bei mir ein kontinuierlicher Gewichtsverlust bemerkbar. Später stellten sich dann noch andere Probleme ein, auf die ich hier aber nicht eingehen möchte. Den Gang zum Arzt schob ich aber - getreu meiner Devise - zunächst noch weit von mir. Am 15. Oktober war dieser Weg aber unumgänglich geworden. In den letzten Wochen hatte ich alle Augenblicke die Zustellung unterbrechen müssen um eilends nach Hause zu fahren und dort die Toilette aufzusuchen. Das war auf Dauer kein Zustand mehr. Die Intervalle derartiger „Sonderfahrten“ wurden immer kürzer. Die Diagnose meines Hausarztes Dr. Betz in Marienfeld bestätigten meine geheimsten Befürchtungen: Ich hatte Darmkrebs und musst sofort ins Krankenhaus. Zunächst war ich wie betäubt. Nie ernsthaft krank gewesen und nun das! Auch als mir der Arzt größere Heilungschancen in Aussicht stellte, rechnete ich im Stillen mit dem Allerschlimmsten.

Am 29. Oktober 1990 lag ich im Waldbröler Krankenhaus auf dem Operationstisch und erhielt einen endständigen Anus praeter (einen künstlichen Darmausgang) mit dem ich seither lebe. Wenn man erst einmal mit der Materie vertraut ist, stellt die Angelegenheit dank fortgeschrittener Technik und menschlichem Erfindungsgeistes heutzutage kaum noch eine ernsthafte Schwierigkeit dar. Nach meiner Genesung hätte aber ein weiteres Verbleiben in meinem Beruf doch wesentliche Risiken und Probleme aufgeworfen. Deshalb legte man mir auch aus postärztlicher Sicht nahe, in den Ruhestand zu gehen.

Im Frühjahr 1991 begab ich mich zum Postamt in Siegburg um dort meine Entlassungsurkunde entgegen zu nehmen. Meine etwas wehmütige Stimmung wurden durch die Anwesenheit meiner beiden alten Weggefährten Peter Giershausen (als Vertreter des Personalrates) und Peter Post (derzeitiger Leiter des Siegburger Postamtes) merklich aufgehellt. Wir kannten uns seit unserer Lehrzeit was die übrigen Anwesenden in ziemliches Erstaunen versetzte. Noch erstaunter waren diese aber, als wir dann die alten Zeiten wieder aufleben ließen. „Weiß du noch?“... - Wir hatten uns ja viele Jahre nicht mehr gesehen. Ich war aber dann auch selber erstaunt, als man in meinen Personalakten blätterte und dabei feststellte, dass ich in meinen 40 Dienstjahren nur mal gerade 28 Tage vom Arzt Krank geschrieben worden war (meine letzte Krankheit natürlich nicht eingerechnet). Etliche Stunden schwelgten wir so in alten Erinnerungen. Merkwürdigerweise dachte niemand daran, auf die Uhr zu schauen. Nach manch bitteren Erfahrungen in den vergangenen Berufsjahren, mit den Dienstbehörden und innerhalb des Betriebes versöhnten  mich diese Stunden nun wieder mit allem.

Damit wäre ich jetzt am Ende dieses Kapitels angelangt. Aber es fehlt noch ein wesentlicher und für mich äußerst wichtiger Teilaspekt aus meiner Vergangenheit, nämlich meine Vereinsaktivitäten. Ohne die Darstellung dieses Lebensbereichs wären meine Aufzeichnungen absolut unvollständig. Die Vereine und Gremien waren und sind stets mit entscheidend in meiner Lebensgestaltung gewesen. Ursprünglich wollte ich diesen Stoff mit dem letzten Kapitel verbinden. Aber das wäre ein ständiges hin und her gewesen denn Beruf und Freizeit - alles lief ja parallel. Also habe ich mich entschlossen, in einem letzten Kapitel diesen Teil meines Lebens auch noch zu Papier zu bringen.

Viele Begebenheiten mussten im letzten Kapitel unerwähnt bleiben, weil mich einerseits mein Diensteid zur Verschwiegenheit verpflichtet und weil es mir andererseits widerstrebt, Dinge auszuplaudern, die irgendwelche lebende oder tote Zeitgenossen in ein schiefes Licht rücken könnten. Außerdem würden derlei Einzelheiten für die Mehrheit der Leser sowieso auf wenig Interesse stoßen.

Auch wenn es sich in meinem Bericht manchmal etwas bitter anhören könnte, so habe ich meinen Beruf mit all seinen Licht- und Schattenseiten doch sehr geliebt. Dankbar bin ich dafür, das es mir durch meine Tätigkeit vergönnt war, so viele Menschen kennen zu lernen und Freundschaften zu schließen - was mir in diesem Umfang an anderer Stelle wohl nie möglich gewesen wäre. Ich habe stets gerne mit Menschen geredet und ich habe auch immer versucht, Freude und Fröhlichkeit mit ihnen zu teilen. Bis heute! Menschen sind nämlich etwas Wunderbares!

 

 

 

 

 

 

6. Die Vereine

Wenn ich in den vorangegangenen Kapiteln meinen Lebensweg im Elternhaus, in Schule und Beruf beleuchtet habe, so ist das nur die eine Seite der Medaille. Anfang der 50er Jahre - also mit dem Einstieg ins Berufsleben eröffneten sich für mich völlig neue Perspektiven. Mit dem Beitritt in verschiedene hiesige Vereine tat sich für mich eine neue Welt auf die mich von Anfang an faszinierte und begeisterte. Und das ist bis heute so geblieben.

Die Schule mit ihren - für mich jedenfalls - endlos langweiligen Unterrichtsstunden hatte ich at acta gelegt. Sie hatten mir wenig gebracht. Außer den Elementarfächern war der ganze Unterrichtsstoff  in meinem Gehirn zu einem unentwirrbaren Knäuel aus Geburts- und Ereignisdaten, Hauptstädtenamen und Ländergrößen, Niederschlagsmengen, Erzeugnisvolumen, Bruchrechnungsergebnissen und Kreisberechnungen. Das überaus interessante Hintergrundwissen über geschichtliche Personen und Ereignisse, über Zusammenhänge in Mathematik und Natur usw. war kaum oder auch gar nicht zur Sprache gekommen. Man hatte uns den Beginn des 30jährigen Krieges eingepaukt, ohne die vielschichtigen Tatsachen zu erwähnen, die ihn ausgelöst hatten. Wir konnten Brüche mit sich selbst malnehmen und mit dem Lehrsatz des Pythagoras Kreisberechnungen anstellen, ohne das man es auch nur ansatzweise erwähnt hätte, dass die Pyramidenbauer dieses alles auch schon gekannt hatten. Aber vielleicht waren unsere Lehrer damals mit diesen Tatsachen auch überfordert. Das alles sprengte - zugegebenermaßen – wahrscheinlich auch den Lehrplan einer damaligen Volks- oder Elementarschule. Mich persönlich hätte das alles aber wahrscheinlich aus meiner Reserve gelockt. So erwartete mich nun aber in den späteren Jahren das überaus große Vergnügen, mir alle diese - für mich hochinteressanten Dinge - mit heißen Ohren in Büchern anzulesen. Mein Mittun in der Schule hielt sich also in Grenzen. Daraus resultierte natürlich auch mein soziales Verhalten gegenüber den Klassenkameraden. Bei den wenigen sportlichen Aktivitäten (sprich Völkerball, Schlagball, Fußball), die auf unserem kleinen Schulhof abgehalten wurden, ließ ich mich am liebsten zum Punkteaufschreiben einteilen oder versuchte wenigstens, beim Mitspielen nicht in vorderster Linie eingesetzt zu werden. Ich war der Mann im Hintergrund und wurde schließlich vielfach von den meisten Mitschülern auch so behandelt. Das war mir anfangs auch ganz recht so. Erst später bemerkte ich, dass ich mich auf dem besten Weg befand, neben dem wahren Leben herzulaufen.

Als dann im letzten Halbjahr der Abschlussklasse unser damaliger Lehrer Ferdinand Saueressig (ein Pädagoge von hohem Rang und seiner Zeit weit voraus) mit uns völlig neue Wege der Unterrichtsgestaltung ging - wie im vorigen Kapitel beschrieben - taute ich langsam auf und freute mich zum ersten Mal in meinem jungen Leben auf den nächsten Schultag. Aber kaum hatten wir uns mit Begeisterung in neue Projekte gestürzt, war die Herrlichkeit auch schon wieder vorbei - Schulentlassung!

Wie schon erwähnt, hatte ich inzwischen damit begonnen, dem Leiter unserer Pfarrbücherei (sie hieß damals noch „Borromäusbücherei“) Heinrich Franken bei der sonntäglichen Buchentleiharbeit zur Hand zu gehen. Da ich selber von klein auf ein begeisterter Leser war, machte mir diese Arbeit riesigen Spaß, zumal ich mich dort, sozusagen an der Quelle, stets mit genügendem Lesevorrat für die Woche versorgen konnte.

Heinrich Franken bewohnte mit seiner Frau die alte Schule in Kreuzkapelle. Diese Schule war im Jahre 1861 erbaut worden und sie wurde am 30. Januar 1929 wegen Baufälligkeit für den Schulbetrieb geschlossen. Sie diente aber weiterhin für verschiedene Familien als Wohnhaus, wenn auch die Räumlichkeiten durch die Aufteilung der ehemaligen Klassenzimmer etwas groß und ungemütlich wirkten. Für die Familie Franken aber wohl gerade richtig, denn Heinrich Franken nannte eine große Kinderschar sein eigen. Er war ein tiefreligiöser Mann und er wäre in jungen Jahren gerne Priester geworden, aber da hatte er - wie er uns einmal vertraulich mitteilte - seine spätere Frau kennen gelernt. Beruflich war er bei der Gemeindeverwaltung in Much beschäftigt.

Als ich ihn kennen lernte, trug er sich gerade mit dem Plan, hier in Kreuzkapelle eine Blaskapelle zu gründen. Er hatte früher selber in einem solchen Verein das Tenorhorn geblasen, besaß aber außer den normalen Notenkenntnissen keine besonderen musikalischen Vorgaben. Einige musikalisch interessierte Leute hatte er schon zusammen gebracht und er musizierte schon allwöchentlich mit ihnen. Nun fehlte ihm, wie er mir eines Sonntags während der Buchausleihe eröffnete, eine Klarinette. Und er fragte mich, ob ich wohl Interesse hätte, ein solches Instrument zu erlernen.

Mit Musik hatte ich bis dato, außer etwas Gitarrengeklimper, welches mir mein Vater auf seiner alten Gitarre beigebracht hatte, so gut wie nichts am Hute. Ein Blasinstrument, speziell eine Klarinette kannte ich nur vom Hörensagen oder von Bildern. Heinrich Franken muss mich wohl damals ziemlich bedrängt haben, denn schließlich machte ich mich auf die Suche nach besagtem Instrument. In Siegburg gab es in der oberen Luisenstraße einen kleinen Musikladen. Er führte hauptsächlich gebrauchte Instrumente. Neue Exemplare waren 6 Jahre nach Kriegsende auch noch ziemlich rar und dazu finanziell fast unerschwinglich. Nun gut. Ich erstand dort also eine gebrauchte Klarinette. Ich glaube, sie kostete 108.00 DM. Das war für mich ein stolzer Preis bei meinem geringen Monatslohn von 40.00 DM. Doch das Schlimmste kam erst noch auf mich zu. Nachdem ich mir mittels einer Grifftabelle die ersten Töne beigebracht hatte, erschien ich bald auf der Probe um nun gemeinsam mit den anderen musizieren zu lernen. Die Gruppe bestand inzwischen aus einem Dutzend Leuten, alle in meinem Alter. Wir kannten uns natürlich von klein auf. Ein Teil von ihnen hatte mit mir in der Schule Oberhausen die Schulbank gedrückt. Der andere Teil stammte aus dem Schulbezirk Kreuzkapelle. Die historischen Rivalitäten der beiden Schulbezirke waren hier aber plötzlich gegenstandslos geworden. Bald waren wir zu einer kleinen, verschworenen Gemeinschaft geworden.

Beim ersten Zusammenspiel stellte sich nun aber alsbald heraus, das mein Instrument nicht mit den anderen harmonisierte. In den folgenden Wochen versuchte ich nun, das Mundstück mit Laubsäge und Messer zu kürzen, um die Stimmlage zu verändern, was aber nichts brachte. Was nun? Heinrich Franken fuhr mit mir zusammen zu einem Jugendfreund nach Büchel. Heinrich Ferres, so hieß er, hatte früher ebenfalls Klarinette gespielt und der stellte alsbald fest, dass es sich bei meinem Instrument um eine sogenannte „A“-Klarinette handelte. Um mit Blechblasinstrumenten mitspielen zu können, benötigte ich aber eine „B“-Klarinette. Nun war guter Rat teuer. Auf verschlungenen Wegen bekam ich schließlich eine B-Klarinette. Die musste ich aber erst einmal spielbar aufbereiten. Vom jahrelangen Herumliegen waren alle Klappen undicht und sie war - für ein Holzblasinstrument tödlich - total ausgetrocket. Mit viel Mühe und diversen Tricks machte ich sie aber wieder gangbar und nun konnte das Üben mit den anderen endlich losgehen.

Jede Woche versammelten wir uns nach Feierabend in der geräumigen Wohnstube bei Frankens in Kreuzkapelle mit unseren Instrumenten. Wenn wir ankamen, saß die Familie noch am großen Esstisch beim Abendbrot. Dann warteten wir geduldig, bis sich Herr Franken (wir sprachen ihn alle so an) sich zu uns setzte und mit uns zu üben begann. Vorher wurde aber noch „vom Tisch“ gebetet. Das dauerte dann so an die 10 Minuten und weil wir nun schon mal da waren, beteten wir natürlich mit. Auf die Dauer wurde uns das aber doch ziemlich langweilig und wir verfielen auf einen Trick: Bei unserer Ankunft schlichen wir uns erst einmal in Hausnähe und sandten dann einen „Spion“ die Treppe hoch. Der sollte dann auf leisen Sohlen ausforschen, wie weit die Frankens mit ihrem   Abendbrot waren. Eines Abends war ich wieder einmal an der Reihe. Auf Zehenspitzen schlich ich mich die alte, knarrende Treppe hoch um an der Tür zu lauschen. Plötzlich öffnete sich dieselbe, Herr Franken stand in voller Lebensgröße vor mir. Als er mich sah, lud er mich auch gleich freundlich mit den Worten ein, einzutreten: „Oh, Eckhard, da bist du ja schon. Dann komm schon mal herein, wir wollten gerade noch beten“.  Die anderen haben sich damals kugelig gelacht, als ich ihnen davon erzählte.

Mit einer Engelsgeduld saß der Franken Hein dann oft stundenlang neben uns, und brachte uns in mühevoller Kleinarbeit die erforderlichen Kenntnisse bei. Nach nunmehr 40jähriger Mitgliedschaft im Bläsercorps Much (davon später) habe ich heute einen Begriff dafür bekommen, welche „Heidenarbeit“ das für ihn gewesen sein muss. Wir ehemaligen Volksschüler hatten weder Notenkenntnisse noch im Entferntesten eine Ahnung „vom Tuten und Blasen“. In den späteren Jahren verlegten wir unsere Proben ins damalige Pfarrsälchen, welches unter Pfarrer Joseph Ferbes im Jahre 1928/29 als Anbau ans damalige Pfarrhaus errichtet wurde. (Erster Spatenstich am 20. August 1928. Einweihung am 8. Februar 1929). Hier war übrigens auch die Borromäus-Bücherei untergebracht. Nach ein paar Stunden Quäl-Arbeit (für beide Seiten) entließ uns Herr Franken, nicht ohne uns ein paar saftige Übungsstücke mit auf den Heimweg zu geben. Der Heimweg war ein Kapitel für sich. Für uns alle war damals das Fahrrad unser Standard-Fortbewegungsmittel schlechthin. Erst einige Jahre später wurde dann der eine oder andere von uns glücklicher Besitzer eines so genannten „Hermännchens“ - einem Leichtmotorrad mit 98 qbcm Hubraum.

Wenn wir also nach der Probe nichts anderes vorhatten - was übrigens sehr selten vorkam - schwangen wir uns auf unsere Räder und machten uns in verschiedene Richtungen auf den Heimweg. Der Großteil von uns, wozu auch ich gehörte, fuhr Richtung Wohlfarth, wo sich dann unsere Wege endgültig trennten. Unser „Schohmächer“ Hermann Josef Müller und Bruno Müller, beide aus Bennrath, nahmen oft einen Umweg in Kauf, um an der Kreuzung in Wohlfarth noch ein wenig zusammen mit uns zu tratschen. Hermann Josef war ein begnadeter Witze-Erzähler. Die konnte er stundenlang gekonnt zum Besten geben. Er schüttelte sie einfach so aus dem Ärmel. Da standen wir also zur nächtlichen Stunde an unsere Fahrräder gelehnt und bogen uns vor Lachen. Für die schlafenden Anwohner muss das wohl gar nicht so lustig gewesen sein, denn mehr als einmal öffnete sich beim Hasen Düres das Schlafzimmerfenster und eine erboste Stimme klang durch die Nacht: „Maht öch heem, ühr Saujongen, mir wellen schloofen!“ Ein Kneipenbesuch stand bei uns in diesen Jahren noch gar nicht zur Debatte. Einerseits fehlte es natürlich am nötigen „Kleingeld“. Andererseits lag uns auch (noch) nicht soviel daran, dem edlen Gerstenbräu zuzusprechen. Im Übrigen waren die Gastwirtschaften in den 50er Jahren hauptsächlich von der älteren Generation bevölkert, die uns „Rotznasen“ sowieso auch als solche behandelt hätten.

Dem Hasen Düres haben wir übrigens einmal einen ziemlich gemeinen Schabernack gespielt. Es war Winterzeit. Der Mond schien kalt vom sternenbedeckten Himmel als wir unsere Fahrräder durch den verschneiten Waldweg, den („Krützer Bösch“) hoch Richtung Wohlfarth schoben. Hier besaß Theo Haas an einem Steilhang eine Waldparzelle. Meine zukünftige Schwiegermutter (die ich damals natürlich noch nicht kannte), und im Hause Haas eine kleine Wohnung gemietet hatte, war letzten Herbst sehr fleißig gewesen und sie hatte an besagtem Hang dem Theo einen ganzen Berg „Schanzen“ gemacht.

Diese so genannten Schanzen wurden aus dem Reisigabfall hergestellt, der bei Abholzungen liegen geblieben war. Man suchte sich zu Beginn des Unternehmens einen passenden Baumstumpf, der als „Hauklotz“ herhalten sollte und kürzte die dünnen Reisig-Äste auf Meterlänge. Mittels einer gedrehten Haselnussgerte oder mitgebrachter geflochtener Strohbändel wurde das Ganze zu handlichen Bündeln (Schanzen) verschnürt. Diese Schanzen dienten dann vornehmlich zum Anheizen von Backöfen. Das dürre, und gut brennbare Schanzenholz wurde natürlich auch zum Anzünden der Herde und Öfen im Hause benutzt. So war es allenthalben üblich, zur Herbst- und Winterzeit, wenn die Arbeit in Hof und Feld ruhte, sich in den Wald zu begeben um dort „Schanzen zu machen“.

Nun gut. Besagte Schanzen lagen jetzt also hier, fein säuberlich aufeinander gestapelt, am Wegrand, zur Abholung bereit. Irgendeiner von uns hatte nun die absurde Idee, diese Schanzen wieder - den steilen Hang hinunter - an ihren Ursprungsort zu verfrachten. Gesagt, getan! Schnell wurde eine Kette gebildet, und „im Schweiße unseres Angesichts“ transportierten wir die Reisigbündel wieder den Berg hinunter. Müde und abgekämpft, aber völlig zufrieden mit unserem Werk setzten wir unseren Heimweg fort um bald in den Schlaf der (Un)Gerechten zu fallen.

Am folgenden Tag, ich war soeben von der Arbeit nach Hause gekommen, klopfte es ans Küchenfenster. Ein Riesenschreck fuhr mir in die Glieder als ich dort in Lebensgröße den Hasen Düres stehen sah. Bleich und zitternd öffnete ich das Fenster. Der Düres war aber sehr kommod und zuckersüß wollte er wissen, ob wir denn gestern Abend Probe gehabt hätten und wer von uns beim Heimweg denn den Waldweg genommen hätte. Das könnte ich beim besten Willen nicht sagen, log ich frisch drauflos. Ich persönlich sei jedenfalls wegen des tiefen Schnees „obenherum“ (über die Landstraße) nach Hause gelangt. Scheinheilig brachte ich es dann sogar noch fertig, zu fragen, warum er das den eigentlich wissen wollte. Darauf schilderte er die mir bestens bekannten Umstände, wobei er am Schluss nicht vergaß, zu erwähnen, das er mir eine solche Untat selbstverständlich nicht zutraue. Schwer erleichtert, schloss ich das Fenster. Ein paar Wochen später hat er dann doch wohl die volle Wahrheit mitbekommen und ich machte fürderhin einen großen Bogen um den Theo, wenn ich seiner ansichtig wurde.

In den Sommermonaten waren nach Probenende bei uns auch die so genannten „Geländespiele“ sehr beliebt. Wie schon erwähnt, wurden sie während unserer Schulzeit als Turnstundenersatz von den Lehrern anberaumt und von uns auch begeistert angenommen. Wir kannten für diese Spiel nur die Ausdrucksweise: „Räuber und Schanditz“ (Räuber und Gendarm). Hierbei wurden einige Leute als „Räuber“ deklariert. Diese verkrümelten sich nun im Gelände. Nachdem man ihnen einen gewissen Vorsprung gelassen hatte, begaben sich die „Gendarmen“ auf die Suche nach ihnen, um sie wieder „einzufangen“.

Nach der Probe ging es also los. Nachdem unsere Räuber Unterschlupf bezogen hatten, machten wir uns auf die Suche. Ich erinnere mich noch lebhaft an jenen Sommerabend. Die Uhr war schon weit vorgerückt. Inzwischen war es stockdunkel geworden und wir Gendarmen waren immer noch auf der Suche. Es fehlten uns noch ein paar Leute. Sie mussten sich auf dem Gelände unserer Pfarrkirche befinden, aber wo?  Ihre Stimmen glaubten wir aus dem Kirchenkeller vernommen zu haben, dann schollen sie auf einmal aus dem nahen Wald. Durch die Kellerfenster hatten wir mittels unserer Taschenlampen einen guten Einblick in den Raum, aber der war leer. Wir standen vor einem Rätsel und machten uns schließlich unverrichteter Dinge auf den Heimweg. Beim der nächsten Probeabend wurde dann das Geheimnis gelüftet. Den Heizungskeller unserer Kirche konnte man von außen über eine Treppe erreichen. Der Eingang bestand aus einer eisernen Doppeltür. Sie war an jenem Abend unverschlossen und unsere Räuber hatten sich, wenn Gefahr im Verzuge war, dicht gedrängt zwischen den beiden Türblättern versteckt. War die Gefahr vorbei, betraten sie den Keller wieder und ließen ihre Stimmen laut durch die Kellerfenster schallen. Durch den Widerhall kam es uns nun so vor, als ob sie sich im Waldgelände befänden.

Es war wieder einmal ein warmer Sommerabend. Viel zu schön, um nach der Probe schon den Heimweg anzutreten. Was war zu tun? Da kam uns die rettende Idee. Peter Stümper aus Kranüchel war an diesem Abend nicht erschienen. Das musste natürlich „geahndet“ werden. Also auf nach Kranüchel. Im Schutze der Dunkelheit schlichen wir uns zum Hause unseres schlafenden Kameraden. Vor seinem Haus befand sich das Backes, überdacht mit den damals üblichen Hohlziegeln. Vorsichtig kletterten einige von uns aufs niedrige Dach und - „durch der Hände lange Kette“ legten wir die „Pannen“ alle nacheinander fein säuberlich ausgebreitet und akkurat nebeneinander auf die Wiese. Noch heute wird beim erzählen dieser Strorry im Kameradenkreis deutlich unterstrichen, das bei diesem Unternehmen keine einzige Dachziegel zu Bruch gegangen ist.

Am anderen Morgen packte mich die Neugier. Auf dem Weg zur Arbeit machte ich mit meinem Fahrrad einen kleinen Umweg und radelte wie zufällig am Hause unseres Peter vorbei. Ganz entgeistert, und fast an ein Wunder glaubend, sah ich nun, das alle Dachziegel sich wieder auf ihrem angestammten Platz befanden. Immer wieder an meinem Wahrnehmungsvermögen zweifelnd, verbrachte ich den Tag. Einigen anderen von uns, welche die gleiche Neugier gepackt hatte, erging es ähnlich. Des Rätsels Lösung:  Peter hatte wohl doch noch nicht geschlafen. Er hatte uns kommen hören und sich dann vom oberen Schlafzimmerfenster aus genüsslich unsere Attacke  betrachtet. Nachdem wir dann abgezogen waren, hatte er seinen Vater informiert und die beiden hatten das Backes noch in derselben Nacht wieder eingedeckt. Es bleibt dahingestellt, wer wohl mehr gelacht hat - wir über den Peter oder der Peter über unseren dummen Gesichter.

Unsere kleine Bläsergruppe bestand inzwischen aus gut einem Dutzend Leuten. Wir nannten uns fortan stolz „das Bläsercorps Kreuzkapelle“. Nun konnten wir es langsam wagen, unsere „Kunst“ in der Öffentlichkeit darzustellen. Die ersten Auftritte bewegten sich im kirchlichen Raum, bei Prozessionen, Festzügen des Schützenvereins, bei den Martinszügen, bei Totengedenken usw.  

Unsere Pfarrgemeinde besaß in jenen Jahren - wie die meisten anderen Pfarreien - auch einen Kirchenchor. Er nannte sich aber vorzugsweise „Quartett-Verein“ Kreuzkapelle, was von den übrigen Kirchenchören oft bemängelt wurde. Ebenfalls gab es noch den Damenchor Kreuzkapelle. Beide sangen unter der Stabführung von Heinz Strassfeld. Natürlich traten sie bei vielen kirchlichen und weltlichen Anlässen gemeinsam auf und bildeten als Gemischter Chor einen vorzüglichen und effektiven Klangkörper. Die meisten Männer des Chores - im Denken ihrer Zeit verhaftet - erzkonservativ, lagen altersmäßig zehn bis zwanzig Jahre über unseren Jahrgängen. Bisher „alleinige Herrscher“ auf musikalischem Gebiet in unserer Pfarrgemeinde, sahen sie in unserer neu entstandenen Bläsergruppe nun wohl so eine Art Konkurrenzunternehmen. Anstatt nun eine Zusammenarbeit mit uns anzustreben, die sich bestimmt in mancher Hinsicht gedeihlich und ersprießlich auf das kulturelle Leben in unserer Gemeinde ausgewirkt hätte, versuchte man nun, uns bei allen möglichen Gelegenheiten „Knüppel zwischen die Beine zu werfen“. Man bedachte unsere - zugegebenermaßen alles andere als perfekte Darbietungen - mit hämischen Kommentaren. Das alles erzeugte naturgemäß eine gewisse Frustration in unseren Reihen, schweißte unsere Gruppe aber noch stärker zusammen. Es dauerte lange, bis wir uns endlich eine gewisse Daseinsberechtigung und einen Platz im Pfarrleben und in der Öffentlichkeit erkämpft hatten.

Mitte der 50er Jahre wurden einige von uns, darunter auch ich, Mitglieder in selbigem Quartett-Verein Kreuzkapelle. Es war eine Glanzzeit dieser beiden Chorgemeinschaften. Gemeinsam brachten wir Musikstücke zur Aufführung, die heute noch bei allen, die damals mit dabei waren, Begeisterung hervorrufen, wenn jene Zeit zur Sprache kommt. Viele solcher Vorträge wurden von Kunibert Müller am Klavier oder an der Orgel begleitet. Er hatte die Musikalität seines Vater geerbt. Willy Müller aus Bennrath, (genannt „Wöff“) war damals Küster und Organist in Kreuzkapelle. Er viel im 2. Weltkrieg am 22. Oktober 1942 in Stalingrad im Alter von 34 Jahren. Die Pfarrgemeinde verlor mit ihm nicht nur einen begabten Musiker und Organisten sondern auch einen fröhlichen Menschen, der mit sehr viel Mutterwitz und Humor ausgestattet war und  von dem noch heute viele vergnügliche Geschichten kursieren.

Doch zurück zum Quartett-Verein. Bei einigen Gesangsstücken wurde sogar ein kleines Streichorchester engagiert. Es handelte sich dabei um die damals sehr bekannte „Kapelle Wirges“ aus Much. So führten wir einmal während der Christmette in unserer Pfarrkirche zu Kreuzkapelle die bekannte „Missa brevis in C Dur“ auf, die so genannte „Spatzenmesse“. Sie hatte diesen Spitznamen erhalten, weil sich eine Passage der Streicher im „Benedictus“ unverkennbar als das typische Zwitschern von Spatzen anhört. Dicht gedrängt standen wir fast da zwei Stunden lang - vor uns die Leute vom Orchester, auf der engen Orgelempore. Das wärmte ein wenig, denn die Kirche war damals natürlich nicht beheizt und es war an den Wintertagen oft empfindlich kalt, zumal die hohen Glasfenster zu beiden Seiten nicht dicht schlossen und wir deshalb ständig mit „Frischluft“ versorgt wurden. Trotzdem war es ein für alle die wir dabei waren, ein einmaliges Erlebnis. Ich selber denke noch oft an jene Christmette zurück.

Trotz aller Begeisterung für den Chorgesang fühlten meine Kameraden und ich in uns in gewisser Weise als „Fremdkörper“ in diesem Verein. Gegenüber den verknöcherten Denkstrukturen der älteren Mitglieder waren wir von der jüngeren Generation mit unseren Ar:gumenten oftmals machtlos. Immer wieder bekamen wir zu hören: „Dafür seid ihr noch zu jung, um da mitreden oder mit entscheiden zu können“ oder: „Dafür seid ihr noch nicht lange genug im Verein“. Ja es fiel schon mal der schizophrene Ausdruck:  „Ihr habt ja noch nichts erlebt, werdet erst mal Soldat“. Damals reifte in mir der feste Vorsatz: sollte ich jemals im Vorstand irgendeines Vereins tätig werden, so würde ich an allererster Stelle dafür kämpfen, dass alle Mitglieder ohne Ansehen des Alters - ob 14 oder 84 Jahre - oder ob der Länge ihrer Vereinszugehörigkeit, mit den gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet sein würden. Im Nachhinein kann ich nun mit großer Befriedigung feststellen, dass ich diesen Vorsatz im Verlauf meines langen Vereinslebens immer konsequent in die Tat umgesetzt habe. Es ließ also logischerweise nicht allzu lange auf sich warten, bis wir langsam aber sicher die Lust verloren, hier noch aktiv mitzumachen. Bei mir war der Zeitpunkt gekommen, dem Quartett-Verein Kreuzkapelle den Rücken zu kehren, als sich der MGV Wohlfarth nach einer mehrjährigen „Durststrecke“ - bedingt durch Mitgliederschwund - anschickte, sich wieder neu zu formieren. Doch davon später. -

Am Ostersonntag 1949 trafen sich die Schützen von St. Johannes Kreuzkapelle, um nach Kriegsende zum ersten Mal wieder ihren Schützenkönig zu ermitteln. Martin Knödler hieß der Glückliche, welcher den Vogel mittels einer Armbrust von der Stange holte. (Das Schießen mit einem Gewehr war damals noch von der alliierten Militärregierung verboten). Bei den folgenden Marschwegen zum Gottesdienst und Festsaal war es Martin musikalisch zu still. Fortan trug er sich mit dem Gedanken, einen Musikzug (Tambourcorps) ins Leben zu rufen. In den beiden Brüdern Hermann und Jean Knecht - auch Mitglieder des Schützenvereins fand er tatkräftige Unterstützung. Alsbald fanden sich 15 Burschen aus Kreuzkapelle und Umgebung bereit, in einem Tambourcorps mitzuwirken.

Die Schreinerwerkstatt  von Heinrich Overrödder, der Kuhstall von Hermann Knecht und die Wohnstube von Heinrich Franken dienten fortan als Proberaum. Die eine Gruppe übte bei Heinrich Franken das Querflötenspiel und die zweite Gruppe bei Jean Knecht den Umgang mit der Wirbeltrommel. Zum Schützenfest 1950 zog den Schützen zum ersten Mal ein eigenes Tambourcorps voraus. Tambourmajor war von Anfang an Josef Overrödder aus Kreuzkapelle. Anfang der 50er Jahre brachte mich Willi Söntgerath - er war auch schon einige Jahre Mitglied im Schützenverein - auf die Idee, dem Tambourcorps Kreuzkapelle beizutreten. Ich hatte zu der Zeit schon mit dem Erlernen des Klarinettenspiels begonnen, und so bedeutete mir das Notenlesen kaum noch Schwierigkeiten. Im stillen Kämmerlein paukte ich nun fleißig auf meiner Holz-Querflöte Marschmusikstücke. Bald durfte ich bei meinen Kameraden vom Spielmannszug mitmachen und wurde damit nicht nur Mitglied des Tambourcops sondern (wie wir alle) auch gleichzeitig Mitglied im Schützenverein Kreuzkapelle. Obwohl ich inzwischen der Blasmusik zugetan war - und mit großer Begeisterung bis heute geblieben bin - auch in Männerchören viele Jahre der edlen Sangeskunst gehuldigt habe, möchte ich behaupten, das meine 20jährige Mitgliedschaft im Tambourcorps Kreuzkapelle zu den schönsten gehören.

Das Wort „Kameradschaft“ stand bei uns an erster Stelle. „Einer für alle, alle für einen“ war ein ungeschriebenes Gesetz bei uns. Unser „Boss“ Bruno Koppen hielt die Truppe auf Disziplin und Pünktlichkeit - mit eiserner Hand. Er hatte - und hat bis heute - die seltene Gabe, die Leute lautstark an ihre Pflichten zu erinnern, um dann anschließend freundschaftlich seine Hand auf die „geknickte Schulter“ zu legen. Dabei war unser „Tambourhannes“, wie der Dirigent eines Spielmannszuges in Tambourkreisen stets genannt wird, nämlich unser Josef Overrödder eine wahre Seele von Mensch. In all den Jahren habe ich nie von ihm ein hartes Wort oder einen Tadel gehört. Selbst bei einem größeren Schnitzer unsererseits, brachte er es nicht fertig, zu schimpfen. Ein vorwurfsvoller Blick oder der Satz: „Das hättest du aber auch anders machen können!“ war alles, was ihm über die Lippen kam. Seine größte Freude hatte er, wenn er uns mit den neuesten Witzen zum Lachen bringen konnte. Und darin war er großartig. Besonders lagen ihm die verschiedenen Dialekte von der Waterkant bis nach Bayern und Sachsen, die er perfekt beherrschte. Zur Karnevalszeit war er ein begehrter Büttenredner in den Sälen. Sein Vater Heinrich,  er war Hauptmann im 1. Weltkrieg gewesen, hatte es zuwege gebracht, das Josef  eine so genannte „Ordensburg“ besuchen durfte. In diesen Ordensburgen - vom damaligen Nazi-Regime hervorgebracht - wurden ausgesuchte Jugendliche im Knabenalter zusammengezogen, dort besonders geschult und nach Vorstellung der damaligen Machthaber zu einer „Elite“ heran gezüchtet. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges machte dem Elite-Dasein für Josef aber ein jähes Ende, denn er wurde in jungen Jahren zum Kriegsdienst eingezogen. Was an positivem aus diesen Jahren bei ihm haften geblieben war, kam uns nun zugute. In mühevoller Kleinarbeit brachte er uns den nötigen „Schliff“ bei, welcher für das äußere Erscheinungsbild eines Tambourcorps unabdingbar ist. Jeden Sonntagmorgen nach dem Gottesdienst übte er mit uns stundenlang auf der Wahnbachtalstraße das marschieren im Gleichschritt. Ebenfalls brachte er uns die verschiedenen Kommandos nahe, alles ein wenig militärisch, aber wir machten begeistert mit. Wenn wir dann nach erfolgten Trainingsstunden vor unserem Vereinslokal, dem Gasthaus Herrenteich Aufstellung nahmen und dort den „Hohenfriedberger Marsch“ intonierten, erschien der Vereinswirt Gerhard Schwamborn mit einer Flasche Korn vor der Tür. Der „Hohenfriedberger“ war nämlich sein Lieblingsmarsch und das wussten wir natürlich.

Die so genannten Eckpunkte unserer jährlichen Auftritte bildeten - außer dem Schützenfest in Kreuzkapelle - die Erntedankfeste in Wohlfarth (später in Birrenbachshöhe), in Much, Wellerscheid, Markelsbach und Bruchhausen / Röttgen. In Markelsbach und Röttgen gehörten wir über 20 Jahre zu festen Bestand der dortigen Erntezüge. Die Kirmes in Kreuzkapelle bzw. das Schützenfest hatte seinen Vorläufer am Ostermontag. An diesem Tagwurde am Schießstand des vereinseigenen Schützenhauses beim Königsschießen der neue Schützenkönig ermittelt. Die Jungschützen bzw. das Tambourcorps schoss an diesem Tag ebenfalls den Prinzen aus. Im Jahre 1958 schaffte auch ich den „Goldenen Schuss“ und avancierte zum Schützenprinzen. Ich erinnere mich noch gut an den Morgen der Krönung. Zusammen mit meiner zukünftigen Frau Rita, dem neuen Königspaar Josef und Maria Merten aus Bennrath und dem gesamten Hofstaat saß ich am Ehrentisch auf der Bühne im Saal des Gasthauses Herrenteich, wo damals das Schützenfest stattfand. Den ganzen Festverlauf erlebte ich mehr oder weniger schemenhaft. Es plagten mich an diesem Morgen unsägliche Zahnschmerzen. Ich brauchte deshalb meine ganze Energie und Konzentration, um mir meine Qualen nicht anmerken zu lassen.

Der Festverlauf besaß seinen traditionellen Rahmen. Am Samstagabend fand der große Schützenball statt. Für uns „Knöppelchesjongen“, wie man die Mitglieder des Tambourcorps auch scherzhaft nannte, die Gelegenheit,  um mit den Mädchen und natürlich auch mit dem Alkohol Bekanntschaft zu machen. Unser „Stammplatz“ befand sich damals auf der - dem Saal parallel verlaufenden Kegelbahn. Sie war durch diverse Öffnungen und einen Durchgang mit dem Festsaal verbunden. Dieser Durchgang stellte für uns gewissermaßen die „Startrampe“ dar. Wenn die Tanzkapelle einsetzte, spurteten wir von hier aus in alle Richtungen, um möglichst vor den anderen Konkurrenten am Platz unserer Auserwählten zu sein und um diese dann zum Tanz aufzufordern. Hatte man Pech hatte, standen plötzlich zwei oder drei Bewerber am Tisch der Holden. Das Mädchen hatte nun die Qual der Wahl. Die Verlierer taten nun gut daran, sich schleunigst nach einem Ersatz umzuschauen, wobei man manchmal auch auf eine weniger attraktive Erscheinung zurückgreifen musste. Denn kehrte man solo an seinen Platz zurück, war das recht blamabel und die Kommentare der lieben Kameraden ließen auch nicht lange auf sich warten. Hatte man nun eine holde Maid erobert, so tat man gut daran, sich bei ihr den nächsten Tanz reservieren zu lassen. Tanzte man mehrere Mal hintereinander mit demselben Mädchen, wussten die anderen bereits – aha - da tut sich was und es scheint ernst zu werden mit den Beiden. Dann galt ein ungeschriebenes Gesetz bei uns: Finger davon – die Dame gehört jetzt einem anderen. Allerdings gab es auch da Ausnahmen und nicht alle hielten sich an diese Spielregeln. Nach einigen Tänzen konnte man es riskieren, die Standardfrage des Abends zu stellen: „Darf ich dich (oder Sie) nach Hause begleiten?“ Bekam man eine zustimmende Antwort, konnte man dem Rest des Abends gelassen entgegensehen. Hatte man vorher allerdings nicht genügend recherchiert, dann konnte es auch passieren, dass einem auch schon mal ein längerer Weg bevorstand. Als Belohnung gab es am Ende der „Heemschleef“ einen Kuss - und das war es dann auch. Das Fahrrad, welches man bis hierher geschoben hatte, konnte man nun wieder besteigen und durch die Nacht - oder auch durch die anbrechende Morgendämmerung Richtung Heimat strampeln. Hatte sich aber auf dem Heimweg eine gewisse beiderseitige Sympathie erkennen lassen, dann wurde sich für den folgenden Sonntag oder den nächsten Tanzabend verabredet. Nun hatte man eine Woche Zeit, sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Bestanden Zweifel, dann ließ man die Verabredung platzen. Das kam sowohl bei dem Jungen als auch beim Mädchen vor. Traf man sich aber weiter und hatte aneinander Gefallen gefunden, war ein festes Verhältnis vorprogrammiert. Es war damals in den allermeisten Fällen üblich, dass man nun zusammenblieb. Wenn alles planmäßig bei den beiden verlief, dann folgte irgendwann Verlobung und Hochzeit.

Wir vom Tambourcorps hatten da allerdings einen größeren „Spielraum“ als die Mädchen unseres Alters. Auch bei einem so genannten „festen Verhältnis“ gab es, bedingt durch unsere Auftritte im Nahbereich, für uns immer wieder Gelegenheiten, sich nach etwas passenderem umzusehen, was dann auch von einigen gehörig ausgenutzt wurde. Als ich meine spätere Frau Rita kennen gelernt hatte, bot sich mir infolgedessen auch so manche Gelegenheit des Abwägens. Aber alle weiblichen Wesen hielten dem Vergleich mit ihr nicht stand.

Doch zurück zum Schützenfest. Der Sonntagmorgen begann für unser Tambourcorps in aller Herrgottsfrühe mit dem „Wecken“ des neuen Schützenkönigs. Um Punkt 6.00 Uhr war Treffpunkt am Herrenteich. Das war schon ziemlich hart, denn für die meisten von uns hatte infolge des vorabendlichen Tanzvergnügens die Schlafperiode nur ein paar Stunden gedauert. Erschwerend kam noch das übliche Quantum Bier hinzu, welches wir in froher Runde konsumiert hatten. Mein größtes Problem bestand damals darin, pünktlich wach zu werden. Auf meine Vater konnte - und wollte - ich mich auch nicht verlassen. Der schlief in den „oberen Gemächern“ den Schlaf der Gerechten. Und wenn der einmal schlief, dann konnte man ihn mit dem Bett davontragen, ohne dass er es bemerkt hätte. Also musste ich mir selber helfen. Ich stellte z. B. den Wecker in einen tiefen Teller. Das sollte den Klang der Klingel verstärken und tat es in gewisser Weise auch. Schließlich bin ich meines Wissens stets pünktlich - wenn auch oft mit halb geschlossenen Augen - und im allerletzten Augenblick auf meinem Fahrrad an der Sammelstelle angekommen. Das war Ehrensache. Wenn jemand zu spät kam, und waren es auch nur 30 Sekunden, dann wurde der Unglückliche unnachgiebig zur Zahlung eines „Stiefel“ verdonnert. Dieser Stiefel ist ein gläsernes Trinkgefäß in Stiefelform. Es fasst mehrere Liter Bier. Man trinkt ihn reihum bis er leer ist. Das Trinken eines solchen Stiefels unterliegt bestimmter Regel. Falls man dieser Art zu trinken unkundig ist, und man ihn in die falsche Richtung dreht, kann es durchaus passieren, dass einem eine saftige Ladung Bier ins Gesicht schwappt. Hat man eine Regel verletzt, oder hat man als Vorletzter! aus Selbigem getrunken, dann hat man beim Wirt einen neuen zu bestellen. Traditionsgemäß wurden die fällig gewordenen Stiefel am Morgen des Kirmesmontag nach dem gemeinsamen Kirchgang im Saale Herrenteich verkonsumiert. Die Sache bekam aber mit der Zeit Ausmaße, die unseren, für später vorgesehenen Auftritt im Festsaal immer problematischer werden ließen. Das wurde unserem Vereinswirt Gerhard Schwamborn – der auch gleichzeitig Vorsitzender unseres Schützenvereins war - endlich zu bunt, und er beförderte unseren heiß geliebten Stiefel mit einem gut gezielten Wurf, vor unseren entgeisterten Augen im hohen Bogen in den nahen Herrenteich. Wir nicht faul, kauften uns daraufhin sofort an der Kirmesbude, die allerlei Krimskrams feilbot, einen bunt bemalten Blecheimer, wie ihn die Kinder im Sandkasten benutzen. Wir zweckentfremdeten ihn nun kurzerhand und ließen ihn klammheimlich an der Theke mit Bier füllen. Beim trinken erklang dann lautstark unser Song: „Wir wollen unseren alten Stiefel wieder haben“. Im kommenden Jahr hatten wir wieder einen neuen Stiefel.

Am Abend des Kirmesmontag besuchten uns traditionsgemäß die Schützen von Siegburg-Zange mit denen wir ein partnerschaftliches Verhältnis unterhielten. In ihrer Mitte auch immer ihr legendärer Präses, Kaplan Tönnis, ein sprachgewaltiger und trinkfester Mann. Sein berühmter Standardwitz vom „Klugen Küster“ tat er jedesmal von der Bühne aus zum Besten geben. Wir Kreuzkapeller Schützen starteten dann einige Wochen später ebenfallszum Gegenbesuch nach Siegburg. Für uns natürlich ein willkommener Anlass, nicht nur in der Kreisstadt unser spielerisches Können unter Beweis zu stellen sondern, und vor allem, das „schöne Geschlecht“ dort in der Kreisstadt etwas näher unter die Lupe zu nehmen.

Mitte August begann der Ernteverein Markelsbach mit dem Reigen der hiesigen Erntedankfeste. Wie immer schwangen wir uns am frühen Sonntagmorgen auf unsere Fahrräder und starteten nach Markelsbach. Das Fahrrad war Anfang der 50er Jahre unser Fortbewegungsmittel schlechthin. Motorräder kamen bei uns erst viel später in Gebrauch. Allerdings besaß unser Tambourhannes Josef Overrödder einen kleinen Lieferwagen. Die Ladefläche war mit einer Plane überdacht. Es war ein so genanntes „Dreirad“. Bei uns hatte es wegen seiner Form den Spitznamen „Bügeleisen“ erhalten. Bei weiten Anmarschwegen diente uns das Bügeleisen oftmals als willkommenes Transportmittel. In Markelsbach nun angekommen, formierte sich der Festzug und wir marschierten mit Musik hinauf zur Kirche in Hetzenholz. Nach dem Gottesdienst begaben sich alle ins nahe Gasthaus Fischer zu einem zünftigen Frühschoppen. Bei schönem Wetter konnte man sich auch im dortigen Biergarten niederlassen. Anschließend zog dann die ganze lustige Gesellschaft, mehr oder weniger im Gleichschritt wieder hinunter nach Markelsbach.

Da wir mit unseren Fahrrädern unmöglich in der kurzen Zeitspanne, die uns bis zum Abmarsch des Erntefestzuges am frühen Nachmittag blieb, nach Hause hätte radeln können, wurden wir auf die einzelnen Mitglieder des Erntevereins aufgeteilt. Bei unseren Gasteltern erwartete uns dann ein deftiges festliches Mittagessen bei welchem wir natürlich kräftig zulangten. Ich war jahrelang Gast bei der Familie Paul Knipp in Bitzen. Ich fühlte mich dort inzwischen wie zu Hause und ich freute mich jedes Mal auf  den dortigen Festschmaus.

Nach dem Festzug nutzen wir natürlich die Gelegenheit, um mal wieder kräftig das Tanzbein zu schwingen. Da gab es ein bildhübsches Mädchen, welches immer von einem ganzen Schwarm Verehrer - auch aus unseren Reihen - umgeben war. Irgendwie bin ich an jenem bewussten Abend als Sieger hervorgegangen und ich durfte sie nach Hause begleiten. Auf halbem Wege kam uns plötzlich ganz aufgeregt ihr Vater entgegen. Der hatte sich aufgemacht, um seinen minderjährigen Sohn zu suchen, der schon lange „überfällig“ war, denn es war schon recht spät geworden. Wohl oder übel, machten wir beide kehrt und wanderten zurück zum Festzelt. Hier fanden wir ihn auch – sturzbetrunken.  Mit vereinten Kräften transportierten wir ihn den Berg hoch und lieferten ihn zu Hause ab. Damit war der Abend, der so viel versprechend für mich begonnen hatte, natürlich gelaufen.

Das Tambourcorps Kreuzkapelle besaß damals einen ausgezeichneten Ruf. Überall wo wir auftraten waren wir unbestreitbar die Attraktion. Heute ist das fast unvorstellbar. Aber wir waren ja im weiten Umfeld konkurrenzlos. Außerdem stellten wir in unserer Schützenuniform mit weißer Schirmmütze, und zum Teil noch behangen mit diversen „Orden und Ehrenzeichen“ (beim Königsschießen erworben), etwas Besonderes dar. Wir wurden bejubelt und beklatscht, selbst wenn die Qualität unserer Darbietungen durch den unvermeidlichen Bierkonsum im Vorfeld etwas gelitten hatte, was auch schon einmal vorkam.

Für Jugendliche und junge Erwachsene gab es damals hier auf dem Lande naturgemäß wenig oder gar keine Möglichkeit der individuellen Freizeitgestaltung. Ab und zu besuchte man das kleine Kino in Much. Hier sahen wir die ersten Wildwestfilme mit ihren unbesiegbaren Helden, die wir natürlich alle namentlich kannten. Oder wir lachten uns krumm und schief über die unsagbaren Abenteuer von Dick und Doof. Aber damit hatte unsere Freizeitgestaltung auch schon ihr Ende gefunden. Infolgedessen waren wir als Mitglieder des Tambourcorps in einer sehr glücklichen Lage. Wöchentlich hatten wir unseren Probeabend. Ein Teil von uns war ja auch inzwischen Mitglied im Bläsercorps Kreuzkapelle geworden. So entstand eine Kameradschaft, die wohl für heutige Jugendliche sehr schwer nachvollziehbar ist. Wenn nun in den späteren Jahren der Hochzeitstag eines Kameraden gefeiert wurde, so war das ein Fest für unseren ganzen Verein. Besonders der vorangehende „Hilich“ wurde von uns kräftig mitgefeiert. Die inzwischen leider Gottes aus den Städten aufs Land geschwappten Auswüchse heutiger Polterabende mit tonnenweise abgeladenem Schutt und diversen Büroabfällen waren bei uns total unbekannt. Wir sahen unsere vornehmliche Aufgabe darin, mit lauten Böllerschüssen „den Abend zu verschönern“. Natürlich wurde sich in der Nachbarschaft über den nächtlichen Lärm nie beschwert und es wäre natürlich damals auch niemand auf die Idee gekommen, die Ordnungshüter auf den Plan zu rufen.

Es gab da verschiedene Möglichkeiten zum Erzielen von  Knalleffekten. Am gebräuchlichsten war eine ausrangierte Milchkanne. Sie wurde mit Karbid und Wasser „geladen“ und das ergab eine hochexplosive Mischung. Die Öffnung vorne wurde mit einem dicken Holzpfropfen zugekeilt. Am Boden der Kanne war ein kleines Loch gebohrt. Daran hielt man nun eine brennende Lunte worauf der Deckel sich mit einem lauten Knall geschoßartig von der Kanne löste. Das ging sporadisch die ganze Nacht durch. Zwischendurch wurden natürlich immer wieder die durstigen Kehlen geschmiert. Ich denke da zum Beispiel an jenen Abend, als Peter Stümper mit seiner Anneliese auf dem Schwermshof  ihren Hilich hatten. Nachdem wir unsere Milchkanne „in Stellung“ gebracht hatten, nahmen wir die Seitenwand der nahen Fachwerkscheune ins Visier. Nach intensivem Beschuss hatten wir auch bald ein Lehmgefach aus dem Balkengefüge herausgeschossen. Danach war es  allerdings jedesmal eine Tortur, den Holzpfropfen bei totaler Dunkelheit im Gerümpel der alten Scheune wieder zu finden. Jeder mag sich selber ausmalen, wie unsere Hände und Gesichter - einschließlich unserer Klamotten - am Ende aussahen.

In den späteren Jahren machten wir es „auf die feine Art“. Wir engagierten uns Alois Kleu aus Huvermühle. Er war Besitzer mehrerer Steinbrüche und er besaß die Lizenz eines Sprengmeisters. In sicherer Entfernung brachte er Dynamitpatronen zur Explosion. Das war zwar nicht ganz legal, aber gegen unsere „Knall-Qualität“ kam kein anderes „Schießkommando“ an. Diese Sache nahm jedoch ein jähes Ende, als in Marienfeld bei der Hilich von Günter und Hedwig Overrödder ein Schuss nicht losgegangen war. Wir suchten die halbe Nacht an dem Blindgänger bis wir ihn endlich fanden. Danach war uns aber die Lust an diesem gefährlichen Spiel für immer vergangen. Natürlich wurde auf einer solchen Hilich auch ausgiebigen Schabernack getrieben. Das bewegte sich aber alles in harmlosem Bereich. Es gehörte halt dazu. Niemand regte sich anschließend groß auf. Die Älteren drückten bei solch jugendlichen Auswüchsen dann auch mal ein Auge zu.

Anfang der 70er Jahre kam es zu einer Reorganisation des Tambourcorps. Die meisten von unserer alten Truppe waren inzwischen aus Zeit- oder Altersgründen bereits ausgeschieden. Das erneuerte Corps nahm nun auch Mädchen in seine Reihen auf. Bald hatte die Mitgliederzahl die fünfzig überschritten. Nachdem unsere alte Mannschaft dem jungen Nachwuchs also Platz gemacht hatte, und dieser sofort mit neuem Elan zu Werke ging, standen wir „Alten“ plötzlich mit leeren Händen da. Über 25 Jahre hatten wir so manche Schlacht geschlagen, aus primitivsten Anfängen hatten wir uns emporgearbeitet. Erlebnisse, die ein mittleres Buch füllen würden, hatten uns im Laufe der vielen Jahre zusammengeschweißt. Aus Kameraden waren - in jeder Hinsicht - Freunde geworden. Die Jahre vergingen und wir trafen uns auch hin und wieder ein paar Mal, um gemeinsam mit unseren Frauen in fröhlicher Runde über alte Zeiten zu plaudern, aber dabei blieb es dann auch.

Es war beim Maifest von Borussia  Leverath am 16.Mai 1993. (Auf diesen Verein komme ich noch zu sprechen). Ich plauderte mit Mia Knödler. Sie erwähnte beiläufig, dass ihr Mann Martin - der Günder unseres Tambourcorps - im nächsten Jahr seinen 7o.Geburtstag feiern würde. Diese Mitteilung ließ mir nun in den folgenden Tagen keine Ruhe mehr. Irgendwann kam mir dann die Idee, unserem Martin mit einer kleinen Überraschung einmal für alles zu danken, was er damals in Eigeninitiative für uns bewerkstelligt hatte. Nachdem ich nun in den folgenden Wochen und Monaten mit mehreren „Ehemaligen“ Rücksprache genommen hatte, entschlossen wir uns, ihm an seinem Ehrentag in seinem Domizil in Siegburg-Kaldauen mit einem Geburtstagsständchen zu überraschen. Dazu bedurfte es allerdings einiger Probenarbeit, denn die meisten von uns hatten ihr Instrument jahrelang nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Ich schrieb also allen 24 ehemaligen Tambourcorps-Mitgliedern einen Brief. Darin lud ich sie zu einer ersten Verständigungsprobe ein. 13 Leute trafen sich an unserem ersten Probeabend - es war der 17.September 1993. Nach einer weiteren Probe am 24. des Monats befanden wir uns nach allgemeiner Meinung wieder soweit in Form, um einen Auftritt einigermaßen reibungslos über die Bühne zu bringen.

Natürlich war jeder Probeabend nebenher als Härtetest in Sachen Alkoholkonsum zu verstehen, den wir aber durch jahrelange Erfahrung mit Bravour bestanden, wenn auch die meisten von uns mit „rong Schoh“  den Heimweg antraten. Die an jenen Abenden wohl meistgebrauchte Redewendung hieß selbstverständlich: „Wisst ihr noch?“ Und viele alte Storys wurden hervor gekramt. - oft längst vergessene Anekdoten fielen uns plötzlich wieder ein. Es waren herrliche Stunden und ungläubig staunend bemerkten wir, dass wir „alten Säcke“ uns doch im Grunde überhaupt noch nicht verändert hatten.

Dann war es soweit. Es war Mittwoch, der 29.September 1993. Unter größter Geheimhaltung war alles vonstatten gegangen, und Martin hatte keinerlei Wind von der Sache bekommen. In weißem Hemd und schwarzer Hose - (unsere erste Kluft damals zur Gründungszeit), nahmen wir am Abend Aufstellung vor Martins Haus. Als unsere Instrumente erklangen, erschien er an der Tür und war wie „vom Donner gerührt.“ Unsere Überraschung war uns perfekt gelungen. In der urgemütlichen Kellerbar verbrachten wir dann ein paar fröhliche Stunden bei Bier und guter Bewirtung. Schnell war man  sich an diesem Abend darüber einig, die einmal begonnene Sache fortzusetzen.

Doch wie das Leben so spielt, - ein Termin jagt bekanntlich den andern und fast wäre das so hoffnungsvoll begonnene Werk klammheimlich wieder eingeschlafen. Doch, es sollte wohl nicht so sein. Nach einem weiteren Rundschreiben, bei dem wiederum alle Ehemalige angeschrieben wurden, trafen wir uns am Freitag, den 25.November 1994 wieder in Leverath. Als „Harter Kern“ waren 13 Leute übrig geblieben. Wir kamen an diesem Abend überein, uns in Zukunft regelmäßig im Clubheim der Borussen hier in Leverath zu treffen. Als kleine Entschädigung für unsere Benutzung des Clubraumes, so bemerkte Bruno Koppen augenzwinkernd, wünschte er sich unseren Auftritt beim kommenden Maifest in Leverath. Bei diesem Angebot waren wir natürlich hoch motiviert, schließlich galt es ja nun, erstmalig einer breiten Öffentlichkeit  unsere wieder entdeckten Spielkapazität darzustellen. Dass darauf mehrere Runden „Obstler“ gekippt wurden, sei hier nur am Rande erwähnt.

Doch zuerst sollte uns ein harter Schicksalsschlag treffen, mit dem niemand aber auch im Entferntesten gerechnet hatte. Plötzlich und für uns alle unfassbar verstarb am 27. Februar 1995 - es war der Rosenmontag, - unser Freund und Kamerad Hans Theo Demmer im Alter von 55 Jahren. Am Freitag, den 3. März geleiteten wir ihn auf dem Friedhof zu Kreuzkapelle zur letzten Ruhe. Wir spielten an seinem Grabe als letzten Gruß das Lied vom guten Kameraden.

14. Mai 1995 - Maifest in Leverath. Nach wochenlanger, intensiver Probenarbeit - (usw.) - galt es nun, unser Können unter Beweis zu stellen. Trotz stärkster Konkurrenz, der beiden Tambourchöre aus Kreuzkapelle und Wolperath) zogen wir unter der Leitung unseres neu ernannten Tambourhannes Martin die Sache durch und waren mit unseren Leistungen durchaus zufrieden. Unser Publikum ebenfalls - wie wir am begeisterten Applaus bemerkten. Der absolute Hammer aber war unser Auftritt am Kirmessonntag desselben Jahres bei der Krönung des neuen Schützenkönigs von Kreuzkapelle im dortigen Festzelt. Inzwischen hatten wir uns auch einen Vereinsnamen zugelegt. Der Name „Silberlocken brachte es bezeichnenderweise auf den Punkt. Unter diesem Namen wurden wir dann auch im Festzelt angekündigt. Das skeptisch-wohlwollende Interesse, welches unser Publikum zu Anfang unseres Spieles an den Tag legte, wich am Schluss tosenden Beifallsstürmen. Damit hatte wohl keiner von uns gerechnet.

Schon lang hatten wir uns mit dem Gedanken getragen,  uns einheitliche Klamotten anzuschaffen - (Wenn schon - denn schon!). Nach mehreren verschobenen und geplatzten  Terminen starteten wir im August 1995 zur Uniform-Schneiderei Kuhn in Bonn, um uns dort eine schicke Trachtenweste anfertigen zu lassen. Nun folgte Auftritt auf Auftritt! Ob Ehejubiläen, Pfarr- Schützen- oder andere Gemeindefeste. Natürlich die Geburtstage unserer Mitglieder - immer wieder lassen wir unsere Instrumente erklingen und ernten unter der Stabführung unseres neu ernannten Tambourhannes Hermann Wilbrand immer wieder tosenden Beifall. In regelmäßigen Abständen wird geprobt. Aber nicht nur unsere Instrumente, natürlich auch jede Menge alter Storys werden dann hervorgeholt. Einige diverse Gläschen Obstler dürfen dabei selbstverständlich  auch nicht fehlen. Zusammen lachen und fröhlich sein war ja von jeher eine unserer besonderen Stärken und daran hat sich auch bis heute noch nicht das Geringste geändert.

Doch nun will ich noch etwas über den vorhin erwähnten Verein namens „Borussia Leverath“ erzählen. Ihm gehöre ich nun auch schon über 30 Jahre an. Wie es der Name schon erahnen lässt, handelt - oder besser gesagt -  handelte es sich um einen Fußballclub. Anlässig eines gemütlichen Beisammensein der Dorfgemeinschaft Leverath im Hause von Josef Strack - man schrieb das Jahr 1968 - ergab es sich, dass man, sozusagen aus einer Bierlaune heraus, beschloss, ein Fußballspiel gegen die „Alte-Herren-Mannschaft“ des TUS Much auszutragen. Der Reinerlös des Spieles spendete man der „Aktion Sorgenkind“. Es endete übrigens mit 3 : 3 Unentschieden. Das war der Beginn „einer wunderbaren Freundschaft“, wie ich es einmal ausdrücken möchte.

Nun ging es Schlag auf Schlag. Gut zwei Drittel der neu gegründeten Fußballmannschaft rekrutierte sich aus dem Dorf Leverath. Alle waren so um die 30 Jahre alt. Der Rest kam aus den Nachbardörfern. Damals gab es neben den offiziellen, und im Deutschen Fußballbund registrierten Mannschaften, welche fast jeder Gemeinde eigen war, so genannte „Thekenmannschaften“. Diese rekrutierten sich aus fußballbegeisterte Leuten, zumeist in etwas vorgerücktem Alter. Zum Teil waren sie jahrelang fußballerisch aktiv gewesen. Man wollte noch nicht zum „alten Eisen“ gehören - auch mal gern in fröhlicher Runde ein Bierchen trinken - nach getanem Training versteht sich. Und so fand man sich in einer solchen Gruppe wieder zusammen. Thekenmannschaften gab es damals bei uns eine ganze Menge und sie waren mit den fantasievollsten Namen ausgestattet. Bald war es dann auch soweit, dass unsere „Borussen“ an fast jedem Wochenende zu einem Fußballspiel unterwegs waren. Ob man nun gewonnen oder verloren hatte - anschließend wurde immer tüchtig gefeiert. Das war ja schließlich der tiefere Sinn des Ganzen.

Im Mai 1969 startete der Club das erste Maifest in Leverath. Inzwischen war - ausgerechnet ich, der - wenn man einmal von der „Bolzerei“ auf dem Schulhof absah, noch nie im Leben größeren Ballkontakt gehabt hatte - Mitglied im Fußballclub Borussia Leverath geworden. Und das war so gekommen:

Mein Freund Bruno Koppen und ich - er hatte damals den Vorsitz im Verein übernommen und bekleidet dieses Amt bis heute – wir kannten uns vom Tambourcorps Kreuzkapelle her schon ewig und hatten gemeinsam schon so manche „Schlacht geschlagen“ um es einmal vorsichtig auszudrücken. Wir waren beide ebenfalls Mitglied im Bläsercorps Kreuzkapelle. Das Dorf Leverath war mir insofern auch nicht unbekannt, als das ich dort schon einige Jahre die Beschriftung der jährlichen Erntewagen übernommen hatte. Demzufolge war ich bei geselligen Veranstaltungen des Dorfes oft zu Gast. Es sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass man mich eines Tages sogar zum „Ehrenbürger“ von Leverath ernannt hat.

Nun gut, ich war also jetzt Mitlied von Borussia Leverath. Habe aber, um es gleich vorweg zu nehmen, auch hier niemals einen Ball getreten. Vielmehr war ich - wie so oft - als Schreibgehilfe und Mann hinter den Kulissen tätig. Unser erstes Maifest war ein großes Wagnis. Natürlich besaßen wir keinerlei Erfahrungswerte. Es wurden damals in unserer ländlichen Umgebung überall schon Maifeste gefeiert. Meistens feierten die jeweiligen Dorfgemeinschaften, aus Anlass des Maibaum-Aufstellens unter sich. Man räumte eine Scheune oder Remise aus und amüsierte sich in dieser altgewohnten und rustikalen Umgebung prächtig. So in dieser Art hatten wir das auch in Leverath vor - nur mit dem Unterschied, dass wir das Fest auch für alle Menschen der näheren und weiteren Umgebung zugänglich machen wollten.

Alles das sollte sich im Hofgelände unseres Vorsitzenden Bruno Koppen abspielen. Unsere größte Arbeit bestand nun darin, die ziemliche Schräglage des Hofraumes durch den Aufbau eines mehrstufigen Bretterbodens aufzufangen. Da die Scheune zu wenig Platz für die erwarteten „Menschenmassen“ bot, mussten wir sie durch einen Zeltanbau vergrößern. Ebenfalls hatten wir in der oberen Remise einen Imbissstand eingerichtet. Dort waren Grillwürstchen usw. zu haben. Weiter stand im Hof noch einen Bierpilz. Das ganze Gelände war reichlich mit frischem Birkengrün geschmückt und es sah, für unsere Begriffe recht manierlich und sogar ein bisschen professionell aus. Nach dieser ganzen Plackerei des Aufbaues - mit viel Bier, selbstverständlich - erwarteten wir den Abend mit großer Spannung. Um es gleich vorweg zu nehmen - unser erstes Maifest schlug ein wie eine Bombe! Alt und Jung feierten den Samstagabend durch bis in den Morgen. Auch am Sonntag wurde bis in die Abendstunden gefeiert. Wir paar Leute von Borussia Leverath hatten alle Hände voll zu tun. Natürlich standen uns unsere Freundinnen und Frauen tapfer zur Seite. Nachdem wir des Montags alles wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt hatten,  ließen wir es uns nach getaner Arbeit auch mal selber gut gehen. Dieses Beisammensein nach dem Fest war und ist ein fester Bestandteil des Maifestes, und das ist eigentlich das schönste und wichtigste überhaupt an der ganzen Sache: Gemeinsam arbeiten und gemeinsam feiern.

So ist es nun all die Jahre geblieben. Unser Maifest hat - im Gegensatz zu ähnlichen Festen in der Umgebung die Zeiten überdauert. Es erfreut sich - nach über 30 Jahren - immer noch ständig steigender Beliebtheit. Sicher, es hat sich inzwischen einiges in Form und  Durchführung geändert. Unsere Gäste - besonders am Samstagabend - sind wesentlich jünger geworden. Dem mussten wir, vor allem in musikalischer Hinsicht, Rechnung tragen. Wo früher zünftige Blasmusik angesagt war, herrscht nun Disco-Sound. Bruno hat eine geräumige Remise gebaut. Die lässt sich jetzt an wenigen Abenden zu einer geräumigen Festhalle umfunktionieren. Auf- und Abbau, und überhaupt das ganze Fest läuft routiniert und „wie geschmiert“. Wir sind auch inzwischen alle ein gutes Stück älter geworden. Sicher, es sind einige neue, und jüngere zu uns gestoßen, aber so langsam denkt man doch über die Zukunft nach.

Aber immer wieder wird natürlich der „alten Zeiten“ gedacht, nicht ohne Grund auch die „wilden Jahre“ genannt. Da kam es dann an so manchen Abenden nach den Aufbauarbeiten zu den unvermeidlichen „Zechgelagen“. Dabei gerieten wir uns auch regelmäßig gewaltig in die Haare. In schöner Wiederkehr war dann auch immer jemand dabei, der, beeinflusst durch seinen „berechtigten Zorn“, spontan und mit sofortiger Wirkung seinen Austritt erklärte um sich anschließend wutschnaubend und schwankenden Schrittes auf den nächtlichen Heimweg zu begeben. Am anderen Tag war dann keiner mehr in der Lage, zu erklären, worum es da eigentlich gegangen war, und wir machten uns wieder einmütig an die Arbeit.

Allen Unkenrufen zum Trotz konnten wir im Jahre 1999 unser 30jähriges Bestehen feiern. Aus Kameraden sind inzwischen Freunde geworden. Tausend gemeinsame Erlebnisse haben uns zusammengeschweißt. Ob Maifest, Pfingsteiersingen, Ausflug, Wandertag, Geburtstagsfeiern, Silberhochzeit usw., alles wird gemeinsam gefeiert.

Übrigens, Pfingsteiersingen: Das ist ein uralter Brauch unserer Heimat. Aus mündlicher Überlieferung wissen wir um die Entstehungsgeschichte:             Früher holte man das Wasser für Mensch und Vieh aus dem Dorfbrunnen. Viele Dorfbewohner besaßen aber außerdem noch ihren eigenen Brunnen oder „Pütz“. Das Wasser hielt natürlich nicht den heutigen Reinheitsansprüchen stand, aber es war sauber und klar und es zeichnete sich aus durch seinen unverwechselbaren, guten, abgerundeten Geschmack - unbelastet von den heutigen chemischen Zusätzen. Selbst in den heißen Sommermonaten war der Trank kühl und erfrischend. Gleichwohl bedurften diese Brunnen ab und zu einer gründlichen Säuberung. Da diese Arbeit nicht ganz ungefährlich war, betraute man damit die unverheirateten Dorfburschen. Das geschah seit eh und je am Samstag vor dem Pfingstfest. Nachdem die Arbeit verrichtet war, zogen die Burschen am Abend von Haus zu Haus und erheischten einen kleinen Lohn, der ihnen auch bereitwillig, - meist in Form von Naturalien, vorzugsweise „Pengsteier“ zuteil wurde. Die Eier wurden dann anschließend in fröhlicher Runde gemeinsam verzehrt. Beim Eiersammeln wurde ein lustiger Spruch aufgesagt oder gesungen. Ein Volkslied durfte natürlich auch nicht fehlen. Da am Pfingstfest der Herabkunft des Heiligen Geistes gedacht wird, war außerdem natürlich ein Lied zum Hl. Geist obligatorisch. Dieses Lied „Komm, heiliger Geist...“, dass wir als erstes vor jedem Haus anstimmen, stammt aus einem alten Gebetbuch und es wird bis heute in Text und Melodie unverändert gesungen. Es umfasste ursprünglich vier Strophen, wovon traditionsgemäß die erste Strophe gesungen wird. Sie lautet: Komm, heiliger Geist, du göttlicher Gast, der du von schwerer Sündenlast, so manches Herz befreiet hast, komm, heiliger Geist, du göttlicher Gast. Danach folgt: „Jeht us doch en Pengstei, feine Rosenblümelein, drei sen us lever wie zwei, feine Rosenblümelein,  wacker ist das Mägdelein“. Nach einem Volkslied wird sich mit folgendem Text verabschiedet: „Mir don us och bedanken, feine Rosenblümelein, on schwenken us öm die Kanten, feine Rosenblümelein, wacker ist das Mägdelein“.

Soviel zur Vorgeschichte. Wir treffen uns am Vorabend des Pfingstfestes in Leverath und ziehen nach einer kleinen Stärkung in fester und flüssiger Form. Bei anbrechender Dunkelheit zum Nachbardorf Sommerhausen. Helmut Papke und ich begleiten die Truppe mit unseren Gitarren. An jedem Haus spielt sich nun das gleiche Ritual ab - siehe oben. Statt - oder zusätzlich - zu den erbetenen Eiern gibt es auch schon mal eine Flasche „Hochprozentigen“. Auch kredenzt man uns auch fast  überall ein Gläschen zum Anfeuchten unserer Kehlen. Hier und da gibt es aber auch - wie bei unseren Freunden, den Segbarts - ein belegtes Schnittchen oder eine kräftige Rindfleichsuppe. Diese „Wegzehrungen“ sind aber auch äußerst notwendig, denn die Nacht ist lang und der Schnäpse sind gar viele!

Inzwischen sind wir, wie bereits erwähnt, alle etwas in die Jahre gekommen und so manchmal denke ich bei mir, wie lange willst oder kannst du das eigentlich noch mitmachen? Wenn aber der Pfingstabend gekommen ist, halten mich keine zehn Pferde zu Haus. Die Gitarre, welches das ganze Jahr über im Schrank geschlummert hat, wir hervorgeholt und gestimmt. Wir Pengstjongen möchten auf diese Weise eine schöne alte Tradition weiterführen, die leider immer mehr in Vergessenheit gerät. Mit unseren Liedern möchten wir am Vorabend des Pfingstfestes allen - auch uns selbst - eine kleine Freude machen. Ach ja, Borussia Leverath. Es gäbe so unendlich viel zu erzählen, aber dann wäre ein Extra-Buch fällig. Jedenfalls macht es immer noch Spaß, in die vertrauten - inzwischen etwas runzelige Gesichter zu blicken, gemeinsam zu lachen, zu trinken, zu singen und überhaupt sich gemeinsam zu freuen. Wolle Gott, dass es noch ein paar Jährchen so weiter geht.

Um nun meine Jahre im MGV Wohlfarth zu schildern, muss ich wieder etwas weiter ausholen. Es war Ende der 50er Jahre. Wie schon erwähnt, fühlte ich mich im Quartettverein Kreuzkapelle nicht mehr so recht wohl. Meine Altersgenossen, die damals mit mir zusammen dem Verein beigetreten waren, hatten alle schon längst „das Handtuch geworfen“ und waren wieder ausgetreten. Mich hielt eigentlich nur noch die Liebe zum Chorgesang und der damals schon von mir so sehr geschätzte Chorleiter Heinz Straßfeld.

Der Männer-Gesang-Verein Wohlfarth war ursprünglich amtierender Kirchenchor an der Pfarrkirche St. Johannes B. Kreuzkapelle. Er entstand als solcher im Jahre 1895, als die Pfarrei Kreuzkapelle nach 22jähriger Vakanz - hervorgerufen durch den unseligen Kulturkampf, endlich in dem Rektor Nikolaus Pütz wieder einen ständigen Seelsorger erhielt. Im Jahre 1908 kam Pastor Heinrich Ziemons nach Kreuzkapelle. Zu dieser Zeit veranstaltete der Kirchenchor ein großes Fest, dessen Reinerlös zur Beschaffung einer Vereinsfahne dienen sollte. Der Rektor hätte den Betrag aber lieber einem Fond für neue Glocken zugeführt. Die Sänger des Kirchenchores waren gegen das Ansinnen ihres Pfarrers, erklärten sich jedoch bereit, auch hierfür nochmals ein Fest durchzuführen. Es kam jedoch keine Einigung zustande.

Öffentliche Vorwürfe erregten den Chor sosehr, dass er aus dieser bedauerlichen Stimmung heraus seinen Sitz in Form eines weltlichen Männer-Gesang-Verein nach Wohlfarth verlegte, zumal ihm nun die Erlaubnis, die Proben in der katholischen Volksschule in Kreuzkapelle abzuhalten, entzogen worden war. Der andere Teil dieser „abtrünnigen Truppe“ bildete nun einen neuen Kirchenchor, der sich fortan „Kirchenchor und Quartettverein Kreuzkapelle“ nannte.

Der MGV Wohlfarth aber wuchs und gedieh. Nach dem I. Weltkrieg ruhte das Vereinsleben, wurde aber im Sommer 1919 zu neuer Tätigkeit erweckt. Der legendäre Fritz Gräf, seines Zeichens Küster und Chorleiter von Much - er war gebürtig aus Derscheid - übernahm den Dirigentenstab. Er war zeitlebens Junggeselle geblieben und es muss wohl ein rechtes Original gewesen sein, denn man erzählt sich noch heute recht schrullige Anekdoten von ihm. Wenn er des Abends - zu Fuß natürlich - zur anberaumten Probe Richtung Wohlfarth losmarschierte, lagen ihm tückischerweise einige Gastwirtschaften am Wege, an denen er schlecht vorbeigehen konnte. Die Männer vom MGV hatten dann eine längere Wartezeit zu überbrücken.

Folgende Story von ihm möchte ich der Nachwelt nicht vorenthalten. Es war im Jahre 1927. Fritz Gräf hatte wieder einmal ausgiebig Karneval gefeiert. Am Morgen des        Aschermittwochs versah er, wie üblich, seinen Dienst in St. Martinus zu Much. Pastor Ziemons - inzwischen Dechant in Much - der die hl. Messe las, traute seinen Ohren nicht mehr, als er auf einmal klangvoll von der Orgel her das bekannte Karnevalslied vom Treuen Husar wahrnahm. Ganz entsetzt drehte er sich um und rief zur Orgelbühne hinauf: „Hören Sie um Gottes Willen mit ihrem Lüt-düt-dü auf!“ (Dieser Satz ist historisch verbürgt). Hatte doch der gute Fritz, noch ganz bier-seelig, die falsche Melodie intoniert.

In den Jahren 1957 - 58 war es, bedingt durch rapiden Mitgliederschwund, wieder zu einem Stillstand im Vereinsleben des MGV Wohlfarth gekommen. Nun stand 1958 das 50jähre Vereinsjubiläum vor der Tür. Im Frühjahr dieses Jahres formierte man sich neu, aber da war es zu spät, um ein solches Fest im selben Jahr noch organisieren und durchführen zu können. Mein Schwager Gerd Hoppe – seit 1947 Mitglied im MGV Wohlfarth, und Heinz Strassfeld, der die Dirigentschaft übernommen hatte, „bearbeiteten“ mich schon seit langem, bis ich schließlich einwilligte und dem Verein beitrat.

Meine Vereinstätigkeit erstreckte sich damals vom Tambourcorps über das Bläsercorps bis hin zur Mitgliedschaft im Quartettverein Kreuzkapelle. Ich war also in dieser Beziehung mehr als ausgelastet. Nebenher bzw. hauptsächlich war ich nach Dienstschluss auch noch vollauf mit dem Umbau und der Renovierung meines Hauses beschäftigt. Zudem hatten meine zukünftige Frau Rita und ich unsere Heirat für das Jahr 1960 fest eingeplant. Auf der Mitgliederversammlung am 21. Februar 1959 fasste man den Beschluss, am 2. August dieses Jahres das 50jährige Jubelfest nachzuholen und zu feiern. Um der Sache aber nun die Krone aufzusetzen, wurde ich am selben Abend auch von der Versammlung zum Schriftführer gewählt, da der bisherige Amtsinhaber Ernst Utsch den Verein verlassen hatte.

Was da nun auf mich zukommen sollte, davon ahnte ich überhaupt noch nichts. Man versprach mir aber tatkräftige Hilfe. Bis dato hatte ich zwar im Bläsercorps Kreuzkapelle den Schreibkram samt dem Führen einer Art Vereinschronik erledigt, aber das war alles überschaubar im Vergleich zu dem, was mich nun hier erwarten sollte. Ich wurde buchstäblich ins eiskalte Wasser geworfen – ohne das man mich fragte, ob ich überhaupt schwimmen könnte.

Seit dem Jahre 1959 fungierte Peter Fielenbach aus Köbach als Vereinsvorsitzender. Er war redegewandt und er konnte somit den Verein in der Öffentlichkeit rhetorisch gut repräsentieren. Die Hauptlast in der Vereinsarbeit – sozusagen „der Mann im Hintergrund“ – trug allerdings unser Mitglied und 2. Vorsitzender Josef Pick aus Groß-Oberholz – wie die Ortschaft damals noch hieß. Seines Zeichens war Josef von Beruf Schneidermeister – und zwar ein guter. Er hat mir sehr viel in Sachen Vereinsarbeit beigebracht. Wenn ich Fragen hatte, bekam ich stets bei ihm ein offenes Ohr und er stand mir allezeit mit Rat und Tat zur Seite. Ich zehre heute noch von seinen guten Ratschlägen.

Als Mitglied im neu gebildeten Festausschuss oblag es mir also nun, zusammen mit noch vier anderen Vereinsmitgliedern, das kommende Jubelfest zu organisieren. Alle Nachbarvereine mussten mehrfach angeschrieben werden. Prominente und Nicht-Prominente eingeladen, Behördengänge gemacht, Plakattext verfasst und, und, und. Um den von mir angefertigten Schriftstücken und Briefen ein einigermaßen professionelles Aussehen zu geben, hatte ich mir von meinem Freund Karl-Josef Becker (ebenfalls MGV-Mitglied) eine vorsintflutliche Schreibmaschine ausgeliehen, welche er auf seinem Speicher noch vorgefunden hatte. Ich besaß zwar eine ganz annehmbare Handschrift, aber ich hatte da einen gewissen Ehrgeiz, der mich im Nachhinein aber jede Menge Nerven gekostet hat. Das verfluchte Ding hatte zwei Weltkriege hinter sich gebracht – ich will nicht behaupten, dass es noch aus der Arche Noah stammte, aber es verhielt sich genau so. Die Maschine klemmte und hakte an allen Ecken und Enden. Einen ganz normalen Brief zu schreiben war die schiere Tortur. Hatte ich mich vertippt – was ständig geschah – hieß es: neuer Briefbogen einspannen und noch einmal von vorne - wie gehabt. Natürlich ließ ich – wie das so meine Art ist – nicht locker. In meinem damaligen Schlafzimmer hatte ich mir, speziell zu diesem Zwecke, eine kleine Schreibecke eingerichtet. Das Innere unserer Wohnung sah zur damaligen Zeit recht trostlos aus, denn ich war ja nebenbei vollauf mit dem Umbau und der Renovierung des Hauses beschäftigt. Mich umgaben nackte und unverputzte Schwemmsteinmauern, mit denen ich die ursprünglichen Lehmgefache ausgemauert hatte. Spießbottich, Zementsäcke, Maurerkelle usw. gehörten monatelang zum Inventar.

Computer waren damals noch nicht erfunden. Wie leicht wäre es für mich gewesen, dieses alles – wie heute selbstverständlich – mit einem PC zu verarbeiten. Noch heute stehen mir die Haare zu Berge, wenn ich an diese Monate des Jahres 1959 denke. Aber es kam noch schlimmer! Bei all meiner Arbeit zog ich nach Feierabend mit unserem Vereinswirt Heinrich Steimel über die Dörfer und zu den Geschäftsleuten in Much und Umgebung, um diese zu bewegen, in unserer geplanten Festschrift eine Annonce zu inserieren. Mit diesen Annoncen sollten die Entstehungskosten des Heftes abgedeckt werden.  Natürlich ging das alles nicht ab ohne dass uns hier und da ein Schnäpschen angeboten wurde. Den würdigen Abschluss eines solch anstrengenden Tagesablaufes begossen wir dann regelmäßig in Steimels  Kneipe in Wohlfarth. Heinrich zeigte sich immer sehr spendabel und ich brauchte kaum eine Mark locker zu machen – von denen ich sowieso nicht viel besaß.

Die Jubiläumszeitschrift beinhaltete neben vielen historischen Bildern auch eine Zusammenfassung der Vereinsgeschichte von 1908 bis 1959. Diese Chronik war zusammengestellt und verfasst worden von Dr. Anton Jux aus Bergisch Gladbach. Als junger Lehrer war Dr. Jux in den 20er Jahren an der Volksschule Oberhausen tätig gewesen. Er war zu dieser Zeit auch Mitglied im MGV Wohlfarth und als Schriftführer einer meiner Vorgänger. Auch in den späteren Jahren nach seinem Weggang verfolgte er mit großer Anteilnahme die Geschehnisse des Vereins. Er hat sich im Übrigen später als Heimatforscher weit über seine Bergische Heimat hinaus durch zahlreiche Publikationen einen Namen gemacht. Viele Passagen hier in diesem Bericht habe ich seiner Chronik entnommen. Dr. Jux konnte das 50. Stiftungsfest und die ihm zugedachte Ehrenmitgliedschaft, über die er sich so sehr gefreut hatte, nicht mehr erleben. Er starb ganz plötzlich am 15. Mai 1959. Ich bin damals mit Heinrich Steimel zu seiner Wohnung nach Bergisch Gladbach gefahren, wo uns seine Witwe die vielen Blätter und Notizen seiner Arbeit aushändigte und uns aus seinen letzten Lebenstagen erzählte. Er war nicht mehr dazu gekommen, die einzelnen Schriftstücke zu ordnen und so setzten wir uns in Wohlfarth zusammen, um sein Werk zu vollenden.

Jede Woche wurde nun unter der Stabführung unseres damaligen Dirigenten Heinz Strassfeld aus Kreuzkapelle fleißig für das Jubiläumskonzert geprobt. Es standen sehr anspruchsvolle Stücke auf unserem Programm und unser Dirigent, den ich bis heute ohne Abstriche zu den Besten seiner Sparte zähle, nahm es sehr genau. Der Verein zählte damals 25 Mitglieder. Heinz Strassfeld besaß eine wundervolle Art, mit dem ihm eigenen Humor und Mutterwitz die Proben zu gestalten. Es wurde nicht nur ernsthaft gearbeitet sondern auch sehr viel gelacht. Ihm ist es vor allem zu verdanken, das in jenen Jahren aus diesem Verein eine durch Kameradschaft getragene verschworene Gemeinschaft entstand. Es war so, dass wir mit einer gewissen Freude und Ungeduld den nächsten Probeabend erwarteten. Wir probten in der Gaststube unseres Vereinswirtes Heinrich Steimel in Wohlfarth. Das Gasthaus trug den Namen „Zum alten Zoll“, weil sich hier im 18. Jahrhundert eine der zahlreichen Zollstationenen befand.

Störungsfreies Proben war dabei leider nicht immer gegeben. Meistens befanden sich noch Gäste an der Theke und nach reichlichem Biergenuss wurde es von dorther auch manchmal recht laut. Das ging dann so lange, bis der Heinrich mit seiner kräftigen Bass-Stimme ein Machtwort sprach. Später dann – in der heißen Endphase – verlegten wir die Probe in den großen Saal nebenan.

Dank meiner musikalischen Vorbildung an der Klarinette und der Querflöte bei Heinrich Franken besaß ich inzwischen doch schon einige Notenkenntnisse, und es fiel mir im Gegensatz zu den übrigen Mitgliedern nicht allzu schwer, ein neues Musikstück einzuproben. Viele von ihnen konnten ja nicht einmal eine Halbe von einer Viertelnote unterscheiden und sie hatten es dementsprechend schwer. Mein Bestreben ging meistens dahin, wenn wir ein neues Stück in Angriff genommen hatten, es möglichst bald auswendig zu singen. Wenn mir das dann gelungen war, hatte ich anschließend eine bessere Möglichkeit, unseren Dirigenten und meine Sängerkameraden im Auge zu behalten. Das war für mich nicht so langweilig, als ständig ins Notenblatt zu schauen.

Natürlich setzten wir uns nach der Probe noch eine Weile zusammen um unseren inzwischen ausgetrockneten Kehlen ein paar Bier zu gönnen. Zur vorgerückten Stunde kramte dann unser Steimels Hein immer wieder in Weltkriegserinnerungen. In den weiten Steppen Russlands war er Fahrer eines „Sankra-Wagens“ (Sanitätskraftwagen) gewesen. Dabei waren ihm die abenteuerlichsten und gefahrvollsten Dinge passiert. Das alles wusste er dermaßen anschaulich und plastisch zu schildern, das mir – als ich die Geschichten zum ersten Male hörte – die Haare buchstäblich zu Berge standen. Doch nun hatte der Hein die fatale Angewohnheit, seiner Zuhörerschaft diese Storys immer und immer wieder aufs neun zum Besten zu geben – egal ob die nun wollten oder nicht. Befand er sich nach einem gewissem Bierkonsum in „gemütlicher Stimmung“, dann hieß es für uns – aufpassen, um ihn nur ja nicht auf sein Lieblingsthema Weltkrieg oder Russland zu lenken. Natürlich war es uns allen bewusst, dass dieses Ansinnen von vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Denn der Hein fand stets mit nachtwandlerischer Sicherheit irgendwo im Gespräch den Einstieg für seine Kriegserlebnisse.

Ja – und da war natürlich unser „Krusen Hein“ – ein Original per Echselenze! Er lieferte aus seinem unerschöpflichen Fundus die Schnurren und Schmunzelgeschichten vergangener Tage, die er außerdem alle noch zusätzlich mit Namen und Daten versehen konnte. Solch ein Probeabend war immer angefüllt mit Gesang und Geselligkeit. Im Übrigen hatte ich es ja gut. In knapp fünf Minuten konnte ich zu Fuß meine Heimstatt erreichen. Das war praktisch und ich konnte mein Fahrzeug in der Garage lassen. Es waren für mich durchaus schöne Jahre im MGV Wohlfarth.

Doch zurück zum Jubelfest. Es wurde am Sonntagmorgen, den 2. August 1959 mit dem gemeinsamen Kirchgang zur Pfarrkirche St. Johannes B. in Kreuzkapelle und einer Kranzniederlegung am Ehrenmal auf dem Friedhof für die gefallenen und verstorbenen Vereinskameraden eingeleitet. Um 15.00 Uhr wurden die eingeladenen Nachbarvereine am Gasthaus Herrenteich abgeholt. Es war ein unvergessliches Bild, als die acht Vereine bei strahlendem Sonnenschein mit ihren Fahnen hinauf nach Wohlfarth zogen. Um 17.00 Uhr begann im Steimels Saal das Festkonzert mit den üblichen Ansprachen und Gratulationen der anwesenden Honorationen. Deren waren übrigens mehr erschienen, als wir Plätze bereitgestellt hatten. Ich rückte am Ehrentisch immer weiter nach unten, um einem neu angekommenen „prominenten“ Gast meinen Platz zu überlassen. Schließlich war nur noch ein „Stehplatz“ für mich übrig geblieben. Diese Situation beinhaltete schon eine gewisse Komik, wie ich bei mir feststellen musste. Ohne mich hier hervorheben zu wollen, hatte ich doch aller widrigen Umstände zum Trotz, mit Kreativität und Engagement dieses Fest vorbereiten helfen. Dabei hatte der weitaus größte Teil auf meinen, noch unerfahrenen und jungen Schultern gelegen. Und nun stand ich ziemlich verloren und dumm da – an einen Pfosten gelehnt. Das war eigentlich wieder recht typisch für mein Leben. Schließlich macht mir eine mitleidige Seele aus dem Publikum ein wenig Platz und ich quetschte mich auf den Rand der Sitzbank. Mit einem Festball klang das Jubelfest am Abend aus.

Keine drei Wochen vergingen, als unseren Verein – und ganz besonders mich persönlich – ein schwerer Schicksalsschlag traf. Mein Freund Kar-Josef Becker aus Oberholz, seit einigen Monaten begeistertes Mitglied im MGV Wohlfarth verunglückte in den Nachmittagsstunden des 19. August tödlich im blühenden Alter von 16 Jahren. Ein tödlicher Stromschlag machte seinem jungen Leben ein Ende. Die Umstände seines Todes habe ich ja schon in einem der vorhergehenden Kapitel ausgeführt. Doch das Leben geht weiter, auch wenn man geglaubt hat, das Herz würde einem dabei zerreißen.

Unser Dirigent Heinz Strassfeld träumte schon seit langem davon, mit unserem Chor an einem Gesangswettstreit teilzunehmen. Der MGV Bielstein veranstaltete damals aus Anlass seines 60jährigen Bestehens ein Wertungssingen. Für uns war eine solche Veranstaltung etwas völlig neues, aber wir beschlossen, dort einmal mitzumachen. Nach monatelanger intensiver und harter Probenarbeit wurde unser Traum und der unseres Dirigenten wahr. Am Sonntag, den 22. Mai 1960 fuhren wir nach Bielstein. Drei Stücke hatten wir eingeprobt, wovon eines vom Veranstalter vorgegeben war. Mit diesen drei Chorwerken erlangten wir auf Anhieb den 2. Hauptehrenpreis, den 2. Ehrenpreis und den 2. Hauptpreis. Beim Stück „Der Tanzbodenkönig“ hätten wie bestimmt den 1. Preis bekommen, hätte da nicht der Komponist selber mit in der Jury gesessen. Er hatte sich  - wie wir später erfuhren – bei diesem seinem Chorsatz eine andere Interpretation vorgestellt. Er hatte wohl trotz seiner musikalischen Kenntnisse nicht die künstlerische Freiheit des Dirigenten berücksichtigt. Für Heinz Strassfeld war jedenfalls der Dirigentenpreis vorgesehen. Nun gab es aber einen Verein, der bei der Preisvergabe völlig leer ausgegangen war. Man trat an unseren Dirigenten heran, und fragte ihn, ob er nun seinen Preis diesem Verein überlassen wollte. Heinz – gutmütig wie er nun mal war – stimmte ohne weiteres zu. Die Ehre, diesen Preis, wenn auch nur sinnbildlich erhalten zu haben, konnte ihm ja keiner nehmen. Als wir nun am Abend „siegestrunken“ in Wohlfarth ankamen, wurden wir wie heimkehrende Helden begrüßt.

Im Frühjahr 1962 legte Heinz Strassfeld zu unserem großen Bedauern den Dirigentenstab nieder. Im Mai 1962 übernahm Heinrich Kurtenbach aus Bröleck dann die Dirigentschaft. Heinrich war der Ehemann meiner Cousine Gisela und wir kannten uns gut. Er war übrigens eine Seele von Mensch und er hatte eine herrliche Art, die Chorstücke zu interpretieren. Aber den Weggang von Heinz Strassfeld habe ich nie so richtig verschmerzt. Inzwischen war ich nun auch noch zusätzlich zu meinen übrigen Vereinen Mitglied im Bläsercorps Much geworden. Das bedeutet nun für mich gleich zwei Probenabende die Woche – die diversen Auftritte nicht eingerechnet.

Im Oktober 1960 hatte ich geheiratet und es gab noch sehr viel am Haus und im Haus zu tun. Auf die Dauer konnte das alles also nicht so weitergehen – zumal meine Frau manchen Abend und viele Sonntage allein verbringen musste. Was sollte ich aber tun? Das Mucher Bläsercorps machte mir inzwischen soviel Freude, das ich eigentlich nur die eine – wenn auch schmerzliche – Lösung sah, mich vom MGV Wohlfarth zu trennen. Aber wie? Die Lösung fand sich, von mir zwar herbeigesehnt aber dennoch unerwartet für mich, im Herbst 1964. Ich hatte den Vorschlag gemacht, unseren jährlich stattfindenden Ausflug mit unseren Frauen zusammen diesmal zum Winzerfest  nach Braubach am Rhein zu unternehmen. Man war mit meiner Idee einverstanden und so machte ich mich ans planen und organisieren.

Am Morgen des Ausflugstages bestiegen wir am Siegburger Bahnhof die für uns reservierten Abteile des „Klingenden Rheinländers“. Das war ein Sonderzug mit Gastronomie und Lautsprechermusik. Zur damaligen Zeit etwas besonderes. Nachdem wir in Braubach den (von mir eingeplanten) Gottesdienst gemeinsam besucht hatten, verbrachten wir den Tag – sozusagen bei „Wein, Weib und Gesang“. Am Abend ging es mit dem gleichen Zug  wieder zurück nach Siegburg. Dort bestiegen wir unseren Bus, der uns zurück nach Wohlfarth brachte. Alles hatte wie am Schnürchen geklappt und ich befand mich, nicht zuletzt infolge eifrigen Zuspruchs des edlen Rebensaftes in Hochstimmung. Was ich nun partout in einer solchen Situation  am wenigsten gebrauchen konnte, waren nörgelnde und kritische Bemerkungen, die aber jetzt unser 1. Vorsitzender von sich gab, obwohl dieser am Zustandekommen des ganzen Unternehmens kaum Anteil genommen hatte. Nach heftigem Wortwechsel war meine fröhliche und wein-seelige Stimmung nun schlagartig dahin.

Zu Hause angekommen, setzte ich mich noch in derselben Nacht wutentbrannt hin, um in einem geharnischten Brief dem Verein meinen Austritt zu erklären, was mir aber – dank meines lädierten Zustandes - nicht so recht gelingen wollte. Am nächsten Tage, nun wieder vom nüchternen Standpunkt aus betrachtet, sah ich die Dinge wieder etwas klarer. Trotzdem beschloss ich, diese Gelegenheit zu einem „Absprung“ wahrzunehmen – sozusagen mit einem „Paukenschlag“. Zuerst vervollständigte ich aber noch die von mir bisher geführte Vereinschronik. Natürlich nutzte ich beim Bericht über unseren Ausflug die Gelegenheit zu einer kleinen Abrechnung mit meinem Kontrahenten. Den Pappkarton mit den Vereinsutensilien (Chronik, Aktenordner usw.) übergab ich meinem Nachbar Willi Kraus, seines Zeichens langjähriger Kassierer im MGV. Der arme Kerl stand nun ganz verdattert da und er tat mir richtig leid. Er konnte und wollte es einfach nicht wahrhaben und begreifen, dass ich dem Verein so plötzlich den Rücken kehren wollte.

Noch viele Monate lang versuchten einzelne Mitglieder durch diverse Hausbesuche und bei internen Gesprächen, mich zum Wiedereintritt zu bewegen. Aber ich blieb eisern. Das tat mir manchmal ganz schön weh, aber die persönliche Belastung, welche ich immer vor Augen hatte, wenn ich in Versuchung kam, schwach zu werden, gab schließlich den Ausschlag. Trotzdem bin ich bis heute dem MGV Wohlfarth als inaktives Mitglied finanziell und ideell verbunden, betrachte ihn immer noch irgendwie als „meinen Verein“ und nehme Anteil an seinem Werdegang.

Bevor ich nun zum Bläsercorps Much übergehe, muss ich aber noch etwas über die „Kapelle Müller“ berichten. Ohne sie wäre ich wohl nie – oder doch sehr viel später – beim BCM = (Bläsercorps Much) gelandet.

Ein beliebtes Ausflugsziel war in den 60er Jahren das am Herrenteich im Wahnbachtal gelegene Gasthaus gleichen Namens. Der geräumige Saal mit seinem herrlichen Ausblick auf die Teichlandschaft bot Vereinen und Ausflüglern prächtige Gelegenheit zum feiern. Besonders an den Wochenenden war hier immer etwas los. Es war also logisch, das sich bald eine Tanzkapelle – oder Band – wie man heute sagen würde, etablierte, deren Mitglieder in der Nähe wohnten, um schnell erreichbar sein zu können und kurzfristig abrufbar zur Verfügung standen.

Alle diese Voraussetzungen erfüllte die „Kapelle Müller“, welche sich damals aber noch das „Vetter-Trio“ nannte. Es setzte sich – wie der Name schon sagt – zusammen aus drei Vettern, nämlich Kunibert Müller (Klavier und Akkordeon), Hermann-Josef Müller (Schlagzeug), beide wohnhaft in Bennrath, sowie Josef Keppler (auch Akkordeon), aus Birrenbachshöhe. Durch einen tragischen Verkehrsunfall kam er im Jahre 1960 mit seinem Motorrad auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle ums Leben.

Anfang 1962 traten die beiden Müllers mit dem Vorschlag an mich heran, mit ihnen zusammen Tanzmusik zu machen, denn nach dem Tode von Josef Keppler fehlte ihnen  der dritte Mann. Ich spielte damals im Bläsercorps Kreuzkapelle – in dem auch Hermann-Josef Müller Mitglied war – die Klarinette. Nun was eine Klarinette nicht eben das ideale Instrument für eine Tanzkapelle. Sie legten mir also nahe, ich sollte mir doch ein Saxofon anschaffen. Ein solches Instrument kannte ich aber bis dato nur von Bildern. Obwohl es vom Ansatz und vom Mundstück her mit der Klarinette verwandt ist, stellte ich mir das musizieren mit einem solchen „Apparat“ schrecklich kompliziert vor, denn es besaß da unheimlich viele Klappen, Tasten und Griffhebel. Diese alle zu bedienen, schien mir einfach unmöglich. Später stellt sich aber zu meiner Beruhigung heraus, dass dieses Instrument dank einer ausgeklügelten Technik genau so einfach, wenn nicht gar einfacher zu handhaben war als eine Klarinette.

Mein Hauptproblem bestand allerdings in der Finanzierung. Jung verheiratet, fehlte es bei uns im Haus natürlich noch an allen Ecken und Enden. Die Renovierungsarbeiten waren auch längst noch nicht abgeschlossen. Das Geld war knapp bei uns denn mein Gehalt bei der Post war in jenen Jahren nicht gerade berauschend. Als ich meinem Vater von dem Vorschlag erzählte, erklärte der sich zu meiner Überraschung – musikbegeistert wie er nun einmal war – spontan dazu bereit, die Hälfte des zu erwartenden Kaufpreises zu übernehmen. Kurzum, aus einem Musikkatalog der Firma Hohner / Lindberg im Allgäu suchte ich mir ein preiswertes Instrument aus. Es kostete damals genau 414.00 DM. Den Koffer dazu bekam ich für 45.00 DM. Alles zusammen also 459.00 DM – ein Spottpreis nach heutigen Maßstäben. Am 11. Januar 1962 hielt ich das gute Stück zum ersten Mal in meinen Händen.

Anhand einer Grifftabelle begann ich nun, mir die Technik des Saxofonspielens anzueignen. Die Zeit drängte, denn schon zu Weiberfastnacht sollte ich im Saale Herrenteich mein Debüt geben. Und dieser Tag war schon am 1. März. Nebenher hatte mir der Kunibert einen ganzen Stoß Notenblätter gegeben. Das waren nun aber alles Noten für sein Akkordeon gedacht. Bekanntlich ist dieses Instrument aber in der Stimmlage „C“ angesiedelt. Ich dagegen besaß ein „ES“-Alt-Saxofon. So musste ich nun noch nebenher in mühevoller Kleinarbeit Note für Note von „C“ auf „ES“ transponieren. Anhand einer selbst gebastelten Schablone ging die Arbeit dann aber etwas zügiger. Trotzdem habe ich Tage und Wochen mit dieser Arbeit verbracht. Als ich damit fertig war, bestand mein gesamtes Repertoire aus ca. 30 Walzern, 4 Foxtrott und einigen diversen Märschen – zumeist  waren es alle Karnevalslieder. Damit starteten wir nun also unseren ersten gemeinsamen Auftritt.

Damals war am „Herrenteich“ zu Weiberfastnacht der zentrale Mittelpunkt des Geschehens in unserer Gemeinde. Anders als heutzutage war in den Mucher Gaststätten an diesem Tage Grabesruhe. Alles strömte in den Saal am Herrenteich. Hier „knubbelte“ es sich schon am frühen Nachmittag. Der damalige Damen-Elferrat mit seiner agilen Präsidentin „et Bechersch Marie“ aus Herchenrath hatte für diesen Tag immer ein tolles Unterhaltungsprogramm auf die Beine gestellt. Um 20.00 Uhr wurden dann auch für die Herren der Schöpfung die Türen geöffnet. Und weiter ging es nun im zweiten Teil bis in den frühen Morgen. Für die Kapelle Müller war das immer ein „Großkampftag“. Nebenher wurden wir natürlich auch immer wieder mit diversen Getränken traktiert und versorgt. Aus der Küche erhielten wir in regelmäßigen Abständen Kaffee um unseren erschlaffenden Geist wieder lebendig zu machen und auch – um unseren Alkoholpegel ein wenig zu senken.

Wir musizierten damals ohne irgendwelche technische Hilfsmittel, wie Mikrofon, Verstärkeranlage usw. Solche Power-Anlagen, wie sie heute zum normalen Standard einer jeden Band gehören, waren damals noch weitgehend unbekannt. Die ersten Geräte diese Art, welche sich auf dem Markt befanden, waren für uns unerschwinglich, da unser Honorar – nach heutigen Maßstäben –  „weit unter dem Existenz-Minimum“ angesiedelt war.

Eins Tages hatte unser Tüftler Hermann-Josef wieder mal eine seiner tollen Ideen. In Leverath wohnte damals Alois Overrödder. Ein Pionier und Autodidakt im Rundfunkwesen. Er war in diesem Metier ein  „Mann der ersten Stunde“. Ihm unterbreitete der Hermann unser Anliegen. Aus einem alten Rundfunkempfänger bastelte daraufhin der Alois einen – für unsere Verhältnisse – leistungsfähigen Mikrofonverstärker. Die dazu passenden Lautsprecherboxen fabrizierten wir mittels alter Radiolautsprecher. Mikrofone hatten wir uns aus unseren Tonbandgeräten „entliehen“. Alois Overrödder hatte der Einfachheit halber – oder weil ihm gerade die passenden Teile fehlten – die Lautsprecherkabel mit einem handelsüblichen Stromstecker verbunden der wiederum in den Ausgang unseres Verstärkers passte. Das was nun sozusagen nur ein Schönheitsfehler für technisch versierte Augen, sollte aber für uns tragik-komische Folgen haben. Eines Tages spielten wir wieder für eine Abendgesellschaft im Saale Herrenteich zum Tanz. Während der Tanzpause nahmen wir in einem separaten Zimmer, dem so genannten „Fuchsbau“ - wie üblich - eine kleine Stärkung zu uns. Plötzlich wurden wir durch einen ohrenbetäubenden scharfen Knall aufgeschreckt. Wie elektrisiert sprangen wie von unseren Stühlen. Hermann-Josef erkannte als erster die fatale Situation. „Oh Gott – unsere Lautsprecher!“ – entfuhr es ihm. Und Recht hatte er. Ein nichts ahnender Gast hatte besagten Stecker in eine stromführende Steckdose gedrückt, in der Absicht, den Verstärker in Gang zu setzen. Die Boxen waren natürlich hin und  wir mussten nun wieder neue herstellen.

Es folgten die „legendären Jahre“ am Herrenteich. Legendär deshalb, weil wir drei von der Kapelle Müller, in diesem Zeitabschnitt maßgeblich für die musikalische Umrahmung der meisten Veranstaltungen dort zeichneten und hier für Frohsinn und Stimmung sorgten. Das soll hier beileibe nicht überheblich klingen, aber es ist eine Tatsache, dass die ältere Generation, die das noch miterlebt hat, heute noch ins Schwärmen gerät, wenn diese Zeiten zur Sprache kommen. Wir kannten ja unser Publikum und es kannte uns. Das beinhaltete schon ein großes Plus für beide Seiten. So kam es z. B. des Öfteren vor, das uns der Gastwirt Gerhard Schwamborn sen. „durch Lichtzeichen“ zu erkennen gab, das Stimmungsbarometer ein wenig herunter zu schrauben, da er um sein Mobiliar fürchtete, wenn die Gäste wieder einmal vor Begeisterung auf Stühlen und Tischen tanzten.

Eines Abends hatte ich mich mal wieder von der herrschenden Fröhlichkeit mitreißen lassen und war mit meinem Saxofon auf den Stuhl geklettert, um von dort aus schunkelnderweise weiter zu musizieren. Plötzlich geriet ich aus der Balance und sauste mitten im Spiel zu Boden. Im Sturzflug suchte ich instinktiv nach einem Halt, erwischte auch die lange Übergardine am Fenster zu meiner Linken, riss sie von der Stange und segelte mit ihr zusammen – das Saxofon  jedoch hoch über meinem Haupte haltend – zu Boden. Blitzschnell rappele ich mich aber aus dem Gardinengewirr wieder hoch, stand schon wieder auf meinem Stuhl und musizierte weiter. Der Saal tobte! Außer ein paar blauen Flecken hatte es noch mal gut gegangen.

Als dann Ende der 60er Jahre neue Bands mit neuer Musik und neuen technischen Anlagen nach vorne drängten, stellte sich für uns die Frage: Investieren oder aufhören. Schweren Herzens entschlossen wir uns für letzteres. Wir drei aber von der „Kapelle Müller“ sind Freunde geblieben. In der Neuauflage des Tambourcorps Kreuzkapelle – den „Silberlocken“ haben wir uns mit unseren Kameraden von früher wieder neu zusammengefunden und wir reden gerne und oft über diese ereignisreichen und köstlichen Jahre.

Zum Abschluss möchte ich nun vom vorhin erwähnten Bläsercorps Much erzählen. Ihm gehöre ich nun seit über 40 Jahre an. Er ist für mich so etwas wie eine zweite Familie geworden. Mit Leib und Seele bin ich hier Mitglied und ein Leben ohne mein Bläsercorps wäre für mich undenkbar. Und so hoffe ich, dass Gott mir die Kraft gibt, noch etliche Jahre dort mitmachen zu können.

Wie hatte für mich dort nun alles begonnen? Im Frühjahr des Jahres 1962 hatten die Zimmerleute der Firma Huff aus Hachenburg im Westerwald dem Kirchturm von St. Martinus in Much einen neuen Helm gezimmert. Nachdem man den alten Helm Balken für Balken bis auf das Turmgemäuer abgetragen hatte, war nun in monatelanger, gefahrvoller Arbeit der neue Turm entstanden und man schickte sich an, Richtfest zu feiern.

Das knapp vor einem halben Jahr entstandene Bläsercorps Much sollte dieses denkwürdige Ereignis mit einigen Chorälen musikalisch umrahmen. Es bestand damals aus 7 Leuten. Gerade zu diesem Zeitpunkt befand sich aber nun der Saxofonspieler Hans Ludwig Pirotte in Urlaub und war somit unerreichbar. Bei dieser kleinen Truppe war aber logischerweise jedes Instrument von Wichtigkeit. Was war also zu tun? Jemand erinnerte sich, dass es im Nachbarverein zu Kreuzkapelle neuerdings einen Saxofonspieler gab – nämlich mich.

Und so kam es schließlich, dass ich mich am Spätnachmittag jenes denkwürdigen Tages mit den anderen Musikanten vom Mucher Bläsercorps zusammen auf der oberen Gerüstplattform des Turmes wieder fand. Nach dem traditionellen Richtspruch des Zimmermanns ließen wir unsere Instrumente vom Turm herab erklingen. Anschließend traf man sich im nahen Saale des Gasthauses „Lindenhof“, um dieses Ereignis würdig und auch ausgiebig zu feiern. Wir Musiker waren natürlich auch eingeladen. Die Zimmerleute ließen die Sektkorken knallen und wir hielten tüchtig mit, (wie das bei Musikern bis heute noch guter Brauch ist). Als ich am anderen Morgen die Haustür öffnete, um mich auf den Weg zu meiner Arbeitstelle bei der Mucher Post zu begeben, sah ich zu meiner größten Verblüffung meine Saxofonkoffer samt Inhalt vor der Tür stehen. Ich hatte ihn in der Nacht, nachdem ich die Haustüre aufgeschlossen hatte, einfach draußen stehen gelassen. Das ist mir jedoch später nie wieder passiert.

Den Musik-Kollegen aus Much hatte ich angedeutet, dass ich gerne mal wieder bei ihnen aushelfen täte, wenn Not am Manne wäre. Natürlich bat man mich, doch ihrem Verein als Mitglied beizutreten. Nun war ich aber noch bei den Bläsern aus Kreuzkapelle. Aber dort lief es seid einiger Zeit nicht mehr so recht. Nachdem unser Dirigent Heinrich Franken nach Much verzogen war, fehlte uns der Motor und die Motivation. Wir trafen uns zwar noch regelmäßig. Jedoch zum proben kam es kaum noch. Gewöhnlich verbrachten wir dann den Abend in der „Reichensteiner Mühle“ und ich musste mir hier nun stundenlange Diskussionen die neu auf den Markt gekommenen Motorräder und Autos anhören. Diese Themen standen nun aber total jenseits meiner Interessenlage. Ich traf mich also mit meinen neuen Kameraden aus Much zum proben. Sofort spürte ich, hier wurde ernsthaft musiziert und man war mit Begeisterung bei der Sache. Das gefiel mir. Nun erfuhr ich auch deren Entstehungsgeschichte:

Es war in den Vorweihnachtstagen des Jahres 1961. In der tabakverräucherten Schuhmacherwerkstatt von Günter Freiburg, am Mucher Kirchplatz, saßen an diesem denkwürdigen Dezemberabend ein halbes Dutzend Leute zusammen. Bis auf eine Ausnahme waren alle um die 20 Jahre alt. Diese Ausnahme bildete mit seinen knapp 70 Jahren Martin Steinbach aus Tillinghausen, der in den folgenden Jahren von uns allen liebevoll „Ohm Martin“ genannt wurde. Dieser bunt zusammen gewürfelte Haufen hatte aber eines gemeinsam. Sie alle hatten vor einiger Zeit – unabhängig voneinander – damit begonnen, das Spielen eines Blasinstrumentes zu erlernen.

Günter Freiburg war in Waisenhäusern aufgewachsen. Mit 14 Jahren gab man ihn in eine Lehre und er erlernte das ehrbare Handwerk eines Schumachers. Mit Fleiß und Ausdauer hatte er es in seinem Beruf zum Meister gebracht. Nun betrieb er in Much an besagtem Kirchplatz eine kleine Werkstatt. Hermann Ortsiefer, der dort einen Lebensmittleladen besaß, hatte dem Günter für diesen Zweck einen kleinen Raum zur Verfügung gestellt. Zur damaligen Zeit besaß das Schumacherhandwerk noch einen richtig „goldenen Boden“. Neues Schuhwerk war teuer und die Schuhe wurden so lange besohlt und geflickt bis sie schließlich – im hohen Alter – endlich von selber auseinander fielen. Und das konnte dauern, denn so ein Paar handgefertigte rindslederne Bauernschuhe halten normalerweise ein Leben lang.

Trotzdem barg dieser Neuanfang für Günter zweifelsohne ein großes Risiko in sich. Schließlich gab es in Much und Umgebung ein gutes Dutzend Schumacherwerkstätten. Zusätzlich kam aber noch ein nicht unerheblicher negativer Faktor hinzu: Er war kein „Mücher Jung“, wie man damals Zugezogene bezeichnete. Noch heute wird hier zwischen „Mücher“ und „Mucher“ unterschieden. Als „Mücher“  bezeichnet man die, welche hier geboren sind. „Mucher“ dagegen werden (wenn sie Glück haben) die zugezogenen Neubürger genannt. Trotz größter Anstrengung und Einsatz für das Gemeinwohl ist es für einen „Mucher“ schier unmöglich, eines Tages einmal ein echter „Mücher“ zu werden.

Dieser „Makel“ haftete also Günter an und er wurde hier erst einmal mit gebührendem Mistrauen und einer gehörigen Portion Skepsis betrachtet. Ob der das wohl kann usw.? Damals war man – gerade in unseren ländlichen Gegenden - in jeder Beziehung noch recht engstirnig und konservativ um nicht zu sagen beschränkt, was sich hier und da bis in heutige Tage erhalten hat.

Günter Freiburg ist zeit seines Lebens Junggeselle geblieben. Seine große Liebe gehörte der Musik. Außerdem war er der geborene Vereinsmensch. Vielleicht suchte er in den Vereinen auch eine Art Ersatzfamilie. So sang er auch bald mit seiner wohlklingenden Bass-Stimme im Mucher Kirchenchor. Nacheinander wurde er dann im Laufe der Zeit Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr und im hiesigen Schützenverein. Dort hat er sogar die Würde des Schützenkönigs errungen. Um die Sache vollständig zu machen – er ging den Mucher Narren in der Session 1954 /55 sogar als Karnevalsprinz voran. Jedes Jahr – bis heute – besucht er außerdem in der Vorweihnachtszeit die Kinder und die Weihnachtsfeiern der Ortsvereine als Nikolaus, den er immer wieder unnachahmlich zu verkörpern weiß.

Bei einem solchen Bekanntheitsgrad hatte seine Schumacherwerkstatt bald genug zu tun. Diese Werkstatt hatte es in sich. Sie diente (bis heute) als Treffpunkt und als Sammelstelle. Ebenfalls war sie in den früheren Jahren oft genug „Ersatzkneipe“, denn der Günter hatte immer einen guten Tropfen in Reichweite. Man traf sich hier zu einem Schnäpschen, tauschte Neuigkeiten aus usw. Seine Spitzname „Lappmann“ (von Schuhe „lappen“ –(besohlen) war alsbald bei jedermann in Much und Umgebung geläufig und das hat sich bis heute nicht geändert. Sein Bekanntheitsgrad übersteigt in der Skala bei weitem die einiger prominenter Persönlichkeiten.

Günter hatte im Waisenhaus das Tenorhorn spielen erlernt und er hatte auch dort in der Waisenhauskapelle mitgewirkt. Nun war ihm die Idee gekommen, zur Christmette mit einigen Gleichgesinnten vom Turm der Mucher Pfarrkirche herab einige Weihnachtslieder erklingen zu lassen. Er hatte auch schnell ein paar Leute gefunden, darunter besagten Martin Steinbach, welcher eine Trompete besaßen, sie aber Jahre lang nicht mehr in der Hand, geschweige denn am Mund gehabt hatten.

Nachdem man mit einigen Proben versucht hatte, sich spielerisch wieder ein wenig fit zu machen, erklomm das Quartett am Hl. Abend 1960 den Kirchturm, nicht ohne sich vorher mit ein paar Schnäpsen etwas Mut anzutrinken. Um es vorweg zu nehmen. Das Ganze endete in einem kläglichen Desaster. In den Mucher Gasthäusern hörte man tags darauf nur abfällige Bemerkungen über diese Turmmusikanten. Auch mir ist davon damals zu Ohren gekommen, wusste aber nicht so recht, wer oder was da gemeint was. Ich war ja erst ein paar Jahre auf der Mucher Post tätig und war noch vollauf im Kreuzkapeller Umfeld verhaftet. Der Name Günter Freiburg war für mich damals noch zu keinem Begriff geworden. Und zu den internen Mucher Angelegenheiten hatte ich kaum einen Bezug. Das sollte sich bald allerdings rigoros ändern.

Doch zurück zu jenem Dezemberabend des Jahres 1961. Günter Freiburg wollte nun einen neuen Versuch starten. Er hatte sich umgehört und neue, jüngere Leute gefunden. In spielerischer Hinsicht waren sie allerdings alle noch „weit zurück“. Wilmar Effertz bekleidete damals an St. Martinus Much das Amt des Küsters und des Organisten. Außerdem war er Chorleiter der beiden Kirchenchöre von Much und Wellerscheid. An jenem Abend hatte er soeben das Kirchenportal abgeschlossen und wollte sich auf den Heimweg begeben, als er aus der nahen Schuhmacher-Werkstatt ungewohnte Klänge vernahm. Neugierig geworden, betrat er die Stube und war erst einmal völlig überrascht. Nachdem er die Situation erkannt hatte, erklärte Wilmar sich spontan dazu bereit, die vorgesehenen Stücke mit ihnen einzuproben. Wilmar Effertz, der nach eigener Darstellung sein Hobby zum Beruf gemacht hatte, war ein äußerst versierter Musiker. Seine Orgel-Improvisationen während des Gottesdienstes drangen mir stets bis ins Herz. Aber mit der Blasmusik hatte er jedoch bis dato überhaupt nichts am Hute. Schnell hatte er sich aber mit der neuen Materie vertraut gemacht und so wurde emsig geprobt.

Die Christnacht 1961 wurde ein voller Erfolg. Sechs Leute erklommen in dieser Hl. Nacht mit ihrem neuen Dirigenten den Kirchturm von St. Martinus und zum ersten Mal erklangen vom hohen Glockenstuhl die schönen alten Weihnachtslieder in sauberer Harmonie über die verschneiten Dächer des Dorfes. Anders als im Vorjahr war man anderntags nun voll des Lobes. Die Musiker waren sich schnell einig, nun auch gemeinsam weiter zu machen. Als nächstes stand die Feier der Erstkommunion auf ihrem Programm. Man probte also fleißig weiter. Nach besagtem Richtfest des neu errichteten Kirchturmes im Frühjahr 1962 war auch ich also zu ihnen gestoßen. Ebenfalls hatte ich meinen Freund Bruno Koppen dazu bewegen können, nach Much über zu wechseln. Wir waren beide vorher Mitglied im Bläsercorps Kreuzkapelle gewesen. Schnell vergrößerte sich die Truppe in Much auf ein knappes Dutzend.

Im Sommer 1962 starteten wir zu unserem ersten Ausflug. Im kleinen Mini-Bus von „Fedders Wieße“ passten wir so gerade alle rein. Fedders Wieße hieß eigentlich Willi Fedder und er war im „Ein-Mann-Betrieb“ das hiesige Taxi-Unternehmen. Der „Wieße“ war ein Original erster Ordnung und er war unter seinem Spitznamen in der ganzen Gegend bekannt und beliebt. Immer zu Späßen und Streichen aufgelegt. Lustige Erzählungen und Anekdoten waren seine Spezialität. Er war damals übrigens als Erster in Much stolzer Besitzer eines Autos. Dieses Auto von weißer Farbe hatte ihm später zu seinem Spitznamen verholfen.

Als ich an besagtem Sonntagmorgen in Wohlfarth den Wagen bestieg, wurde ich mit großem Hallo begrüßt. Die Stimmung war schon recht fröhlich wie ich sogleich feststellen konnte. Dazu hatte sicherlich auch die Flasche Witzheller beigetragen, von der ich gerade noch den letzten Schluck erwischte. Es ging nach Hachenburg in den Westerwald. Hier wollten wir den Zimmerleuten einen Besuch abstatten, die wir beim Richtfest des Kirchturmes kennen gelernt hatten. Herr Huff, der Besitzer dieser damals schon sehr bedeutenden Zimmerei erwartete uns bereits mit seinen Mitarbeitern im Ort. Nach fröhlicher Begrüßung packten wir unsere mitgenommenen Instrumente aus. Zum ersten Mal erklangen die beiden Stücke „Der Schütz“ – besser bekannt unter dem Titel „Mit dem Pfeil dem Bogen“ und „Waldesdunkel“ – welches die Anfangstakte der Freischütz-Ouvertüre darstellte. Diese beiden Musikstücke hatte Wilmar Effertz extra für unsere Besetzung in Noten gesetzt. Es waren übrigens die ersten beiden „weltlichen“  Stücke in unserem – noch ziemlich mageren – Repertoire. Wir waren richtig stolz auf unseren Vortrag, obwohl er in den Ohren unserer Zuhörer sicherlich noch einige Mängel aufzuweisen hatte.

Die Zimmerleute luden uns nun in die nahe Gaststätte zum Mittagessen ein, worüber wir hocherfreut waren, denn unsere Mägen und ebenso unsere Vereinskasse waren beide ziemlich leer! Nach ein paar fröhlichen gemeinsamen Stunden und einer Besichtigung der Groß-Zimmerei verabschiedeten wir uns mit Dank für alles und weiter ging es in Richtung Rhein. In der Weinstadt Unkel verbrachten wir den Abend um danach weinseelig und fröhlich die Heimfahrt anzutreten.

Diese alljährlichen Ausflüge sind zum festen Bestandteil in unserem Vereinsleben geworden. Späte dann nahmen wir auch unsere Frauen und Freundinnen mit. Als wir es uns finanziell ermöglichen konnten, wurden unsere Ausflüge auf zwei Tage mit Hotelübernachtung ausgedehnt. Jedes Jahr – bis auf den heutigen Tag – freue ich mich auf diesen Ausflug des Bläsercorps. Unser Ausflug ist und bleibt etwas Ungewöhnliches. Hier spürt man so richtig, dass wir inzwischen zu einer großen Familie zusammengewachsen sind. Es herrscht Fröhlichkeit und Harmonie in unseren Reihen – und nicht nur beim Ausflug. Ob es nun am Ausflugstag regnet oder ob die Sonne scheint – unserer Stimmung und guten Laune hat das noch nie Abbruch getan. Er ist für mich immer einer der Höhepunkte im Jahresablauf.

Doch nun zur Mucher Werlwallfahrt. Anlass war ein Gelübde, welches im Jahre 1774 Bauern aus Much am Gnadenbild der Muttergottes in Werl in Westfalen ablegten. Ihr Viehbestand war durch eine schlimme Seuche heimgesucht und stark dezimiert worden. So waren sie mit ihren Pferdefuhrwerken hierher nach Werl gefahren um Heilsalz für ihre Tiere zu holen. Ihre Gebete am Gnadenbild wurden erhört und die Seuche verschwand bald darauf. So ziehen nun seit dieser Zeit Jahr für Jahr in einem strapaziösen Drei-Tage-Marsch am Fest Mariä Heimsuchung die Mucher Pilger zu Fuß zum Gnadenbild der Mutter Gottes nach Werl.

Nun kamen wir irgendwann auf die Idee, die Pilger bei ihrer Ankunft in Werl mit Blasmusik zu begrüßen. Am ersten Juliwochenende des Jahres 1963 war es soweit. Um die Mittagszeit sollte es losgehen. Ich hatte mich bei meiner Briefzustellung kolossal beeilt um pünktlich zur Stelle zu sein. Müde und abgehetzt hatte ich es dann aber noch knapp geschafft. Mit mehreren Pkw starteten wir die Fahrt. In Werl angekommen, suchten wir uns erst einmal einen Platz, wo wir unsere mitgenommenen Zelte aufschlagen konnten. Wir hatten nämlich vor, die Heimreise erst am Sonntagnachmittag anzutreten. Nachdem das erledigt war, begaben wir uns mit unseren Blasinstrumenten zur historischen Windmühle am südlichen Ortseingang von Werl. Hier erwarteten wir nun mit einer gewissen Spannung die Mucher Pilger, von denen niemand etwas ahnte, denn unsere Vorbereitungen waren völlig geheim abgelaufen und jeder von uns hatte dicht gehalten. Es sollte ja eine Überraschung werden. Und die wurde es dann auch. Als zum ersten Mal der Festmarsch „Tochter Zion, freue dich“ an der alten Windmühle erklang, blieb kein Auge trocken – auch bei uns nicht! Mit Marienliedern zogen wir den Pilgern voraus zur Basilika. Es war das Fest Mariä Heimsuchung, viele Pilgergruppen kamen an diesen Festtagen aus allen Gegenden nach Werl. Hunderte von ihnen säumten den Weg. Wohl noch nie oder doch sehr selten waren Pilger hier so empfangen worden. Die Basilika war – wie immer an diesen Tagen – überfüllt. Hier erklang dann noch einmal das „Tochter Zion“, diesmal  mit Orgelbegleitung.

Nach der kurzen Begrüßungsandacht ließen wir uns in der urigen Gaststätte „Im Winkel“ – dem Traditionstreffpunkt der Mucher Pilger – zum kühlen Trank nieder. Danach hieß es für uns aber: Zelte aufschlagen. Nachdem das geschafft war, ging es zurück in die Stadt. Um 20.00 Uhr veranstaltete die Blaskapelle aus Altenessen – sie war für die Festtage engagiert zur Begleitung der einzelnen Stadt-Prozessionen – ein Platzkonzert auf dem Marktplatz. Unseren Musiker-Kollegen zuzuhören, war für uns natürlich Ehrensache. Die Essener, alles gestandene Musiker, besaßen damals eine Jungbläsergruppe. Die waren so ziemlich alle in unserem Alter. Schon bald hatten wir Kontakt zu ihnen geknüpft. Nach dem Konzert machten wir uns gemeinsam auf, um die Stadt ein wenig kennen zu lernen. Schließlich landeten wir im „Pferdestall“. Das war ein Mittelding zwischen einer heutigen Disco und einem Jugend-Bistro. Sehr rustikal eingerichtet. Der hintere Raum glich einer Tenne. Der Boden war mit Sägemehl eingestreut. Die weibliche Bedienung war jung und attraktiv  - also so richtig nach unserem Geschmack. Hier konnte man sich nach Herzenslust austoben. Keiner nahm es krumm – und das taten wir dann auch!

Spät in der Nacht erreichten wir unseren Zeltplatz wieder. Er lag an einem Feldweg zwischen Getreidefeldern in Richtung Westönnen. Die Nacht war kurz und unser Schlaf dementsprechend auch. Nichts desto trotz machten wir uns kurz vor 6.00 Uhr in der Frühe wieder auf  in die Stadt. Um 6.00 Uhr begann nämlich in der Basilika das feierliche Hochamt – ein so genanntes „Leviten-Amt“ – wie man es damals nannte. Das war ein besonderer Festgottesdienst mit mehreren Celebranten. Die Kirche war überfüllt und die Luft war schwül-warm und stickig. Ich habe dort immer zum Gotterbarmen geschwitzt. Aber daran war wohl auch der Bierkonsum der vergangenen Nacht nicht ganz unschuldig.

Anschließend zog dann die große Stadtprozession zur „Gänseförde“ – einer großen Festwiese. Hier feierte der Bischof mit den Gläubigen den Gottesdienst. Wir dagegen verfügten uns auf die belebte Therasse am Marktplatz. Dort stieß auch unser Pastor Franz Esser zu uns, der die Pilger auf ihrem langen Weg hierher immer begleitete. Er freute sich sehr über unsere Anwesenheit und er brachte seine Freude auch mit einigen Runden Bier zum Ausdruck, was wir wiederum sehr zu schätzen wussten. Jedes Jahr wiederholt sich dieses Procedere bis zum heutigen Tag, mit dem Unterschied, dass wir heute mit einem Bus nach Werl fahren und dann am späten Abend desselben Tages auch wieder nach Hause zurück fahren.

Wir probten nun wöchentlich im kath. Jugendheim – dem jetzigen Jugendzentrum in Much. Im Jahre 1965 hatten wir schon eine Mitgliederzahl von 18 Leuten erreicht. Unser Dirigent Wilmar Effertz hatte sich inzwischen eine Tuba angeschafft. Damit waren wir instrumental schon ziemlich komplett. Der einzige Nachteil für Wilmar: Mit der unförmigen großen Tuba vor dem Bauch war es mit dem Dirigieren bei ihm gleich null. Aber wir gewöhnten uns daran – ein Kopfnicken oder eine kurze Handbewegung von ihm genügte, um uns in Richtung zu halten.

Nach so einer anstrengenden Probe lechzten unsere ausgetrockneten Kehlen naturgemäß nach einem kühlen Bier. Die Auswahl an Gaststätten war damals noch ziemlich groß. Allein sechs Gasthäuser zählte der Ortskern. Dazu kamen noch einige Dutzend in der nähern Umgebung. Die Gasthäuser waren gut besucht, auch tagsüber. Viele Bauern, die aus den umliegenden Dörfern in Much etwas zu erledigen hatten, verbanden dies mit einem kurzen – manchmal auch etwas längeren Kneipenbesuch. Hier tauschte man sich aus und erfuhr Neuigkeiten. Hier wurden auch interne Vereinsangelegenheiten besprochen und es wurde nebenher Lokalpolitik gemacht. Man könnte fast sagen, diese Gasthäuser stellten einen integrierenden Faktor im öffentlichen sowie im Vereinsleben von Much dar. Es wurde hier geklüngelt und gemauschelt – wie man so sagt. Gute, aber auch weniger gute Dinge nahmen hier oft ihren Anfang.

Auch wir vom Bläsercorps führten oft hitzige Debatten am Biertisch. Alles, was während der Probe nicht zur Sprache gekommen war, kam hier auf den Tisch, verbunden mit Emotionen jeglicher Art. Neugierige Ohren hörten da natürlich gerne mit, was nicht immer angenehm für unseren Verein war. Wilmar war selten mit von der Partie und manchmal rügte er unser Verhalten, wenn ihm in dieser Richtung wieder einmal „besorgte Mitmenschen“ etwas ins Ohr geflüstert hatten. Mit einer einzigen Kneipe war es bei uns nach der Probe aber meistens nicht getan und wir zogen weiter zur nächsten. Das ging dann auch mal zur vorgerückten Stunde in die nähere Umgebung zu den diversen Dorfgasthäusern. Hatten wir uns dann endlich dazu entschlossen, die Heimfahrt anzutreten, dann war unser „Ohm Martin“ wieder einmal derjenige, welcher uns mit einer „kleinen Abschiedsrunde“ zum Bleiben zu bewegen wusste. Ich kann mich kaum daran erinnern, jemals nach so einem Probeabend vor Mitternacht – oder auch später - die Haustür von innen zugemacht zu haben.

Zu Hause überfiel mich dann regelmäßig noch ein Riesenhunger. Dann wurden schnell noch ein paar Spiegeleier in die Pfanne gehauen oder auch mal Bratkartoffeln gemacht. Von allem bekam meine Frau natürlich nichts mit, denn sie schlief tief und fest in unserem Schlafzimmer. Frisch und munter fuhr ich am anderen Morgen wieder zur Arbeit. Für mich heute total rätselhaft. Ja, ich gehe hier soweit, und behaupte, dieses Zusammenbleiben nach der Probe war für den Fortbestand unseres jungen Vereins direkt lebensnotwendig. Zahllose Probleme, wie wir sie damals ständig zu bewältigen hatten, wurden hier besprochen und ausdiskutiert. Da gab es dann oft heiße Köpfe und harte Worte. Aber am Schluss ging alles wieder versöhnt auseinander. Alle bösen Worte waren bis zur nächsten Probe längst wieder vergessen.

Schon bei der ersten offiziellen Jahreshautpversammlung wählte man mich zum Schriftführer. Wilmar wurde Vorsitzender und Günter Freiburg übernahm das Amt des Kassierers. Unsere ersten Jahresversammlungen glichen eher – wenn auch in abgewandelter Form - einem Kriegsschauplatz. Es wurde um Kleinigkeiten heftigst gestritten. Wir waren jung und emotionsgeladen. Meistens ging es um das liebe Geld in unserer Vereinskasse. Mal musste ein Instrument vorfinanziert werden, mal war eine Reparatur fällig, die aus der eigenen Tasche nicht bezahlt werden konnte. Es mussten Noten angeschafft werden usw. Unser Ohm Martin hat da stillschweigend so manchen Obolus beigesteuert, von dem niemand von uns je etwas mitbekommen hat. Erst nach seinem Tode, er starb am 6. Dezember 1968 im Alter von 75 Jahren, haben wir ansatzweise davon erfahren.

In unserem damaligen Pastor Franz Esser hatten wir einen guten Freund gefunden. Von der ersten Stunde an stand und hielt er zu uns. Und er ließ nichts auf uns kommen. Das war für ihn nicht immer ganz einfach. Bevor das Bläsercorps in der Mucher Kulturlandschaft auftauchte, hatte der Kirchenchor „Cäcilia“ weitgehend das Sagen bei der Verschönerung kirchlicher und weltlicher Feste. Nun waren wir angetreten und brachten ebenfalls unseren musikalischen Part bei Gottesdiensten, Prozessionen und im kulturellen Bereich der Gemeinde. Alsbald wurden wir bei einigen Chormitgliedern - nicht bei allen -, als Konkurrenz betrachtet und beargwöhnt. Hatte sich jemand von uns – in deren Augen – wieder einmal daneben benommen, wurde das von diesen Leuten dankbar aufgegriffen und unserem Pastor anschließend in gebührender Weise zu Ohren gebracht. Durchaus vergleichbar mit derselben Erfahrung, die ich während meiner Mitgliedschaft im Bläsercorps Kreuzkapelle gemacht hatte. Auch hier hatte sich j a damals eine bemerkenswerte Rivalität mit dem damaligen Kirchenchor und Quartett-Verein Kreuzkapelle herausgebildet. Trotz allem sprach Franz Esser immer gern und oft von „seinem“ Bläsercorps. Im Jahre 1969 finanzierte er unsere ersten Uniformjacken, in der Farbe dunkelblau. Dazu trugen wir silbergraue Krawatten und schwarze Hosen. Stolz präsentierten wir uns fortan in dieser schicken Kluft der Öffentlichkeit.

Ich werde nie jenen Morgen vergessen, als ich im Mucher Pfarrbüro meine Post ablieferte. Pfarrer Esser saß, wie immer seine Baskenmütze auf dem Kopf, hinter dem Schreibtisch. Wie immer plauderten wir einige Worte miteinander. Dabei erwähnte er so nebenher, das er Much nun bald verlassen und als Ruheständler nach Bad Münsereifel hin­überwechseln würden. Davon hatte ich zwar schon munkeln gehört, fiel aber trotzdem, als er das so zu mir sagte, buchstäblich aus allen Wolken und Tränen traten mir in die Augen. So gut es ging, versuchte er mich zu trösten. Dann sagte er den Satz, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde: „Bewahr mir meinen Bläserchor!“ Noch wie heute sehe ich das Bild vor mir, wie ich vor ihm stehe und ganz verdattert etwas daherstottere: „Wieso ich – dazu sehe ich mich doch gar nicht in der Lage“ usw. Dann sagte er zu mir: „Du bist aber die Seele des Vereins.“ Damals habe ich jahrelang darüber nachgegrübelt, was mein alter Freund und Pastor damit wohl gemeint haben mochte. Inzwischen ist es mir aber klar geworden  und ich glaube, ich habe seinen Wunsch erfüllt.

Im Jahre 1982 besuchten wir ihn in Bad Münstereifel wo er nach seiner Pensionierung fortan bei seinem ehemaligen Kaplan als Subsidiar tätig war. Er ist dort nie heimisch und glücklich geworden. Stets fühle er sich – wie er in Briefen und anderweitig verlauten ließ – wie in der Verbannung. Wir spielten in der Eucharistiefeier, die er zelebrierte. In seiner Predigt sprach er immer wieder von „seinem“ Bläserchor. Man hörte förmlich das Heimweh nach seinem geliebten Much hier heraus klingen. Einige Monate später ist er verstorben. Sein letzter Wunsch: Er wollte in Much beerdigt werden. Wir spielten am Grab unseres Freundes und Gönners zum Abschied.

In unserer Vereinschronik habe ich die Geschichte des Bläsercorps Much auf über 700 Seiten in zwei dicken Büchern handschriftlich niedergelegt. Alle Auftritte, Ereignisse und Begebenheiten im Verein und darüber hinaus im Gemeindeleben haben hier ihren Niederschlag gefunden. Diese Chronik wird in späterer Zeit eine Fundgrube für Interessierte darstellen. Möge sie einmal in die richtigen Hände gelangen.

Im April 1972 feierten wir mit einem Konzert in der hiesigen Turnhalle unser 10jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass hatten wir uns entschlossen, eine Schallplatte – eine so genannte „Single“ zu produzieren. Wir zählten inzwischen 37 Mitglieder. Wie hart das werden sollte, erahnten wir erst bei der intensiven Probenarbeit. Diesmal sollte und musste jeder Ton stimmen. Wir standen vor unserer ersten großen Zerreißprobe. Die Stimmung wurde immer gereizter und unser Dirigent versuchte beharrlich, in seiner ausgleichenden Art, zu schlichten und zu motivieren. Nur mit Mühe gelang ihm dies. Die Aufnahme gelang und die Platte war ein Erfolg – für damalige Verhältnisse. Für den Verein hatte es aber nachteilige Folgen. Man sollte den Bogen nicht überspannen – sprich: Die Leistungen der einzelnen Mitglieder nicht überfordern. Die Reaktion war nämlich, dass einige Leute anschließend dem Verein den Rücken kehrten. Nachdem sich die Wogen wieder geglättet hatten, ging es dann aber in gewohnter Weise weiter. Das alles hat mir damals manch schlaflose Nacht bereitet.

Die Zivilgemeinde Much war damals eine Partnerschaft mit der nordfranzösischen Gemeinde Doullens eingegangen. Die Umstände, welche dazu führten, kann ich hier unmöglich wiedergeben. Es würde zu weit führen. Am 21. Juni 1976 fuhr man mit mehreren großen Reisebussen und vielen Privatwagen nach Frankreich um in feierlicher Form die Partnerschaftsurkunden zu unterzeichnen. Auch wir vom Bläsercorps waren mit dabei und stellten, zusammen mit dem Schützen-Tambourcorps Kreuzkapelle den musikalischen Rahmen der Begegnung. Für uns waren das zwei anstrengende, aber auch sehr schöne Tage. Zum ersten Mal bot sich hier für mich die Gelegenheit, ein wenig von der Mentalität und  Lebensart unserer Nachbarn kennen zu lernen. Was mir dabei besonders ins Auge gefallen ist, war deren herzliche Gastfreundschaft und die Leichtigkeit, mit der sie ihren Alltag bewältigten.

Nach unserer Ankunft am Spätnachmittag wurden wir unter die einzelnen Gasteltern verteilt. Mein Bläserkamerad Joachim Bender und ich kamen zu einem jungen Ehepaar welches in der Stadt einen kleinen aber schicken Frisier-Salon betrieb. Zum Glück hatten sie zum gemeinsamen Abendessen eine junge Frau eingeladen, die recht gut deutsch sprach, denn unsere Französischkenntnisse waren gleich null. Die meiste Zeit über redeten wir „mit Händen und Füßen“ – wie sich unser Bürgermeister nachher einmal scherzhaft ausdrückte. Das festliche Abendessen war ein Ritual und für mich absolut faszinierend. Unsere Gastgeber hatten noch etliche Nachbarn und Freunde mit zu Tisch gebeten und so war unsere Tischgemeinschaft recht zahlreich. Die Gastgeber nahm es mit der Sitzordnung sehr genau. Nach langem Hin und Her hatte sie es dann endlich geschafft, wer nun neben wem zu sitzen hatte. Auch das gehörte meines Erachtens bei ihnen zum Ritual. Das Mahl enthielt zahllose Speisefolgen. Zwischen den einzelnen Gängen wurde sich unterhalten, eine Zigarette geraucht und etwas getrunken. Ein Fondue gehörte zu den Hauptgerichten. Jetzt verstand ich auch, warum unserer Gastgeberin die Tischordnung so wichtig gewesen war. Tunkte man das Fleisch oder den Käse gleichzeitig mit seiner Tischnachbarin in die Fondue-Schüssel, dann war ein Kuss fällig. Wenn man den Dreh heraus hatte, ließ sich das Ganze mühelos manipulieren – und wurde natürlich mit großem Hallo bedacht. Fröhlich, und unter Lachen und Scherzen verbrachten wir etliche unvergessliche Stunden. Wie sich später herausstellte, war es meinen übrigen Kameraden ähnlich ergangen. Später brach die ganze Gesellschaft auf und wir begaben uns in den große Festsaal der Stadt Hier floss der Champagner in Strömen – und das kann man ruhig wörtlich nehmen. Der Sonntag endete mit einem großen Blasmusik-Treffen aus der ganzen Region, woran wir ebenfalls teilnahmen. Bei der Verabschiedung am Spätnachmittag flossen die Tränen – auch in Strömen.

Ein harter Schicksalsschlag traf uns am 24. Juni 1984. In Much feierte man das jährliche Schützenfest und die dazugehörige Kirmes. Als wir am Sonntagmorgen zum gemeinsamen Kirchgang antraten, erfuhren wir die schreckliche Nachricht. Unser Dirigent Wilmar Effertz war in der vergangenen Nacht plötzlich verstorben. Alle waren wie gelähmt. Schweigend marschierten wir zum Gottesdienst. Die Orgel schwieg an diesem Morgen.

Wie sollte es nun in unserem Bläsercorps weiter gehen. Erst langsam begriffen wir die Situation. In seiner ruhigen, ausgleichenden Art war Wilmar stets wie ein Vater zu uns gewesen. Er hatte uns motiviert, wenn wir wieder einmal frustriert die Köpfe hängen ließen. Er hatte geschlichtet, wenn Meinungsverschiedenheiten aufgetreten waren. Ja, er hatte den Verein zu dem gemacht, was er heute darstellte. Bei uns herrschte an diesem Morgen Untergangsstimmung.

Für uns völlig überraschend, erklärte sich in dieser Situation unser Flötist Helmut Haas dazu bereit, ab jetzt den Dirigentenstab zu übernehmen. Mit Tränen in den Augen erzählte er uns dann, just am Vorabend seines Todes habe Wilmar ihm den Dirigentenstab zurückgegeben, den Helmut ihm vor langer Zeit einmal ausgeliehen hatte. Tief bewegt aber auch sehr erleichtert nahmen wir sein Angebot an. Er besaß schon damals große musikalische Vorkenntnisse und er hatte Wilmar schon bei verschiedenen Anlässen vertreten. Trotzdem war es für uns natürlich erst einmal eine große Umstellung. Unsere Kameradschaft und unser Zusammengehörigkeitsgefühl trugen schließlich in jeder Hinsicht auch hier den Sieg davon. Natürlich wollte Helmut Haas nun seine eigenen Vorstellungen und Ambitionen als Dirigent und in musikalischer Hinsicht ausschöpfen. Sein Metier war die klassische Musik, der ich mich selber ja ebenfalls verschrieben hatte. Er versuchte also, Musikstücke in unser Repertoire einzubringen, die dem größten Teil der Mitglieder völlig fremd waren. Ich hingegen hatte meine große Freude dran. Die volkstümliche Seite wurde nun aber zwangsläufig etwas stiefmütterlich behandelt. Sehr zum Leidwesen der Mehrheit. Aber mit einigen anspruchsvollen Konzerten stellten wir uns bereits nach einiger Zeit wieder der Öffentlichkeit vor.

Dies alles zu berichten, würde hier zu weit führen. Zum Weihnachtsfest 1992 produzierten wir als erster Mucher Verein eine CD mit ausgesuchten weihnachtlichen Klängen. Doch mit der Zeit ließ es sich nicht übersehen, das sich bei Dirigent und Aktiven ein gewisser Frust breit gemacht hatte. Beiderseitiges Musikverständnis klaffte inzwischen sehr weit auseinander. Ich habe mir in jenen Tagen sehr große Sorgen um den Fortbestand unseres Vereins gemacht. Einerseits konnte und wollte ich meinem Freund Helmut die Zustimmung und die Gefolgschaft nicht verweigern, andererseits sah ich aber mit zunehmender Deutlichkeit, das einzelne Mitglieder „passiven Widerstand“ leisteten, indem sie einfach nicht mehr zu Proben und Auftritten erschienen. So konnte es also nicht weiter gehen. Man mag darüber lachen, aber die Situation schien für mich derart ausweglos, dass ich mich in meiner Niedergeschlagenheit an meine verstorbenen Kameraden wandte. Ich erinnere mich noch, dass ich auf dem Heimweg von einer dieser unerquicklichen Proben mit Wilmar und Ohm Martin redete, und zwar ziemlich nachdrücklich. Klipp und klar erklärte ich den beiden, nachdem ich nun überhaupt keinen Ausweg aus unserer verfahrenen Situation mehr sähe, würde ich wohl bald „das Handtuch werfen.“ Wenn sie sich nicht, und zwar sehr bald, „von oben her“ etwas einfallen lassen würden. Ja, so habe ich damals tatsächlich mit ihnen geredet. Einige Wochen später teilte uns Helmut Haas völlig überraschend mit, er beabsichtige, für längere Zeit die Dirigentschaft im Bläsercorps nieder zu legen um sich musikalisch weiter zu bilden. Als seinen Vertreter, oder vorläufigen Nachfolger schlug er uns Klaus Steinbach – er ist der Enkel von Martin Steinbach – vor. Verblüfft aber auch ein wenig erleichtert nahmen wir das zur Kenntnis. Klaus zeigte sich sofort einverstanden, hatte er uns doch schon oft vertretungsweise dirigiert.

Ziemlich bald kehrte nun der alte Geist in unseren Verein zurück. Klaus verstand es, moderne Musikstücke und Klassik zu verbinden. Besonders durch seine lockere Art sprach er unsere jüngern Mitglieder an. Einerseits war er der Kumpel, andererseits durchaus die Respektsperson. Sein hohes musikalisches Können, welches bisher im Verborgenen geschlummert hatte, führte das Bläsercorps Much bald zu nie gekannten Höchstleistungen. Die Proben gestalteten sich kurzweilig und effektiv. Mit zwei glanzvollen Konzerten feierte das Bläsercorps im Jahre 2001 / 2002 sein 40jähriges Bestehen. Glücklich und dankbar blicke ich nun auf diese Jahre in meinem Verein zurück. Gott vermag auch auf sehr krummen Notenlinien die schönsten Harmonien zu schreiben – man muss sich nur vertrauensvoll an ihn wenden. Nachdem ich  nunmehr seit 40 Jahren ohne Unterbrechung das Amt des Schriftführers mit viel Einsatz und Liebe verwalten durfte, habe ich es bei unserer letztjährigen Jahreshauptversammlung mit einem lachenden und einem weinenden Auge in jüngere Hände gelegt. Für mich ist das Bläsercorps Much zur zweiten Heimat und zur zweiten Familie geworden. Wenn Gott mir die Kraft und die Gesundheit dazu gibt, werde ich im Kreise meiner Bläserkameraden weiter musizieren, um  mir und andern dadurch ein wenig Freude zu bereiten, getreu meinem Lebensmotto:

„Der hat sein Leben am besten verbracht, der den meisten Menschen Freud’ hat gemacht.“

 

 

Oberholz, den 3. Februar 2004

Eckhard Müller

 

 

 

Gott gibt  uns Erinnerungen damit wir Rosen im Winter haben



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